„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 23. August 2013

Jan Masschelein/Maarten Simons, Globale Immunität oder Eine kleine Kartographie des europäischen Bildungsraums, Zürich 2012

1. Das ausgesetzte Kind
2. Pädagogik und Emanzipation
3. Gemeinschaft als Netzwerk
4. Gemeinschaft als Last
5. Was sich manifestiert

Ich neige dazu den Begriff der Manifestation, wie ihn Masschelein und Simons verwenden, im Sinne der Plessnerschen Expressivität zu verstehen. (Vgl.u.a. meine Posts vom 26.10. und vom 29.10.2010) Den Begriff der Manifestation beziehen die beiden Autoren vor allem auf die Welt, als einem Raum, in dem sich etwas ‚zeigen‘ kann. Und das, was sich zeigt, ist wiederum meistens ein ‚Unrecht‘, das sich den Verwertungsinteressen von Marktumgebungen grundsätzlich entzieht. Der Zusammenhang zwischen dem sich manifestierenden Unrecht und der Welt ist dabei so eng, daß die Manifestation eines Unrechts allererst zur „Gründung“ einer Welt führt. (Vgl. Masschelein/Simons 2012, S.97) Unabhängig von dieser Manifestation, so die Autoren, ‚gibt‘ es keine Welt: „Die Welt in unserer Auffassung ist etwas, das auch nicht sein kann, etwas, das nicht notwendig ist.“ (Masschelein/Simons 2012, S.95)

Die Welt bildet sozusagen den Raum, in dem sich Menschen einem Unrecht aussetzen, anstatt es zu ignorieren oder ihm aus dem Weg zu gehen. Sie lassen sich von ihm ‚ansprechen‘. Darin besteht die Expressivität der Welt, in der das Unrecht zur Erscheinung, zur Manifestation kommt. Die „Wirklichkeit“ einer Marktumgebung hingegen „hat dem lernenden und unternehmerischen Menschen als solchem nichts zu sagen, sie spricht ihn oder sie nicht an. Dinge (Inhalte) beziehen ihre Bedeutung aus ihrer Funktion innerhalb von Projekten und in Relation zu Bedürfnissen. Die Wirklichkeit ist eine Umgebung, die als ‚Ressource‘ oder ‚Provision‘ wahrgenommen werden kann.“ (Vgl. Masschelein/Simons 2012, S.80)

Eine Marktumgebung, die dem Menschen „nichts zu sagen“ hat, ist nicht expressiv. Sie kennt nur die Mittel-Zweck-Relation der Befriedigung von Bedürfnissen, und die Bedürfnisse kommen in ihrer Befriedigung nicht zum Ausdruck, sondern sie lösen sich in der Befriedigung auf. Ganz ähnlich hatte Plessner in der Brechung des Intentionsstrahls, also in der ausbleibenden Befriedigung, die Voraussetzung für die menschliche Expressivität gesehen. Die Seele hatte er als dieses Schwanken auf der Grenze zwischen dem ‚sich Zeigen‘ und dem ‚sich Verbergen‘ gesehen, so daß sie vor jedem gefundenen Ausdruck wieder zurückschreckt. (Vgl. meinen Post vom 14.11.2010) Diese Seele ist das von der Marktumgebung verdrängte „Unrecht“, von dem Masschelein und Simons sprechen, und sie ist das „Kind“, mit dem wir zusammenleben müssen, das ‚Mit‘ im ‚com‘-munis und das ‚Mein‘ in der Ge-‚mein‘-schaft, das die beiden Autoren auch als „Ausgesetztsein“ und als „In-Kontakt-Sein“ beschreiben. (Vgl. Masschelein/Simons 2012, S.106)

Den pädagogischen Umgang mit dem ‚Kind‘ in einer ‚Welt‘ beschreiben Masschelein und Simons im prägnanten Sinne als „e-dukativ“, gerade auch im Unterschied zu einer Pädagogik, die sich als E-manzipation versteht. (Vgl. S.113, 115, 119) Edukation meint das Hinaus-Führen des Kindes in eine Welt, die zugleich mit diesem Hinausführen gestiftet wird. Edukation meint das Schaffen einer Welt, in der sich das ‚Kind‘ bzw. das ‚Unrecht‘ manifestieren können. Von Plessner her gewinnt sogar der Begriff des Unrechts noch einen Doppelsinn. Es ist das exzentrisch positionierte ‚Recht‘, das sich den kodifizierten Fassungen als Formen der Immunisierung entzieht und ihnen prinzipiell äußerlich bleibt.

Als Beispiel für unsere edukative Verhältnisbestimmung zum Kind nennen Masschelein und Simons die Straße. Die Straße kann beides sein: eine Infrastruktur in einer Marktumgebung, die der Zirkulation von Gütern dient, und ein politischer Raum, in dem ein Unrecht zur Sprache gebracht wird: „Wenn Menschen auf die Straße gehen, dann ist die Straße nicht länger ein Ort der Zirkulation.“ (Masschelein/Simons 2012, S.95)

Die Polizei neigt dazu, der Zirkulation von Gütern den Vorrang zu geben und die Demonstranten darauf zu verweisen, daß für die Manifestation von Unrecht andere, demokratische Institutionen vorgesehen sind. Wenn die Erwachsenen auf die Straße gehen, verhalten sie sich „wie Kinder“, „die spielen und nicht zirkulieren wollen.“ (Vgl. Masschelein/Simons 2012, S.97) – Das aber ist genau das, worum es Masschelein und Simons zufolge im Politischen geht. (Vgl. Masschelein/Simons 2012, S.104)

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