„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 5. August 2013

Wolfgang Streeck, Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2012, Berlin 3/2013

1. Kontext und Sequenz
2. Gesellschaftsselbstbeobachtung
3. Kapitalismus und Bildung
4. Marktvolk contra Staatsvolk: eine stilisierte Narration
5. Kolonialisierung der Lebenswelt
6. Zeit gewinnen versus Zeit kaufen
7. Risikoaverse Subsistenzorientierung

Daß das Kapital nicht nur selbst ein Akteur im kybernetischen Modell einer sich selbst beobachtenden und regulierenden Gesellschaft ist (vgl. Streeck 3/2013, S.43ff.), sondern auch die Bedingungen diktiert, unter denen soziale Kompromisse zwischen dem Marktvolk und dem Staatsvolk gesucht werden (vgl.u.a. Streeck 3/2013, S.163), scheint mir ungeachtet der Schauveranstaltungen des Politikbetriebs in den diversen Krisenbewältigungsszenarien und im aktuellen bundesdeutschen Wahlkampf evident zu sein. Wenn jemand Stellschrauben an der Gesellschaftsmaschinerie effektiv und nach eigenem Gusto nachjustieren kann, dann das Kapital und seine Agenten.

Dieser gesellschaftlichen Situation, in der der Kapitalismus sich aus seiner durch Demokratie und kalten Krieg der Nachkriegszeit ermöglichten Zähmung endgültig befreit zu haben scheint, ist allerdings eine jahrzehntelange „neoliberale Umerziehung“ des Staatsvolkes vorausgegangen. (Vgl. Streeck 3/2013,  S.96) Im Sinne seiner Fixierung auf größtmögliche Profitmaximierung liegt das für das Kapital wichtigste Regulationsinstrument in der Aufrechterhaltung einer angemessen hohen „Sockelarbeitslosigkeit“, die beim Staatsvolk Angst erzeugt und „den Beschäftigten als Mahnung“ dient. (Vgl. Streeck 3/2013, S.53) Das gesellschaftliche Nachkriegsprojekt einer demokratisch kontrollierten sozialen Gerechtigkeit, in der jedem Bürger ein Recht auf Arbeit und Wohlstand zugestanden werden sollte, lag also überhaupt nicht im Interesse des Kapitals.

Als sich das Kapital deshalb in den 1970er Jahren mit neuen Streikwellen konfrontiert sah, die genau dieses Recht einfordern und umsetzen sollten, „begann es mit der Vorbereitung seines Ausstiegs aus dem Gesellschaftsvertrag der Nachkriegszeit, indem es seine Passivität abschüttelte, seine Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit wiederherstellte und sich dem Geplant- und Genutztwerden durch demokratische Politik entzog.“ (Vgl. Streeck 3/2013, S.54)

Damit einher gingen die erwähnten Umerziehungsmaßnahmen, wobei das Wort ‚Maßnahme‘ hier in die Irre führt. Streeck selbst spricht von der „Strategiefähigkeit“ des im Dienste des Kapitals stehenden europäischen Konsolidierungsstaates (vgl. Streeck 3/2013, S.203-215), hat dabei aber Schwierigkeiten, ihr klare Konturen zu geben. Die vom Kapital verfolgten Strategien scheinen eher diffus und nebulös zu sein. So nennt Streeck z.B. den allen „in verantwortlicher Stellung Beteiligten“ gemeinsamen Glauben an den „Euro“, was allerdings weniger auf ein klares Konzept hindeutet, sondern vielmehr an ein kirchliches Dogma erinnert.

Wiederum ist es Streeck selbst, der auf diese Parallele hinweist: „Wer im Glauben fest ist, kann darauf hoffen, dass die real existierenden Staatsvölker Europas irgendwann – und in den Modellen der Standardökonomie, in denen Zeit nicht vorgesehen ist, bedeutet irgendwann immer auch gleich jetzt – zu einem an den freien Markt angepassten, in Marktgerechtigkeit geeinigten Modellvolk zusammenwachsen werden. Aber wer der Kirche nicht angehört, der kommt aus dem Staunen über die Macht der Illusion und aus der Angst vor dem nicht heraus, was eine Theorie dadurch anrichten kann, dass sie nicht von dieser Welt ist.“ (Streeck 3/2013, S.240)

Zweierlei ist in diesem Zitat wichtig: zum einen ist von einem Glauben und von einer Illusion die Rede, zum anderen wird in diesem Gesellschaftsmodell nicht mehr von sozialer Gerechtigkeit, sondern nur noch von Marktgerechtigkeit gesprochen. Wir haben es also eher nicht mit einer selbstbewußten, rationalen Strategiefähigkeit des Kapitals zu tun, sondern vor allem mit lebensweltlichen Veränderungen, die die Psyche des Staatsbürgers in einem langwierigen Umerziehungsprozeß infiltrieren. Was die Vorbereitung des psychischen Bodens betrifft, auf dem diese umfassenden Umwertungen von Menschlichkeit und gesellschaftlicher Gerechtigkeit gedeihen können, so reicht sie weiter zurück als die von Streeck beschriebene Entwicklungssequenz von vier bis fünf Jahrzehnten.

Wenn es nämlich um die Fähigkeit des Menschen geht, das Absurde und offensichtlich Widersinnige zu glauben, so hat hier gerade die christliche Glaubensgeschichte einen erheblichen Anteil. Christina von Braun hat diesen mehrtausendjährigen Prozeß des Eindringens des nominalistischen Geldes in die leiblich vermittelten Gemeinschaftsformen in ihrem Buch „Der Preis des Geldes“ (2012) minutiös beschrieben. (Vgl. meine Posts vom 09.11. bis 22.12.2012)

In den letzten vier bis fünf Jahrzehnten ‚bedienten‘ sich das Geld und seine Agenten spezifischerer Maßnahmen zur Umerziehung des Staatsvolkes. Am Beispiel Deutschlands läßt sich verfolgen, wie der Humboldtsche Bildungsbegriff, wie ihn noch der deutsche Ausschuß für das Erziehungs- und Bildungswesen in den 1950er und Anfang der 1960er Jahre propagierte und der einen mündigen, selbstbewußten Bürger zur Teilnahme an einer demokratischen Öffentlichkeit befähigen sollte, nach und nach von einem mit Schlüsselqualifikationen ausgestatteten, flexibel an den rapiden technologischen Wandel des Arbeitsmarktes anpaßbaren Arbeitnehmer ersetzt wurde.

Mit der ersten PISA-Studie und den folgenden Bildungsreformen auf schulischer wie auf universitärer Ebene wurde der von Wilhelm von Humboldt entwickelte Bildungsbegriff unter weiterhin fleißiger Verwendung seines Namens vollends durch Bildungsstandards ersetzt, die eine durchmodularisierte, von einem unternehmerfreundlichen Kompetenzbegriff geprägte Indoktrination des jungen, werdenden Menschen ermöglichen sollen, beginnend mit dem zweiten und dritten Lebensjahr, damit die Mutter arbeiten gehen kann, bis hin zum Universitätsexamen.

Es ist im Zuge der neoliberalen Verabschiedung des demokratischen Wohlfahrtsstaates gelungen, dem Staatsvolk zu suggerieren, daß soziale Gerechtigkeit auf Marktgerechtigkeit hinausläuft. Frauen setzten ihre Emanzipation mit dem Recht gleich, für Geld arbeiten gehen zu dürfen. Arbeit wurde mit Geldverdienen gleichgesetzt: „In der Folgezeit wurde Erwerbsarbeit auch für Frauen zum wichtigsten Vehikel sozialer Integration und Anerkennung. Eine Existenz als ‚Hausfrau‘ ist heute ein Stigma: umgangssprachlich ist ‚Arbeit‘ identisch geworden mit bezahlter, am Markt bewerteter Erwerbsarbeit und diese mit Vollzeitbeschäftigung.“ (Streeck 3/2013, S.43)

Das posthumboldtsche Menschenbild reduziert sich auf die Selbstwahrnehmung als Unternehmer, auf einen „humankapitalistische(n) Selbstverwertungsfanatismus und -feminismus“ (Streeck 3/2013, S.43). Der Schulbesuch und der Erwerb von Zertifikaten trug zur „Internalisierung“ einer „Bildungsrenditerechnung“ „ganzer Generationen“ bei. (Vgl. ebenda)

Zur Illusion des Arbeitnehmers, kein Lohnabhängiger mehr zu sein, trug auch die zunehmende Privatisierung der ehemals staatlichen Fürsorge (Kranken-, Arbeits- und Rentenversicherungen) bei. Lohnabhängige wurden nun zu Profitabhängigen und waren plötzlich mindestens ebenso sehr an Marktgerechtigkeit interessiert, wie an sozialer Gerechtigkeit, wenn nicht noch mehr. Wer diese Umstellung zum Minikapitalisten nicht schaffte, durfte sich nach den Hartz IV-Reformen, obwohl er nun eindeutig zu den Verlierern gehörte – siehe Sockelarbeitslosigkeit –, zumindestens als Ich-AG aufgewertet fühlen.

Ein weiteres Mittel zur Sicherung vom „Massenloyalität“ (Streeck 3/2013, S.26 u.ö.) bildete die rasante Beschleunigung der Technologieentwicklung, die Konsummöglichkeiten schuf, „wie sie die Welt bis dahin noch nicht gesehen hatte“ (vgl. Streeck 3/2013, S.41): „Adorno, der weit pessimistischer war als die Theoretiker der Legitimationskrise, würde hier ebenso wie in dem Konsumrausch der letzten drei bis vier Jahrzehnte jenes ‚Wohlgefühl in der Entfremdung‘ erkennen, das zu erzeugen und auf Dauer zu stellen er der Kulturindustrie ohne weiteres zutraute.“ (Streeck 3/2013, S.43) – Eine Entwicklung, deren Beginn in den 1950er Jahren auch Günther Anders schon mit erstaunlicher Klarsicht beschrieben und analysiert hatte. (Vgl. meine Posts vom 23.01. bis 29.01.2011)

So genau einzelne Standardökonomen schon in den späten 1930er Jahren die Entwicklung zum demokratiefreien, europäischen Konsolidierungsstaat theoretisch vorweggenommen haben mögen (vgl. Streeck 3/2013, S.141ff.), und so virtuos diverse Manager von Goldman-Sachs sich der finanzkapitalistischen Instrumente zur Beeinflussung der globalen Gesellschaftsentwicklung zu bedienen wissen (vgl. Streeck 3/2013, S.80f.), möchte ich trotz meiner Bemerkungen zu Beginn dieses Posts doch bezweifeln, daß diese ganze Entwicklung der letzten vier bis fünf Jahrzehnte, wirklich planbar gewesen ist. Der Zusammenbruch des Finanzkapitalismus von 2008 war sicherlich nicht Teil dieses Plans.

Es bedarf hier nochmal eines genaueren Blicks auf den inneren Zusammenhang des Verwertungsprozesses des Geldes und der Transformationsleistungen der Technologieentwicklung, also auf die freie Konvertierbarkeit von Symbol und Materie, wie sie Christina von Braun beschrieben hat. Ich werde in den folgenden Posts noch öfter darauf zurückkommen.

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