„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 25. August 2013

Posts zum Verhältnis von Gemeinschaft und Gesellschaft

Ich habe in diesem Blog inzwischen so viele Posts zu unterschiedlichen Gemeinschafts- und Gesellschaftsbegriffen geschrieben, daß es mir als sinnvoll erscheint, einen Überblick über diese Posts zusammenzustellen. Vielleicht wundert sich mancher, warum es in meinem Blog keinen Post zu Ferdinand Tönnies’ Buch „Gemeinschaft und Gesellschaft“ (1887) gibt. Ich habe versucht Tönnies zu lesen. Aber es gefiel mir nicht, daß er den Begriff der Gemeinschaft, den er mit dem Begriff des „Wesenswillens“ verbindet, metaphysisch auflädt. Ich habe das Buch deshalb wieder aus der Hand gelegt.

–    08.06.201204.09.2013
Bei Jean-Jacques Rousseau gibt es noch keinen Gegensatz zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft, sondern nur zwischen Individuum und Gesellschaft, ohne daß sich eine in sich abgeschlossene, wiederum als Kollektivindividuum auftretende Gemeinschaftsform dazwischen schieben würde. Der Gegensatz zwischen Individuum und Gesellschaft ist ähnlich prinzipiell und sich gegenseitig ausschließend wie bei Tönnies und Plessner der Gegensatz zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft. Allerdings haben wir es hier nicht mit einer metaphysischen oder psychischen Antinomie zu tun, sondern mit einer ethischen. Das Individuum für sich selbst ist gut, in Gesellschaft mit anderen ist es böse bzw. schlecht. Diesen ethischen Gegensatz beschreibt Rousseau als Mensch-Bürger-Aporie: das Individuum kann nicht gleichzeitig Mensch und Bürger sein.
Wilhelm von Humboldt greift diese Verhältnisbestimmung von Mensch und Bürger auf, verwandelt sie aber in ein Bildungsverhältnis. Die Gesellschaft bildet jetzt keine Korruptionsform des Menschen mehr, sondern eine notwendige Ergänzung des Menschen, dem die Natur abhanden gekommen ist. Anstatt sich wie bei Rousseau den Naturgewalten gegenüber zu behaupten, muß er sich nun im geselligen Umgang mit seinen Mitmenschen, den Bürgern, bilden. An die Stelle der Mensch-Bürger-Aporie tritt bei Humboldt nun eine andere Aporie: die zwischen Untertan (Staatsbürger) und Bürger (Privatmensch).
Diese unterschiedlichen Fassungen der Mensch-Bürger-Aporie reflektieren sich auch in Michael Tomasellos problematischen Verhältnisbestimmung von Mutualismus und Altruismus. Je nach dem ob man diese beiden Sozialperspektiven aus der Perspektive des Individuums oder aus der Perspektive der Gruppe beschreibt, beinhalten sie widersprüchliche und einander ausschließende oder unterschiedliche und einander ergänzende Momente.

–  14.11., 15.11., 16.11., 17.11.2010; 06.03.2012; 01.06.2013
Helmuth Plessner unterscheidet prinzipiell zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft. Die Gemeinschaft wird durch die Blutsverwandtschaft konstituiert und beinhaltet die bedingungslose, individuellen Qualitäten gegenüber gleichgültige Zugehörigkeit der Individuen zur Gruppe. Alle, die nicht zur Blutsverwandtschaft gehören, sind ausgeschlossen.
Die Gesellschaft berücksichtigt ausschließlich das individuelle Verhalten der Individuen. Sie bildet eine öffentliche, jedermann zugängliche Bühne. Niemand ist ausgeschlossen, der fähig ist, an einem allgemeinen Maskenspiel teilzunehmen, in dem jeder nur eine Rolle darstellt und jedermann nur das ist, was er zu sein scheint, und nicht das, was er ist.
Die Sachgemeinschaft bildet eine Gemeinschaftsform, in der die (geistige) Liebe an die Stelle der Blutsverwandtschaft tritt. Sie bildet eine Übergangsform zwischen der Blutsgemeinschaft und der Gesellschaft. Die Sachgemeinschaft ist für jeden offen, der von seiner Individualität absieht und sich mit seiner ganzen Persönlichkeit der Liebe zu einer Sache widmet, die ihn mit seinesgleichen verbindet. In der Sachgemeinschaft unterscheiden sich die Individuen nur hinsichtlich ihrer ‚Leistung‘, d.h. ihrer Fähigkeit, der gemeinsamen Sache zu dienen.

–  04.02., 05.02., 07.02.2011; 09.12.2012

Jan Assmann hat beschrieben, wie die Schrift das Verhältnis des Menschen zu sich und seiner Gemeinschaft verändert hat. In der langen Phase der schriftlosen Mündlichkeit bildeten die Menschen Gemeinschaften, die vor allem durch die geographische Nähe zueinander gekennzeichnet waren. Das Gedächtnis dieser Gemeinschaft war vor allem an bestimmte, mit den Jahreszeiten sich wiederholende Riten gebunden, zu denen einzelne ‚Gedächtnisexperten‘ wie Geschichtenerzähler, Sänger und Priester das gemeinschaftliche Wissen um die eigene Identität auffrischten und aktualisierten. Die Menschen hatten noch keine Möglichkeit, ihre eigene an die Mythen und Riten gebundene Identität in Frage zu stellen.
Das änderte sich mit der Einführung der Schrift vor etwa 5000 Jahren. Plötzlich entwickelten die Menschen eine Abneigung dagegen, immer nur das Leben ihrer Vorfahren zu wiederholen. Die räumlichen und zeitlichen Grenzen der mündlichen Gemeinschaften wurden gesprengt. Es bildeten sich neue, auf schriftliche Texte bezogene Gemeinschaften. Zugleich ermöglichten diese Texte den Lesekundigen eine exzentrische Distanzierung zum kulturellen Bestand einer Gemeinschaft. Es entstanden zum ersten Mal Gesellschaften im eigentlichen Sinne, die sich mit Hilfe von Schriften selbst beobachten konnten, also sich zu sich selbst exzentrisch positionieren konnten. So entstand das Bedürfnis nach permanenter gesellschaftlicher Innovation und das, was wir heute als kulturelle Explosion bezeichnen.

–  15.01., 16.01., 19.01.2013
Habermas möchte nicht mehr von einem Gegensatz zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft sprechen. Sein Begriff der Kommunikationsgemeinschaft deckt sich weitgehend mit dem der Gesellschaft. Dennoch umfaßt die Gesellschaft Bereiche der materiellen Reproduktion (Ökonomie), die mit ihrer Funktionalität und Mittel-Zweck-Rationalität der Notwendigkeit einer symbolischen Reproduktion in der Kommunikationsgemeinschaft entgegenstehen, sie stören und sogar im Sinne ihrer (ökonomischen) Zweckrationalität transformieren (kolonialisieren). Wenn es also auch keinen direkten Gegensatz zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft gibt, wie bei Plessner, so doch einen Gegensatz zwischen der Kommunikationsgemeinschaft und der Ökonomie.

–  18.11., 28.11., 04.12., 16.12./16.12.2012
Christina von Braun spricht explizit von einem Gegensatz zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft, den sie am Geld festmacht. Die Gemeinschaft ist vor allem durch das Prinzip der Gabe gekennzeichnet. Unter Verwandten und Nachbarn läßt man sich nicht mit Geld bezahlen, sondern man hilft sich gegenseitig aus. Man gibt bzw. ‚leiht‘ einander, was man gerade braucht, und bekommt es in der einen oder anderen Form wieder zurück. Sobald jemand anfängt, Geld dafür zu nehmen, ist die Gemeinschaft beendet bzw. zerstört.
Geld gibt man nur Fremden, und die Gesellschaft bildet insofern eine Verkehrsform bzw. eine Gesellungsform von Fremden.

–  28.04.2013

Norbert Bolz unterscheidet ganz ähnlich wie Christina von Braun und Helmuth Plessner zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft dahingehend, daß die Gemeinschaften, etwa Familien, durch starke Bindungskräfte gekennzeichnet sind und Gesellschaften entsprechend durch fehlende Bindungskräfte. Außerdem kennt er noch eine durch schwache Bindungskräfte gekennzeichnete Mischungsform aus Gemeinschaft und Gesellschaft: die digitalen Netzwerke wie Facebook. In diesen digitalen Netzwerken sieht Bolz eine Rückkehr der Nachbarschaft auf globaler Ebene. Damit verbindet er die Vision eines Neuen Bundes zwischen Mensch und Technik.

–  21.08., 22.08.2013
Jan Masschelein und Maarten Simons zufolge bilden Gesellschaften heute eine globale Infrastruktur. Diese Infrastruktur dient als Marktumgebung, insofern sie es den verschiedenen, im Mittelfeld zwischen Gesellschaft und Individuum sich bewegenden Netzwerken ermöglicht, miteinander um begrenzte Mittel und Ressourcen zu konkurrieren. Die ‚Gerechtigkeit‘ dieser Infrastruktur, für die diese Gesellschaften bzw. die Staaten zu sorgen haben, besteht darin, allen unternehmerischen Subjekten (Individuen und Netzwerke) Zugang zu gewähren. Angestrebt wird also eine umfassende Inklusion. Dabei handelt es sich allerdings um eine Inklusion, die ständig mit einer Exklusion droht. Wer sich der Inklusion verweigert oder wer sich ihr nicht gewachsen zeigt, verliert sein Existenzrecht.
Im Gegensatz zu dieser globalen Marktumgebung steht die Weltgemeinschaft der Eltern und Kinder und jener Erwachsenen, die das Kind in sich nicht ignorieren können. Anstatt sich durch Inklusion immunisieren zu lassen, setzen sie sich dem Unrecht aus, das darin besteht, daß die Marktumgebung nicht zulassen will, daß sich das Kindliche manifestiert. Gerechtigkeit besteht hier darin, daß die Erwachsenen (Eltern) diese ‚Last‘ auf sich nehmen und eine Welt schaffen, in der sich das Kindliche manifestieren kann.

Es stellt sich wirklich die Frage, was auf globaler Ebene an die Stelle des Geldes und der Technik treten könnte. Es ist offensichtlich, daß das Geld die Kommunikation unter Fremden ermöglicht. Was aber tun diese Fremden, wenn sie nicht mehr mit Hilfe des Geldes kommunizieren können? Sie führen Krieg.

08.06.201215.04.2014
Michael Tomasello unterscheidet in „Warum wir kooperieren“ (2012) zwischen Altruismus und Mutualismus. Auch wenn seine diesbezüglichen Differenzierungen an begrifflicher Klarheit zu wünschen übrig lassen, kann man ihnen doch entnehmen, daß es einen individuellen Altruismus und einen sozialen Altruismus gibt, denen unterschiedliche Bedürfnissen zugrundeliegen. Der individuelle Altruismus besteht in einem universellen, biologisch verwurzelten Bedürfnis, anderen Menschen zu helfen. Schon kleine Kinder im Alter von 14 bis 18 Monaten nehmen persönliche Nachteile in Kauf, wenn sie jemandem helfen wollen. Werden sie für diese Hilfsbereitschaft belohnt, wird sie korrumpiert, und bei künftigen Hilfsanlässen werden Belohnungen erwartet.
Mutualismus als eine Form des Egoismus korrumpiert also den individuellen Altruismus, so wie Geld generell den Effekt hat, Gemeinschaften, die von einem selbstlosen Geben ohne Nehmen leben, zu zerstören. Mit dem sozialen Altruismus verträgt sich der Mutualismus hingegen problemlos. Dieser besteht darin, sich für die Gruppe einzusetzen, z.B. einen Streit zu schlichten oder für bestimmte Werte und Normen einzutreten. Wenn solches Verhalten öffentliche Anerkennung durch andere Gruppenmitglieder findet, in Form von Belohnungen, so wird es, anders als der individuelle Altruismus, verstärkt. Mit dem sozialen Altruismus bewegen wir uns also im Bereich gesellschaftlicher Mechanismen, und mutualistische Strukturen befördern die individuelle Angepaßtheit.

01.12.02.12.2017
Gorgio Agamben unterscheidet zwischen oikos (Familie) und polis (Stadt) und mit Thomas Hobbes („Leviathan“) zwischen Menge und Volk. Oikos und polis entsprechen der Plessnerschen Differenzierung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft. Agambens Grenzziehung besteht anders als bei Plessner nicht im individuellen Verhalten auf der Grenze zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft, sondern in einem ständig sich erneuernden Bürgerkrieg, nach dem dann in einem Versöhnungsfest die Polis erneuert wird. Agamben brücksicht bei dieser antikisierenden Verhältnisbestimmung nicht den nationalsozialistischen Gemeinschaftsbegriff, der wiederum reformpädagogische Wurzeln hat und auf den Plessner mit seiner Kritik des Gemeinschaftsbegriffs reagiert.

Mit Hobbes (1588-1679) unterscheidet Agamben zwischen Menge und Volk, deren Verhältnis zueinander er ähnlich beschreibt wie Rousseau das Verhältnis zwischen Mensch und Bürger: Menge und Volk können niemals zusammenfallen. Die Menge bestimmt als ungeeinte Menge den Souverän. Für einen kurzen Moment ist die ungeeinte Menge das Volk. In Demokratien geschieht das regelmäßig bei Wahlen. Wenn dann das Parlament gewählt ist, wird es zum Repräsentanten des Volkes, während die Menge zur aufgelösten Menge wird und als solche unsichtbar wird; d.h. es wird politisch bedeutungslos. Das Volk ist jetzt das Parlament und nicht die Menge. Wenn die Menge gegen den Souverän bzw. gegen das Parlament und seine Regierung rebelliert, kommt es zum Bürgerkrieg. Anders als die ungeeinte Menge, die allererst einen Souverän bestimmt, kann die aufgelöste Menge nur gegen einen schon bestehenden Souverän rebellieren.

Was in diesem Kreislauf eines ständig sich wiederholenden Bürgerkriegs zwischen oikos und polis und zwischen Menge und Volk (Souverän) nicht vorkommt, ist der Mensch. Damit verlängert Agamben die Agonien der Moderne, anstatt sie produktiv weiterzudenken wie Rousseau und Plessner.

01.10., 01.11.2019
Hartmut Rosa bevorzugt als Soziologe die gesellschaftliche Perspektive. Das Individuum bildet in seiner Resonanztheorie vor allem einen Störfaktor, eine Behinderung gelingender Resonanzbeziehungen zwischen Subjekt und Gesellschaft und zwischen Mensch und Welt. Rosa denkt sich das Individuum vor allem als eine Art Resonanzkörper, der die gesellschaftlichen Schwingungen aufnimmt und in ihnen mitschwingt. So zweifelt Rosa auch am Identitätskonzept und mit dem Identitätskonzept an der Vorstellung von einer ‚Seele‘. Da Menschen immer im Wandel seien und niemals als je bestimmtes Individuum identifizierbar seien, könne es auch keine überdauernde Identität bzw. substantielle ‚Seele‘ geben. Letztlich also hebt Rosa mit dieser Nivellierung von ‚Individualität‘ – also einer Individualität, die auf Individuen basiert und nicht einfach nur als je individuelle Schwingung in den gesamtgesellschaftlichen Resonanzbeziehungen aufgefaßt wird – die Grenze zwischen Innen und Außen auf, und mit ihr die Grenze zwischen privat und öffentlich, ohne zu bemerken, daß es ohne diese Differenz keine Resonanz, die des Zwischenraums bedarf, geben kann.

Auch Hermann Schmitzens Begriff der Atmosphäre läuft auf eine solche wechselseitige, die Innen/Außen-Differenz aufhebende Durchdringung von Mensch und Welt und von Subjekt und Gesellschaft hinaus. Dabei geht Hermann Schmitz noch einen Schritt weiter als Hartmut Rosa, indem er das subjektive Bewußtsein leugnet und nur noch von „Bewußthabern“ spricht, also von Sendern und Empfängern atmosphärischer Schwingungen und Zustände. Bewußthaber ‚haben‘ also zwar Zustände, aber kein Bewußtsein. Und diese Zustände, die die Bewußthaber ‚haben‘, sind nicht im eigentlichen Sinne innere Zustände, sondern gemeinsame Zustände von miteinander kommunizierenden Bewußthabern. Sowohl bei Rosa als auch bei Schmitz, bei Rosa mehr als bei Schmitz, ist zwar viel von Gesellschaft die Rede; aber diese Gesellschaft ist eigentlich eine Gemeinschaft, denn alles ist subjektiv, nämlich intersubjektiv. Es fehlt die Differenz von Innen und Außen und mit ihr die Differenz zwischen privat und öffentlich, die eine Gesellschaft erst zu einer Gesellschaft macht.

– Gesellschaft / Pluralität (18. August 2020):
Ich kenne inzwischen drei bis vier verschiedene Gesellschaftsbegriffe: bei dem ersten ist die Gesellschaft ein biologischer Organismus. Die Individuen sind Organe, die im gesellschaftlichen ‚Körper‘ verschiedene Funktionen übernehmen. Auch bei dem zweiten tritt die Gesellschaft an die Stelle der biologischen Gattung; nur daß die Individuen hier nicht als einfache ‚Organe‘ verstanden werden, sondern als Gleiche im Systemganzen der Gesellschaft. Sie bilden aber nicht mehr das Medium der Evolution, wie bei Darwin, sondern dieses Medium bildet die Gesellschaft, mit der sie sich nolens volens mitentwickeln. In diesem Sinne versteht Habermas die Gesellschaft. Habermas würde sich dagegen mit dem Hinweis verwahren, daß die Individuen mit der Fähigkeit, Nein zu sagen, ausgestattet seien. Aber da er deren Individualität auf eine vorgängige Vergesellschaftung zurückführt, ist dieses ‚nein‘ nicht viel wert.
Hannah Arendt deutet diese Gesellschaft als ein Zwangssystem, das im Kapitalismus dem ökonomischen Prinzip unterworfen ist, und setzt dieser Vorstellung drittens den Begriff der „Pluralität“ entgegen. Schon vor Arendt hatte W.v. Humboldt die Gesellschaft als eine Pluralität verstanden, d.h. als eine freie Gesellungsform, die der Mannigfaltigkeit (Arendts Pluralität) der Individuen eine Bühne bietet. Dem entspricht wiederum (viertens) der Plessnersche Begriff der Gesellschaft, eben als eine Bühne, auf der die Individuen verschiedene Rollen spielen, die wie Masken zugleich das Individuum vor dem die Intimität zerstörenden Durchschaut-Werden schützen.
‚Pluralität‘ und ‚Bühne‘ sind zwei Vorstellungen einer nicht vergesellschaftenden Gesellschaftsform, die sich gegenseitig ergänzen. Von der vorgängigen Vergesellschaftung, von der Habermas ausgeht, unterscheidet sich Arendts Begriff der Pluralität durch die ‚Natalität‘, mit der Arendt die Fähigkeit des Menschen bezeichnet, in einer vorgängigen, schon fertigen Welt spontan einen Anfang zu setzen. Ihr Pluralitätsbegriff hat zwei Implikationen: zum einen geht es darum, daß es die Wahrheit nicht gibt. Jeder Mensch hat seine eigene Wahrheit, seine eigene Sicht auf Sachverhalte. Die Gesamtheit der differierenden individuellen Perspektiven nennt Arendt auch Intersubjektivität. Diese ‚Intersubjektivität‘ unterscheidet sich von der Habermasschen darin, daß sie keinen monolithischen, auch keinen alle Subjekte auf eine, wenn auch zeitlich beschränkte Version verpflichtenden Wahrheitsanspruch mehr erheben kann. Allerdings unterscheidet Arendt zwischen ‚Wahrheit‘ und ‚Tatsachen‘. Tatsachen verpflichten alle Subjekte gleichermaßen. Aber eine die verschiedenen (pluralen) Subjekte verpflichtende ‚Wahrheit‘ muß aus ihnen erst noch abgeleitet werden. Und diese kann, wie die Subjekte, nur plural sein.
Die andere Implikation ist, daß wir nie allein handeln, sondern immer mit anderen zusammen. Das ist die politische Implikation des Pluralitätsbegriffs, in der es darum geht, die Verschiedenheit der Perspektiven (Wahrheiten) in gemeinsames Handeln zu überführen.
Von der Gesellschaft unterscheidet sich die Pluralität also durch die Anerkennung der Differenz. In der Massengesellschaft bzw. in der Arbeits- und Konsumgesellschaft – diese Begriffe hängen bei Arendt eng zusammen – herrscht die Tendenz vor, die verschiedenen Wahrheiten in eine Wahrheit zu überführen, um die Menschen besser kontrollieren zu können. Durch die Nivellierung der Differenz kommen wir aber nicht zu einer Wahrheit. An ihre Stelle tritt vielmehr die Illusion, im Besitz der Wahrheit zu sein. Das ist das Gegenteil von Pluralität.


Volk/Zivilgeselllschaft (24.04.2021):
Dieser Blogpost war Ende April etwa eine Woche in meinem Blog sichtbar. Dann habe ich ihn wieder aus dem Blog genommen. Bei diesem Blogpost handelt es sich um eine Reaktion auf den Hashtag allesdichtmachen. Kern des Blogposts bildet das Stichwort „Volk“ aus dem Glossar.

Kritik der Kritik? – Oder: Diffamierung der Kritik? – Oder: Kritik der Diffamierung? – Oder: Diffamierung der Diffamierung?
Wann ist Kritik berechtigt, wann nicht? Ist sie nicht berechtigt, wenn die ‚Falschen‘ zustimmen? Wer sind die Richtigen, wer die Falschen? Wo ist die Grenze zwischen Anständigen und Unanständigen?
Der Klarheit wegen: ich halte die AFD für unanständig. Aber ich gebe zu, daß das, so in den Raum gestellt, bloß eine subjektive Äußerung ist. Dabei weiß ich nicht mal, ob ich selbst zu den Anständigen gehöre.Vielleicht schreibe ich hier auch lauter Unsinn, wovon ich mich gerne jederzeit überzeugen lasse, wenn ich die Argumente stimmig finde. Entscheidend ist doch, ob der Inhalt einer Kritik am Corona-Management schon deshalb unanständig ist, weil auch die AFD das Corona-Management kritisiert und sogar das Corona-Problem einfach leugnet? Schon gar wenn diese Kritik so ironisch daherkommt wie #allesdichtmachen. Da macht die Diskussionsbereitschaft anscheinend dicht.
Es ist in unserer bundesdeutschen Gesellschaft viel von „Zivilgesellschaft“ die Rede. Ich schätze die Zivilgesellschaft sehr, weil ich davon ausgehe, daß die Zivilgesellschaft etwas ist, das sich vom Staat unterscheidet und über keine eigene institutionelle Macht verfügt. Sie ist eine reflektierte Form der Öffentlichkeit, die die Öffentlichkeit für eine demokratische Einrichtung hält, die es wert ist, verteidigt zu werden. Sie ist eine Verteidigungsform der Nicht-Mächtigen und tritt für die Rechte der Ohnmächtigen ein. Dazu bedarf es des Mutes. Für diesen Mut steht das Wort „Zivilcourage“.
Allerdings geschieht bei dieser Verteidigung der Ohnmächtigen etwas Seltsames: die Bürger werden dazu aufgefordert, Zivilcourage zu zeigen. Das ist ein Problem. Ich finde es schon problematisch, zu verlangen, daß die Anständigen sich immer dort in den sozialen Netzwerken und im analogen Leben zu Wort melden sollen, wo Minderheiten diskriminiert werden. Jederzeitige Empörungsbereitschaft wird zur Bürgertugend erklärt und mit Zivilcourage gleichgesetzt. Die Auswirkungen kann man in den ‚sozialen‘ Netzwerken beobachten: niemand Bestimmtes, aber alle möglichen ‚Anständigen‘ entscheiden jetzt darüber, wer dazugehört und wer nicht.
Noch problematischer finde ich es, zu verlangen, in schwierigen, gewaltförmigen Situationen für Schutzlose einzutreten und dabei die eigene Unversehrtheit zu riskieren. Dazu gehört wirklich Mut, und das ist etwas sehr Persönliches; nichts was man billigerweise von anderen als sich selbst fordern kann. Auch hier wird zwischen ‚anständigen‘, also denen, die sich trauen, und ‚unanständigen‘ Deutschen unterschieden, und im Namen der Zivilgesellschaft wird exkludiert.
Und das ist genau das Phänomen, was ich hier als ‚Volk‘ bezeichnen möchte. Ich habe den Verdacht, daß, weil man in Deutschland aus guten Gründen nicht mehr so einfach vom ‚Volk‘ sprechen kann, die Zivilgesellschaft zum Volkersatz geworden ist. Es sind jedenfalls dieselben Mechanismen.
Das hat nichts mit #allesdichtmachen zu tun? Dabei handelt es sich bloß um eine saturierte, selbstzufriedene Bohéme, die die Opfer des Coronavirus ignoriert?
Es ist insofern eben doch das gleiche, als im Namen einer Zivilgesellschaft exkludiert wird. Und das bleibt nicht folgenlos und will ausgehalten werden. So ein shitstorm kann vielleicht nicht physisch, aber psychisch versehren. So ergeht es jetzt den Beteiligten am #allesdichtmachen. Sie werden jetzt ausgesondert, und erste Forderungen werden erhoben, sie aus den öffentlich-rechtlichen Medien zu entfernen. Ein bequemer, allzu bereiter Mut, der sich hier artikuliert.
Das ‚Volk‘ – bzw. die Anständigen – ist immer in der Mehrheit, auch dann wenn sich diese Mehrheit nicht artikuliert, bei Wahlen zuhause bleibt und auch nicht demonstrieren geht und keine politischen Veranstaltungen besucht; denn dann ist es eben die schweigende Mehrheit. Auch jetzt, in der Pandemie, ist es wieder die Mehrheit, die sich an die Corona-Regeln hält, und es ist nur eine Minderheit, die die Gesundheit anderer Menschen gefährdet? Letztere ist natürlich unanständig.
Ich spreche von vergleichbaren Mechanismen. Damit beziehe ich mich nicht mehr nur auf die Pandemie, sondern auf ein umfassenderes Problem: nämlich auf das Problem einer tiefgehenden Spaltung der deutschen Gesellschaft, die durch die Pandemie bloß offenglegt worden ist. Und in dieser Spaltung werden altbekannte Ressentiments virulent. Seit Nazi-Deutschland, seit den Volksgerichtshöfen und völkischen Expansionsabenteuern, seit der rassistisch begründeten Massenvernichtung ‚volksfremder‘ Elemente, wurde und wird heute wieder eine ‚Politik‘ betrieben, in der das Volk als Begründungsinstanz für jede Schweinerei herhalten muß, die sich kranke Gemüter auszudenken vermögen. Oder eine Nummer kleiner: das Volk ist ein bequemes populistisches ‚Argument‘, weil niemand darauf festgelegt werden kann, was das eigentlich ist.
Noch eine Nummer kleiner: wir orientieren uns an den wechselnden Trends in den regelmäßig stattfindenden Umfragen und suchen verzweifelt nach der Mehrheit, der wir uns anständigerweise zuordnen dürfen.
Das Wort ‚Volk‘ hat viele Bedeutungsebenen: in der Aufklärung stand das ‚Volk‘ als Kollektivindividuum zwischen Einzelindividuum und Menschheit, und die Gemeinschaft der ‚Völker‘ arbeitete am Weltfrieden. Dafür bedurfte es aber einer staatlichen Repräsentanz, also des Nationalstaats, was schon viele Völker ausschloß, die nicht das Glück hatten, auf ein klar abgrenzbares Territorium beschränkt zu sein. Sie kamen dann in der Gemeinschaft der Völker einfach nicht vor. Besonders schlimm traf es die Juden, die eigentlich die Urform des religiös aufgeladenen Volksbegriffs verkörpern. Dieser Volksbegriff wendete sich nun gegen sie und wurde schlicht zum Synonym für Antisemitismus.
In den heutigen Demokratien, auch in der Bundesrepublik Deutschland, ist das ‚Volk‘ die verfassungsgebende Gewalt. Die Gerichte berufen sich bei ihren Urteilen auf das ‚Volk‘. Wir haben es aber, wie vielleicht deutlich geworden ist, mit einer reinen Fiktion zu tun, wie bei dem Wort ‚Gott‘ in der Präambel des bundesdeutschen Grundgesetzes. Letztlich muß sich auch das Grundgesetz vor dem ‚Volk‘ schützen, oder zumindestens vor dessen Repräsentanten, insofern eine Zweidrittelmehrheit nötig ist, um es zu ändern. Also auch hier haben wir die Vorstellung, daß das Volk irgendwie in der Mehrheit der Bevölkerung besteht.
Wir sind Bürgerinnen und Bürger auf dem Boden des Grundgesetzes, solange sich keine Zweidrittelmehrheit findet, es abzuschaffen. Mehr hat es mit unserer Zivilgesellschaft nicht auf sich. Und solange wir diesen Glücksfall in der deutschen Geschichte genießen dürfen, sollten wir offen sein für eine Debatte, die niemanden ausschließt, nur weil die ‚Falschen‘ ihr oder ihm applaudieren.

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Freitag, 23. August 2013

Jan Masschelein/Maarten Simons, Globale Immunität oder Eine kleine Kartographie des europäischen Bildungsraums, Zürich 2012

1. Das ausgesetzte Kind
2. Pädagogik und Emanzipation
3. Gemeinschaft als Netzwerk
4. Gemeinschaft als Last
5. Was sich manifestiert

Ich neige dazu den Begriff der Manifestation, wie ihn Masschelein und Simons verwenden, im Sinne der Plessnerschen Expressivität zu verstehen. (Vgl.u.a. meine Posts vom 26.10. und vom 29.10.2010) Den Begriff der Manifestation beziehen die beiden Autoren vor allem auf die Welt, als einem Raum, in dem sich etwas ‚zeigen‘ kann. Und das, was sich zeigt, ist wiederum meistens ein ‚Unrecht‘, das sich den Verwertungsinteressen von Marktumgebungen grundsätzlich entzieht. Der Zusammenhang zwischen dem sich manifestierenden Unrecht und der Welt ist dabei so eng, daß die Manifestation eines Unrechts allererst zur „Gründung“ einer Welt führt. (Vgl. Masschelein/Simons 2012, S.97) Unabhängig von dieser Manifestation, so die Autoren, ‚gibt‘ es keine Welt: „Die Welt in unserer Auffassung ist etwas, das auch nicht sein kann, etwas, das nicht notwendig ist.“ (Masschelein/Simons 2012, S.95)

Die Welt bildet sozusagen den Raum, in dem sich Menschen einem Unrecht aussetzen, anstatt es zu ignorieren oder ihm aus dem Weg zu gehen. Sie lassen sich von ihm ‚ansprechen‘. Darin besteht die Expressivität der Welt, in der das Unrecht zur Erscheinung, zur Manifestation kommt. Die „Wirklichkeit“ einer Marktumgebung hingegen „hat dem lernenden und unternehmerischen Menschen als solchem nichts zu sagen, sie spricht ihn oder sie nicht an. Dinge (Inhalte) beziehen ihre Bedeutung aus ihrer Funktion innerhalb von Projekten und in Relation zu Bedürfnissen. Die Wirklichkeit ist eine Umgebung, die als ‚Ressource‘ oder ‚Provision‘ wahrgenommen werden kann.“ (Vgl. Masschelein/Simons 2012, S.80)

Eine Marktumgebung, die dem Menschen „nichts zu sagen“ hat, ist nicht expressiv. Sie kennt nur die Mittel-Zweck-Relation der Befriedigung von Bedürfnissen, und die Bedürfnisse kommen in ihrer Befriedigung nicht zum Ausdruck, sondern sie lösen sich in der Befriedigung auf. Ganz ähnlich hatte Plessner in der Brechung des Intentionsstrahls, also in der ausbleibenden Befriedigung, die Voraussetzung für die menschliche Expressivität gesehen. Die Seele hatte er als dieses Schwanken auf der Grenze zwischen dem ‚sich Zeigen‘ und dem ‚sich Verbergen‘ gesehen, so daß sie vor jedem gefundenen Ausdruck wieder zurückschreckt. (Vgl. meinen Post vom 14.11.2010) Diese Seele ist das von der Marktumgebung verdrängte „Unrecht“, von dem Masschelein und Simons sprechen, und sie ist das „Kind“, mit dem wir zusammenleben müssen, das ‚Mit‘ im ‚com‘-munis und das ‚Mein‘ in der Ge-‚mein‘-schaft, das die beiden Autoren auch als „Ausgesetztsein“ und als „In-Kontakt-Sein“ beschreiben. (Vgl. Masschelein/Simons 2012, S.106)

Den pädagogischen Umgang mit dem ‚Kind‘ in einer ‚Welt‘ beschreiben Masschelein und Simons im prägnanten Sinne als „e-dukativ“, gerade auch im Unterschied zu einer Pädagogik, die sich als E-manzipation versteht. (Vgl. S.113, 115, 119) Edukation meint das Hinaus-Führen des Kindes in eine Welt, die zugleich mit diesem Hinausführen gestiftet wird. Edukation meint das Schaffen einer Welt, in der sich das ‚Kind‘ bzw. das ‚Unrecht‘ manifestieren können. Von Plessner her gewinnt sogar der Begriff des Unrechts noch einen Doppelsinn. Es ist das exzentrisch positionierte ‚Recht‘, das sich den kodifizierten Fassungen als Formen der Immunisierung entzieht und ihnen prinzipiell äußerlich bleibt.

Als Beispiel für unsere edukative Verhältnisbestimmung zum Kind nennen Masschelein und Simons die Straße. Die Straße kann beides sein: eine Infrastruktur in einer Marktumgebung, die der Zirkulation von Gütern dient, und ein politischer Raum, in dem ein Unrecht zur Sprache gebracht wird: „Wenn Menschen auf die Straße gehen, dann ist die Straße nicht länger ein Ort der Zirkulation.“ (Masschelein/Simons 2012, S.95)

Die Polizei neigt dazu, der Zirkulation von Gütern den Vorrang zu geben und die Demonstranten darauf zu verweisen, daß für die Manifestation von Unrecht andere, demokratische Institutionen vorgesehen sind. Wenn die Erwachsenen auf die Straße gehen, verhalten sie sich „wie Kinder“, „die spielen und nicht zirkulieren wollen.“ (Vgl. Masschelein/Simons 2012, S.97) – Das aber ist genau das, worum es Masschelein und Simons zufolge im Politischen geht. (Vgl. Masschelein/Simons 2012, S.104)

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Donnerstag, 22. August 2013

Jan Masschelein/Maarten Simons, Globale Immunität oder Eine kleine Kartographie des europäischen Bildungsraums, Zürich 2012

1. Das ausgesetzte Kind
2. Pädagogik und Emanzipation
3. Gemeinschaft als Netzwerk
4. Gemeinschaft als Last
5. Was sich manifestiert

Masschelein und Simons verstehen die Gemeinschaft als ‚Last‘ vom lateinischen ‚communis‘ her, in dem das Wort ‚munus‘ steckt, was soviel wie ‚Last‘ bzw. ‚Aufgabe‘ bedeutet. (Vgl. meinen Post vom 18.08.2013) Die beiden Autoren übersetzen dieses Wort auch mit „Lücke“: „Die Übersetzungen Lücke, Last, Schuld oder Gabe zeigen, dass wir etwas schuldig sind ... Die Schuld, die wir in der Welt erfahren, hat etwas damit zu tun, dem Unrecht ausgesetzt zu sein, sie bezieht sich darauf, immer wieder aufs Neue eine Antwort auf die Frage des Zusammenlebens schuldig zu sein, die sich mit und in der Welt stellt.“ (Masschelein/Simons 2012, S.99f.)

Ich bin kein Lateiner und kann deshalb nicht beurteilen, ob ‚Lücke‘ wirklich eine korrekte Übersetzung von ‚munus‘ ist. Ich vermute, daß diese Übersetzung auch dem Raumzeitkonzept der beiden Autoren geschuldet ist, das sie als „Heterotopie“ und als „ Heterochronie“ beschreiben. (Vgl. Masschelein/Simons 2010, S.62ff. und S.66) In diesem Sinne sprechen sie von einer „Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft“ (Masschelein/Simons 2010, S.66), in die sie auch die Gemeinschaft mit ihrer Last bzw. Verantwortung einordnen.

Die ‚Last‘ dieser Gemeinschaft hat drei Ebenen: zum einen geht sie aus einem referentiellen Dreieck hervor, das eine Gemeinschaft von Lernenden mit dem Gegenstand ihres Interesses bildet und aus dem Professor/Lehrer, dem Studenten/Schüler und dem Lerngegenstand besteht. Es ist allererst dieser Gegenstand, der die Gemeinschaft stiftet, im Sinne einer ‚Welt‘, in der dieser Gegenstand vorkommt und in der die Lernenden nun mit ihm zusammenleben müssen. Die ‚Welt‘ besteht nur aufgrund dieses Gegenstandes, und bei fehlendem Interesse der Lernenden, die dann auch keine Lernenden mehr wären, gäbe es diese Welt nicht: „Die Welt in unserer Auffassung ist etwas, das auch nicht sein kann, etwas, das nicht notwendig ist.“ (Masschelein/Simons 2012, S.95) – Diese Welt hat also keine Notwendigkeit, sie hat keine Funktion, und deshalb bildet sie auch keine Netzwerk-Umgebung. (Vgl. ebenda)

Diese Lerngemeinschaft erinnert an die Sachgemeinschaft, von der Helmuth Plessner spricht. (Vgl. meinen Post vom 15.11.2010) Allerdings besteht die Plessnersche Sachgemeinschaft aus Erwachsenen. Das sehen Masschelein und Simons anders. Auf einer anderen Ebene bildet die Gemeinschaft nämlich eine Last, die der Erwachsene mit sich selbst, mit seinem eigenen Erwachsensein bzw. mit der „dunklen Seite dieses Erwachsenseins“ hat, wie Masschelein und Simons schreiben. (Vgl. Masschelein/Simons 2012, S.87) Bei dieser dunklen Seite handelt es sich um etwas, „das wichtig, aber nicht einsatzfähig ist, etwas, das nicht produktiv ist oder werden kann, das eher mit Passivität als mit Aktivität zu tun hat und sich, konfrontiert mit allen möglichen Aktivierungsprogrammen, scheinbar still und leise zurückzieht.“ (Vgl. ebenda) – Es ist gewissermaßen das innere Kind, „dem wir aber nicht nachgeben dürfen, wenn wir den europäischen Bildungsraum betreten und bewohnen wollen“, das uns aber als „Passivität“, als „Last“ erhalten bleibt und zu dem wir eine Haltung finden müssen. (Vgl. Masschelein/Simons 2012, S.88).

Und schließlich haben wir es bei der Last mit der realen Gemeinschaft mit den Kindern selbst zu tun, die sich dem Erwachsenen gegenüber in der Rolle des ewigen Zuhörers befinden und denen die Erwachsenen Worte schulden, von denen sie, also die Erwachsenen selbst, nicht wissen können, was sie bedeuten: „... es gibt immer die Position dessen, der zuhört (die Position der Kindheit). ... Ein Zuhörer zu sein, der Angesprochene zu sein, bedeutet, dass man sich nicht in einer Position befindet, die man kontrolliert.“ (Vgl. Masschelein/Simons 2012, S.111)

Wenn wir das fragende Kind als eine Form seiner Passivität verstehen, der wir Antworten schuldig sind, so konstituiert sich in dieser Verhältnisbestimmung zwischen dem Kind und dem Erwachsenen die dem Kind gemäße Welt: „In dieser und für diese Welt gilt es, die richtigen Worte und Gesten zu finden, ohne dass man ‚weiß‘ oder wissen kann. Die richtigen Worte und Gesten sind die, die die Last des ‚mit‘ aufnehmen, die ‚Frieden‘ und Ruhe bringen und achtsam machen, so dass etwas (Neues) geschehen kann.“ (Masschelein/Simons 2012, S.113)

Auf die Funktionsweise dieser Welt gehe ich im folgenden und letzten Post ein.

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Mittwoch, 21. August 2013

Jan Masschelein/Maarten Simons, Globale Immunität oder Eine kleine Kartographie des europäischen Bildungsraums, Zürich 2012

1. Das ausgesetzte Kind
2. Pädagogik und Emanzipation
3. Gemeinschaft als Netzwerk
4. Gemeinschaft als Last
5. Was sich manifestiert

Von Helmuth Plessner kennen wir die Differenzierung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft, derzufolge beide Formen des Zusammenlebens nach völlig gegensetzlichen, sich gegenseitig ausschließenden Prinzipien organisiert sind. Das Prinzip der Gemeinschaft bildet die Blutsverwandtschaft, das den Einzelnen ungeachtet seiner Eigenschaften bedingungslos anerkennt, und das Prinzip der Gesellschaft bildet die Funktionalität wechselseitiger Rollenerwartungen, das die Einzelnen nur nach ihrer Nützlichkeit und Leistungsfähigkeit anerkennt. (Vgl. meine Posts vom 14.11. und vom 16.11.10) Aus der Systemtheorie kennen wir wiederum die Konzeption einer Gesellschaft, die sich selbst beobachtet und auf sich selbst reagiert. (Vgl. meinen Post vom 04.08.2013) Norbert Bolz schließlich beschreibt soziale Netzwerke im Internet als Gemeinschaftsformen, die durch schwache Bindungen gekennzeichnet sind und denen seiner Ansicht nach die Zukunft gehört. (Vgl. meinen Post vom 28.04.2013)

Alle diese unterschiedlichen Begriffsbestimmungen von Gemeinschaft und Gesellschaft tauchen auch bei Masschelein und Simons wieder auf. Allerdings verwandeln sie den von Plessner beschriebenen Gegensatz zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft in einen Gegensatz zwischen zwei nicht minder gegensätzlichen, sich gegenseitig ausschließenden Formen der Gemeinschaft selbst, ohne beider Beziehungen zur Gesellschaft noch einmal eigens zu thematisieren. Dabei scheint die eine Gemeinschaft, die die beiden Autoren ähnlich wie Norbert Bolz als „Netzwerk“ darstellen (vgl. Masschelein/Simons 2012, S.34), die begriffliche Funktion zu übernehmen, die bei Plessner die Gesellschaft inne hat; denn auch hier geht es primär um „employability“ bzw. Nützlichkeit. (Vgl. Masschelein/Simons 2012, S.37 und S.81) Außerdem hat das Netzwerk als „Mittelfeld zwischen Individuum und Gesellschaft“ (Masschelein/Simons 2012, S.60) die Fähigkeit, sich selbst zu beobachten und sich einem ständigen Qualitätsmanagement zu unterziehen. So müssen z.B. individualisierte Netzwerke wie Schulen und Universitäten in einer Marktumgebung wie dem europäischen Bildungsraum mit anderen Schulen und Universitäten konkurrieren und „unternehmerische, autonome Entscheidungen“ treffen. (Vgl. Masschelein/Simons 2012, S.76)

Die andere Gemeinschaftsform, die Plessner im engeren und eigentlichen Sinne einer Gemeinschaft als Blutsgemeinschaft beschreibt, ist die Gemeinschaft als ‚Last‘ bzw. als ‚Verantwortung‘, und sie steht im völligen Gegensatz zur Netzwerkgemeinschaft. (Vgl. Masschelein/Simons 2012, S.99f.) Auf diese Gemeinschaftsform werde ich im nächsten Post näher eingehen.

Die Netzwerk-Gemeinschaft beschreiben Masschelein und Simons vor allem mit Hilfe zweier Begriffskonstellationen: mit Hilfe der Begriffe der Inklusion und der Exklusion und mit Hilfe des Vertragsbegriffs. Zunächst einmal kann festgehalten werden, daß die Netzwerk-Gemeinschaft, wie die Plessnersche Gesellschaft, von Erwachsenen ‚bewohnt‘ wird. (Vgl. Masschelein/Simons 2012, S.80, 88f.) Die Netzwerk-Gemeinschaft kennt nichts anderes als Erwachsene, und sie beurteilt alle, die „Zugang“ (access) zu ihr suchen, nach ihrem Erwachsensein.

Dieses Erwachsensein besteht im Wesentlichen in der Vertragsfähigkeit des zugangsuchenden Erwachsenen. In den Verträgen zwischen den Netzwerken und ihren Mitgliedern werden die zum Netzwerk passenden „Vorlieben und Bedürfnisse“ dieser ‚Erwachsenen‘ geklärt und „Pflichten und Verantwortlichkeiten“ der Neumitglieder festgelegt. Das ist der Grund, warum Netzwerke nur von Erwachsenen ‚bewohnt‘ werden (und wenn es sich um Kinder handelt, wird ihr Kindsein einfach ignoriert): „Soziale Beziehungen setzen daher Individuen voraus, die ihre Bindungen, Überzeugungen, Werte, Bedürfnisse, Nöte, Kompetenzen und Fähigkeiten transparent machen und ihnen gegenüber eine objektivierende, berechnende und berechnete Haltung einnehmen können.“ (Masschelein/Simons 2012, S.82f.)

Beziehungen in Netzwerken, „in denen eine transparente und wechselseitige Kommunikation im Mittelpunkt steht“, beruhen also immer „auf einem Vertrag zwischen gleichen, autonomen unternehmerischen Subjekten“. (Vgl. Masschelein/Simons 2012, S.33)

In einer Netzwerkwelt beruht das „Existenzrecht“ des Menschen auf dieser Fähigkeit bzw. Kompetenz, Zugang zu Netzwerken zu finden und ihnen nützlich zu sein: „Die weitere Existenz (das Existenzrecht) steht hier ständig auf dem Spiel, und es ist dieser Lage nur angemessen, das Handeln ständig auf das ‚kreative Durchspielen neuer Kombinationen‘ einzustellen. Diese Haltung oder Einstellung, für die Wissen und Fertigkeiten als eine Form von Kapital erscheinen, ist die einzige Chance, sich einer Ausschaltung zu widersetzen.“ (Masschelein/Simons 2012, S.26)

Die Netzwerkwelt unterscheidet deshalb nicht zwischen Innen und Außen (vgl. Masschelein/Simons 2012, S.35), sondern zwischen Zugang oder kein Zugang, zwischen Inklusion oder Exklusion. In der „neuen Politik“ wird deshalb nicht mehr zwischen „Gleichheit“ und „Ungleichheit“, sondern zwischen „Einschluß“ und „Ausschluß“ differenziert, wie Masschelein und Simons Anthony Giddens zitieren. (Vgl. Masschelein/Simons 2012, S.54) Möglicherweise ist genau dies das „Unrecht“, von dem Masschelein und Simons immer sprechen, wenn sie die Kindheit und die Gemeinschaft als Last bzw. Verantwortung thematisieren. (Vgl. Masschelein/Simons 2012, S.94f., 99f., 106) Durch den beständigen Ausschluß, die Exklusion des Kindlichen aus der Netzwerk-Gemeinschaft, wird dessen „Manifestation“ (Existenzrecht) von vornherein verhindert. (Zur ‚Manifestation‘ vgl. Masschelein/Simons 2012, S.97, 104, 106)

Inklusion ist das Ziel des „unternehmerischen Selbst“, und Exklusion und der damit drohende Verlust des Existenzrechts ist sein Risiko. Ohne dieses Risiko, also ohne den drohenden Ausschluß im Konkurrenzkampf um den Zugang, wäre es kein unternehmerisches Selbst. Erst die Verlierer machen aus den Unternehmern Unternehmer: „Um den Nachweis zu erbringen, dass im Kontext des beweglichen Unternehmertums innerhalb einer Netzwerkumgebung nicht das Problem der sozialen Ungleichheit entsteht, sondern vielmehr das Problem der Ex- und Inklusion, mag man bei der Bedeutung des Risikos für das Unternehmertum ansetzen. Für das unternehmerische Selbst ist das Risiko keineswegs etwas, das unverzüglich aus der Welt geschafft werden muss – ist doch das Risiko (des Misserfolgs oder Verlustes) Bedingung für den Gewinn und garantiert zudem die permanente Innovation, Anpassung und Mobilisierung des unternehmerischen Selbst.“ (Masschelein/Simons 2012, S.51)  – Vielleicht ist die Notwendigkeit der Exklusion die Wurzel des Cybermobbings?

Es ist also nachvollziehbar, daß Masschelein und Simons in einer Welt der Vertragsfähigkeit und der Risikenabwägungen das Kind nur als ein „Unrecht“ thematisieren können, das sich in dem Abwägungsprozeß von Bedürfnis und Befriedigung und von in einer Marktumgebung zur Verfügung stehenden Mitteln nicht zu manifestieren vermag. So wird das Ausgesetztsein des Kindes zur paradigmatischen Formel für Seele und Expressivität (Plessner), und es eröffnet den Ausblick auf eine „Pädagogik der reinen Mittel“, von „Mitteln ohne Zweck“ (Masschelein/Simons 2012, S.115), in denen es um nichts anderes geht, als den Raum zu schaffen, in dem es sich zeigen kann.

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Dienstag, 20. August 2013

Jan Masschelein/Maarten Simons, Globale Immunität oder Eine kleine Kartographie des europäischen Bildungsraums, Zürich 2012

1. Das ausgesetzte Kind
2. Pädagogik und Emanzipation
3. Gemeinschaft als Netzwerk
4. Gemeinschaft als Last
5. Was sich manifestiert

Wenn nicht nur die Ökonomie ein Tribunal bildet, sondern auch die Humanität (vgl. Masschelein/Simons 2012, S.119), dann erklärt das auch, wieso in der Pädagogik immer schon eine babylonische Sprachverwirrung vorherrscht. Immer schon benutzen die Pädagogen die gleichen zentralen Ur-Worte, die eine pädagogische Praxis stiften sollen, und reden doch ständig aneinander vorbei, weil jeder etwas anderes darunter versteht. Begriffe wie „Lernen lernen“ oder „individuelles Lernen“, „Selbstverwirklichung“ und „Selbstkompetenz“, „Emanzipation“, „Mündigkeit“ usw. rufen bei den Pädagogen die unterschiedlichsten Vorstellungen hervor und verleiten nicht selten zum Machtmißbrauch, selbstverständlich zum Besten des Kindes. (Vgl. zum Machtmißbrauch meinen Post vom 15.07.2012 und zu den „Lernbegriffsirrwegen“ meinen Post vom 16.01.2012)

Wenn also diese ur-pädagogischen Begriffe nicht vor der Korruption durch die Macht gefeit sind, dann kann eben durchaus auch der Humanismus ein Tribunal sein und sich gegenüber dem Zugriff des Ökonomischen als wehrlos erweisen. Und dies umso leichter, als auch in einer Pädagogik ‚vom Kinde aus‘ immer von seinen ‚Bedürfnissen‘ die Rede ist, die der ‚Befriedigung‘ bedürfen. Wer aber kennt sich besser mit der Befriedigung von Bedürfnissen aus als der Markt mit seiner Infrastruktur aus Angebot und Nachfrage? So werden aus Erziehung und Bildung ‚Güter‘, die angeboten werden, und aus Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen werden ‚Unternehmer‘, die in ihr eigenes Humankapital investieren, um ein ‚Gut‘ zu produzieren, das es ihnen ermöglicht, ein ihre Bedürfnisse befriedigendes Leben zu führen: „Unternehmerisch sein heißt, dass man aus knappen Mitteln (wie Zeit, Marktprodukten, Dienstleistungen) eine Auswahl trifft, um ein Gut zu produzieren, das die Vorlieben (Bedürfnisse) maximal befriedigen kann. Da Befriedigung (von Bedürfnissen) produziert wird, kann auch das Konsumverhalten als ein Unternehmen betrachtet werden.“ (Masschelein/Simons 2012, S.23)

,Güter‘, die unsere Bedürfnisse befriedigen, können also alle möglichen Arten von Dienstleistungen sein, von der Erziehung und der Ausbildung bis hin zur Altenpflege, wobei aus der Perspektive von kinderliebenden Paaren auch die Kinder selbst zu ‚Gütern‘ werden, die ‚produziert‘ werden können – man denke nur an die Reproduktionsmedizin – und in die man investieren kann. (Vgl. Masschelein/Simons 2012, S.24) Es gibt kein Bedürfnis, das nicht kapitalisiert werden könnte.

Der unternehmerische Mensch bzw. das unternehmerische Selbst hat eine „produktive und unternehmerische Beziehung zu sich selbst“. (Vgl. Masschelein/Simons 2012, S.21) Er bzw. es organisiert sich und seine Bedürfnisse und seine Beziehungen zur Gemeinschaft zu einer Art Gesamtprodukt, das ihm die größtmögliche Lebensqualität gewährleistet: „In sich selbst sieht sich das unternehmerische Selbst mit verschiedenen Intentionen und häufig gegensätzlichen Anliegen konfrontiert, etwa der Karriere und dem Vergnügen. ... Diese Vielzahl widerstreitender Forderungen und Bedürfnisse macht die Verwaltung zu einer ständigen Aufgabe und erfordert eine Disposition zu ständiger Veränderung. Ein Aspekt dieser Disposition ist es, das Leben selbst als ein Produkt zu betrachten. ... Das Führen eines unternehmerischen Lebens setzt mit anderen Worten die Disposition voraus, das Leben als ein Projekt zu betrachten, eine Disposition, die tatsächlich kein anderes Ziel hat, als sich selbst immer wieder neue Ziele zu setzen.“ (Masschelein/Simons 2012, S.32)

Im Grunde kann man die „Verwaltung“ der „Vielzahl widerstreitender Forderungen und Bedürfnisse“ als eine Art Vertragsverhältnis verstehen, das das unternehmerische Selbst mit sich selbst eingeht. Genau darin besteht seine Selbstkompetenz, wie ja überhaupt der Kompetenzbegriff längst an die Stelle des Humboldtschen Bildungsbegriffs getreten ist. Schon Kinder werden im Schulunterricht dazu angeleitet, sogenannte „Lernverträge“ mit sich selbst abzuschließen, wobei sie anhand von detaillierten, auf ihr jeweiliges Lebensalter zurechtgestutzten Kompetenzrastern ihre eigenen Lernfortschritte bewerten und abhaken können. Außerdem wird ihnen beigebracht, wie man sich „Portfolios“ anlegt, in denen  alles „Wissen“ und alle „Fertigkeiten und Einstellungen“ dokumentiert sind, „über die man verfügt und die man ‚arbeiten lassen‘ kann“, nämlich im Sinne eines Kapitals, das sie sich in ihrer Schulzeit für ihr späteres Berufsleben ansammeln können. (Vgl. Masschelein/Simons 2012, S.39)

Alle diese Maßnahmen, mit denen schon unsere Kinder als berechenbare und transparente Vertragspartner imaginiert werden, versteht man im ur-pädagogischen Sinne als emanzipatorisch, als Erziehung zur Mündigkeit. In unübertreffbarer Weise haben Masschelein und Simons diese Wortverdrehung und Sprachverwirrung am Beispiel einer ökonomistischen Karikatur von Kants berühmter Aufklärungsformel zum Ausdruck gebracht, die ich hier gerne etwas ausführlicher zitieren möchte:
„Unternehmerisch sein ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unproduktivität. Unproduktivität ist das Unvermögen, sich seines menschlichen Kapitals ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unproduktivität, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel an Humankapital, sondern am Mangel an Entschlossenheit und Mut liegt, sich seines Humankapitals ohne Leitung eines anderen zu bedienen. ‚Wage es, das Selbst zu mobilisieren!‘ ‚Habe den Mut, dich deines eigenen Kapitals zu bedienen!‘ ist also der Wahlspruch des Unternehmertums.“ (Masschelein/Simons 2012, S.84f.)
So versteht sich das Unternehmertum als der letzte Schritt in einer ganzen Reihe von Befreiungsschritten, die aus dem Mittelalter heraus in die aufgeklärte Moderne geführt haben. Es versteht sich als das „Abstreifen des letzten ‚Mancipiums‘“, als „E-manzipation“ in Richtung auf das „Erwachsensein“. (Vgl. Masschelein/Simons 2012, S.85)

„Selbstreguliertes Lernen“, wie es als eine der Basiskompetenzen, als Lernkompetenz, seit der ersten PISA-Studie (2000) durch die Klassenzimmer geistert, bedeutet deshalb immer auch ‚selbst produzieren‘, Unternehmer seiner selbst sein, also das eigene Leben zu produzieren: „Die einzusetzende Arbeitskraft wird so eigentlich zu einer Lern-Kraft. Ihre Produktivität und ihr Wert liegt eben in ihrer Fähigkeit, völlig unterschiedliche Inhalte zu verarbeiten. Die Lern-Kraft produziert mit anderen Worten den Mehrwert, den das Kapital und der Reichtum konstituieren. Lernstrategien und Problemlösungsstrategien werden als grundsätzlich für das Leben und Lernen in einer Wissensgesellschaft objektiviert, einer Gesellschaft, in der Wissen einen produktiven Wert besitzt.“ (Masschelein/Simons 2012, S.66)

In einer Bildung, die an Kompetenzrastern entlang standardisiert und modularisiert wird, wird nicht mehr etwas gelernt, im Sinne eines referentiellen Dreiecks, das Gemeinschaften stiftet (vgl. meinen letzten Post), sondern es wird ein „Lernvermögen“ (Lernkompetenz) entwickelt und stimuliert, „das relativ unabhängig von einem spezifischen Inhalt ist“ (vgl. Masschelein/Simons 2012, S.66) und gerade deshalb netzwerktauglich macht: „Die Rede von den Kompetenzen siedelt sich solcherart zwischen dem unternehmerischen Selbst und der Umgebung bzw. dem Netzwerk an ...“ (Masschelein/Simons 2012, S.38) – In diesen Netzwerken würde eine allzu spezifische Orientierung an Inhalten nur die Beweglichkeit (vgl. Masschelein/Simons 2012, S.26, 51, 55 u.ö.) und die „employability“ (Masschelein/Simons 2012, S.38), die das höchste Gut in Netzwerkumgebungen darstellen, unnötig einschränken.

Schulen, die den solchermaßen unternehmerisch lernenden Schülern Unterricht anbieten, sind selbst wiederum „unternehmerische Schulen“, die sich in einer Marktumgebung bewegen, also mit anderen Schulen konkurrieren. Sie haben  „nicht nur ein Auge auf die effiziente und effektive Verwendung ihrer Mittel, sondern auch (und vor allem) auf die Qualität ihrer produktiven Praktiken. Was produziert wird (der output) und wie dies geschieht (der process), muss Charakteristika aufweisen oder Standards genügen, die von den Bedürfnissen der Nachfrageseite abgeleitet werden (und eine ‚unternehmerische Gesellschaft‘ kann dies auch erwarten).“ (Masschelein/Simons 2012, 62f.)

Wie die Klammer am Schluß des Zitats andeutet, haben diese unternehmerischen Schulen nicht nur die Schüler selbst als Kunden, sondern auch die Gesellschaft, für die wiederum die Schüler – bzw. deren employability – das Produkt bildet, das die Schule für sie ‚produziert‘. In der Schule als Unternehmung haben wir also die unternehmerischen Schüler, die der Schule das modularisierte Produkt ‚Unterricht‘ bzw. ‚Bildung‘ abkaufen, um daraus ein individuelles Bildungsgut zu ‚produzieren‘, während diese Schüler selbst wiederum ein weiteres Produkt der Schule bilden, das ihr von der unternehmerischen Gesellschaft – z.B. in Form finanzieller Zuweisungen durch den Staat – ‚abgekauft‘ wird.

Damit nicht genug sollen sich auch die Lehrkräfte in der unternehmerischen Schule selbst als Unternehmer verstehen, die sich nach der Formel „der nachfolgende Lernprozess ist ein Kunde“ wechselseitig die Schüler von einer Unterrichtsstunde in die nächste übergeben: „Der Output oder die Dienstleistung der einen unternehmerischen Lehrkraft dient schließlich als Input für die nächste Lehrkraft.“ (Masschelein/Simons 2012, S.65)

Ich glaube nicht, daß dieses Bewußtsein im pädagogischen ‚Betrieb‘ wirklich bis zu allen in der Schulpraxis stehenden Pädagogen vorgedrungen ist. Trotz zahlreicher Weiterbildungen, in denen sie mit den jeweils neuesten ‚Unterrichtstechniken‘ bekannt gemacht und in ihnen geübt werden, sind die herkömmlichen pädagogischen, humanistisch geprägten Begrifflichkeiten den neuen Etikettierungen einfach zu ähnlich, so daß viele nach wie vor glauben, in einer kontinuierlichen pädagogischen Tradition zu stehen. Lehrplanreformen hat es einfach zu oft gegeben, als daß die aktuellen Bildungsstandards und Kompetenzraster wirklich als ein Bruch mit dem Bisherigen wahrgenommen werden könnten.

Weiterhin wird im Alltag und auf Weiterbildungen mit dem herkömmlichen reformpädagogischen Begriffsinventar gearbeitet und – wie schon erwähnt – aneinander vorbeigeredet. Außerdem sind die Kompetenzrastermodelle im Detail so exzessiv ausgearbeitet, daß ein normal intelligenter Mensch die verschiedenen Minikompetenzen mit ihren Differenzierungen nach Lebensaltern und Jahrgangsstufen kaum auseinanderhalten, geschweige denn mit ihnen arbeiten kann.

Auch hier wäre den Kolleginnen und Kollegen in der Schulpraxis schon aus Gründen der Arbeitserleichterung die schlichte Widerstandsformel von Masschelein und Simons zu empfehlen, einfach nicht mitzumachen. (Vgl. Masschelein/Simons 2012, S.120)

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Montag, 19. August 2013

Jan Masschelein/Maarten Simons, Globale Immunität oder Eine kleine Kartographie des europäischen Bildungsraums, Zürich 2012

1. Das ausgesetzte Kind
2. Pädagogik und Emanzipation
3. Gemeinschaft als Netzwerk
4. Gemeinschaft als Last
5. Was sich manifestiert

Das zweite Buch von Jan Masschelein und Maarten Simons, „Globale Immunität“ (2012), habe ich als erstes gelesen. Dabei habe ich sehr unter der Lektüre der ersten knapp 80 Seiten gelitten. (Das ganze Buch umfaßt zusammen mit dem Literaturverzeichnis 126 Seiten.) Der Antihumanismus des Bildungskonzepts der unternehmerischen Universität erschreckte mich, und ich verlangte sehnsüchtig nach einer entsprechenden Positionierung der beiden Autoren, die sie aber beharrlich verweigerten. Fast hätte ich frustriert und verärgert die Lektüre abgebrochen.

Obwohl es in ihrem Buch genau um jenes schleichende Gift eines das Denken und Leben der Menschen infiltrierenden Kapitalismus geht, der auch noch ihre individuelle Selbstverwirklichung in den Dienst des Selbstverwertungsinteresses des Geldes stellt, wollen Masschelein und Simons ausdrücklich nicht auf Begriffe wie „Kolonialisierung“ und „Ideologie“ zurückgreifen. (Vgl. Masschelein/Simons 2012, S.9, 34) Stattdessen sprechen sie von einem „Regime“, das eine Art des Denkens und Sprechens bezeichnen soll, die sich als eine „operativ und effektiv wirksame Realität“ erweist. (Vgl. Masschelein/Simons 2012, S.9) – Das aber, so dachte ich, ist doch eigentlich genau das, was eine Ideologie ausmacht!

Masschelein und Simons weigern sich aber nicht nur, in Begriffen wie „Kolonialisierung“ und „Ideologie“ zu denken. Sie erklären sie sogar grundsätzlich für veraltet, weil sie nur „innerhalb der Konturen des Sozialstaates“ sinnvoll verwendet werden konnten, und den gibt es eben nicht mehr. (Vgl. Masschelein/Simons 2012, S.45) Auch über diese historische Aburteilung des Sozialstaats ärgerte ich mich enorm, weil ich damit die Zumutung verband, auch das Anliegen des Sozialstaats als überholt hinnehmen zu müssen.

Kurz gesagt: ich verhielt mich beim Lesen der ersten 80 Seiten ihres Buches wie jener „Typus des kritischen Intellektuellen“, dem die beiden Autoren vorwerfen, mit seiner Kritik am ökonomischen System „eher ein Teil des Problems als eine Lösung“ zu sein. (Vgl. Masschelein/Simons 2012, S.119) Im Grunde macht nämlich dieser kritische Intellektuelle mit seinen Aufrufen und Appellen nichts anderes als das „Regime“, bzw. in seinen Worten: die „Ideologie“, die er kritisiert. Auch er adressiert mit seinen Appellen nur den seiner selbst bewußten, zur Parteinahme befähigten Erwachsenen. Das beinhaltet Masschelein und Simons zufolge aber eine weitere Unterwerfung: diesmal nicht unter das ökonomische, sondern unter ein humanes Tribunal. (Vgl. ebenda)

Auch an dieser Stelle konnte ich das Anliegen der beiden Autoren immer noch nicht nachvollziehen. Was haben sie gegen die Humanität, und wieso gehen sie sogar so weit, das mit ihr verbundene Anliegen als ein Tribunal zu diffamieren? Dabei hätte ich nur an John Lockes schwarze Pädagogik zu denken brauchen, um zu verstehen, daß auch der Humanismus ein Tribunal sein kann. (Vgl. meinen Post vom 16.03.2012)

Statt die Dinge klar beim Namen zu nennen und Position zu beziehen, so erschien es mir, verwenden sie lieber ein so nebulöses Wort wie „Regime“, das all die sonstigen begrifflichen Funktionen des Ideologiebegriffs zwar übernimmt, aber an den damit verbundenen gesellschaftlichen und historischen Phänomenen wie um unter der Wasseroberfläche verborgene Riffe herum manövriert. Auch der Lebensweltbegriff wird nicht verwendet, denn mit der Lebenswelt müßte ja die „Ökonomisierung des Sozialen“ (Masschelein/Simons 2012, S.34. 45f., 82f.u.ö.) als Kolonisierungseffekt beschrieben werden. Statt also von der Lebenswelt als einem „Raum der Gründe“ (vgl. meinen Post vom 22.02.2013) sprechen Masschelein und Simons lieber vom Regime als einem „diskursiven Horizont“: „Eine umfassende und detaillierte Beschreibung dieses diskursiven Horizonts und der mit ihm zusammenhängenden Techniken können wir hier nicht leisten, doch gehen wir davon aus, dass sie in gewisser Hinsicht inzwischen nur allzu bekannt sind. Genauso setzen wir voraus, dass sie ‚real‘ und in unserem gegenwärtigen Lebenszusammenhang wirksam sind.“ (Masschelein/Simons 2012, S.13)

Es geht beim „Regime“ also ganz offensichtlich um die Lebenswelt und ihre Kolonialisierung, um das also, was ein anderer kritischer Intellektueller wie Wolfgang Streeck als eine „neoliberale“ Umerziehung des Staatsvolks zum Marktvolk beschreibt. (Vgl. meinen Post vom 06.08.2013) Warum also verweigern sich Masschelein und Simons einer solchen Parteinahme?

Die Antwort liegt in einer Richtung, die ich schon in meinem Post vom 08.08.2013 angedeutet habe, ohne dabei schon so genau zu wissen, was diese Antwort impliziert. Dabei ging es mir um die Frage nach dem revolutionären Subjekt, das noch in der Lage ist, dem Selbstverwertungsinteresse des Geldes Widerstand zu leisten. Wolfgang Streeck appelliert an den national konstituierten Staatsbürger, der sich der fortschreitenden Entmündigung durch den europäischen Konsolidierungsstaat widersetzen soll. Christina von Braun setzt auf die Frauen, die, wie sie hofft, aufgrund ihrer historisch andersartig vermittelten Leiblichkeit in der Lage sind, sich dem Selbstverwertungsinteresse des Geldes zu entziehen. Beide gleichen sich darin, daß sie sich mit ihren Appellen an den Erwachsenen richten. Ich selbst habe als mögliches revolutionäres Subjekt die Eltern ins Spiel gebracht, dachte dabei aber auch eher an Erwachsene, die sich für die Zukunft ihrer Kinder einsetzen.

Masschelein und Simons zufolge haben alle diese kritischen Positionen mit der Ökonomie genau dies gemeinsam. So wie diese kritischen Positionen unterstellt auch die Ökonomie immer schon das Erwachsensein und damit die Verhandlungsfähigkeit und die Selbstausbeutungsfähigkeit des Menschen. Alle, die ‚Guten‘ wie die ‚Bösen‘, wenden sich also an die Erwachsenen. Nicht so Masschelein und Simons. Sie nämlich verstehen sich genau als die Eltern, die ich in meiner kritischen Bezugnahme für die Zukunft ihrer Kinder verantwortlich machen wollte. Allerdings verstehen sie diese Verantwortlichkeit völlig anders, als ich sie mir vorgestellt hatte.

Masschelein und Simons verstehen ihre Verantwortung als Eltern für ihr Kind nicht als eine Parteinahme gegen die Ökonomisierung des Sozialen, weil sie sich damit schon auf die Ebene dieser Ökonomie begeben und eben mit dieser Parteinahme genau das verloren geht, was sie eigentlich verteidigen wollen bzw. sollen. Das Kind ist kein Vertragspartner, und deshalb sind auch seine Eltern, die diesem Kind etwas schuldig sind, keine Vertragspartner: „Jeder, der in pädagogische Beziehungen eingebunden ist, ‚weiß‘, dass es nicht möglich ist, über diese Beziehungen nur im Sinne von Verträgen zu sprechen.“ (Masschelein/Simons 2012, S.110)

Wer Verträge eingeht, etwa bei der Kompromißbildung zwischen dem Ökonomischen und dem Sozialen –  eine Kompromißbildung, die sich zwangsläufig immer auch in eine weitere Steigerung des Profits ‚ummünzt‘ –, weiß, was er dem Vertragspartner ‚schuldig‘ ist. Seine Schuld läßt sich berechnen. Sie ist transparent. (Vgl. Masschelein/Simons 2012, S.32f., 84f.) Es gibt aber eine Schuld, die nicht berechenbar und nicht transparent ist. Die sich nicht in Verträgen festhalten läßt. Verträge zu machen, bedeutet deshalb immer auch, sich gegen diese nicht berechenbare Schuld immun zu machen: „Immunisierung bedeutet, genau zu bestimmen und (am liebsten vertraglich) festzulegen, was wir gemeinsam haben und was wir einander schuldig sind. Es bedeutet das Festlegen der Grenzen der Gemeinschaft und der Person ...“ (Masschelein/Simons 2012, S.101f.)

Ein Kind zu sein, bedeutet aber genau dieses Nicht-Berechenbare, dieses Ausgesetztsein, für das es keine Worte gibt und das deshalb auch in keinen Verträgen berücksichtigt werden kann. Für dieses nicht-berechenbare Kind verantwortlich zu sein, bedeutet für die Eltern, eine Schuld zu übernehmen, von der sie nicht wissen können, was das für sie bedeutet: „Dass wir es nicht wissen können, verhindert nicht, dass wir uns verantwortlich fühlen. Es verhindert nicht, dass wir in der Beziehung verpflichtet sind und uns darin engagieren. Darum zeigt es eben, dass derartige Beziehungen nicht von unserem Wissen abhängig sind oder von unserem Erkennen oder Anerkennen des Wissens, oder zumindest, dass sie von etwas anderem als formulierbarem Wissen und benennbaren Bedürfnissen abhängen. Dass wir den anderen etwas schulden, bedeutet nicht, dass wir genau wissen, welcher Art und welchen Inhalts diese Schuld ist: Unser Schuldig-Sein ist losgelöst von derartigem (transparentem) Wissen.“ (Masschelein/Simons 2012, S.111)

Das ist der Grund, warum Masschelein und Simons nicht von Ideologien und auch nicht von einer Kolonialisierung der Lebenswelt sprechen wollen, sondern vom „Regime“. Mit diesem eher schwammigen, begrifflich weniger klar konturierten Begriff wollen sie sich den ökonomischen und humanistischen Diktaten von „‚wahr‘ oder ‚falsch‘“ entziehen. (Vgl. Masschelein/Simons 2012, S.22f.)

Das Vorgehen der beiden Autoren erinnert mich zum einen an Blumenberg mit seiner Theorie der Unbegrifflichkeit, einer Unbegrifflichkeit, die ja ebenfalls dazu dient, Phänomene zu beschreiben, die sich den Begriffen entziehen. (Vgl. meine Posts vom 06.09.-10.09.2011) Zum anderen erinnert mich das, was die beiden Autoren die ‚Kindheit‘ nennen, an das Noli-me-tangere, als das Plessner die Seele beschreibt. Masschelein und Simons sprechen in diesem Zusammenhang immer wieder von einem „Unrecht“, das sich manifestieren will. (Vgl.u.a. Masschelein/Simons 2012, S.106) Dieses „Unrecht“ läßt sich nicht vorhersehen und nicht steuern, weil es eben genau das ist, was sich aller Vorhersehung und Steuerung immer schon entzieht. (Vgl. Masschelein/Simons 2012, S.94) Dieses gleichzeitige Ausgesetztsein und sich Manifestieren einerseits wie auch andererseits diese Nicht-Greifbarkeit, Nicht-Berührbarkeit, Nicht-in-Worten-Ausdrückbarkeit ist genau das, was Plessner als Seele bezeichnet.

Wenn dies die Verantwortung der Eltern ist, dann leisten sie tatsächlich in ihrem „Mit-sein“ (Masschelein/Simons 2012, S.106) mit ihren Kindern einen Widerstand, den Masschelein und Simons auf die einfache Formel bringen: „Widerstand könnte darin bestehen, schlichtweg andere Dinge zu tun.“ (Masschelein/Simons 2012, S.120)

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Sonntag, 18. August 2013

Jan Masschelein/Maarten Simons, Jenseits der Exzellenz. Eine kleine Morphologie der Welt-Universität, Zürich 2010

1. Von der Bildungsuniversität zur Welt-Universität
2. Exzellenz statt Kultur
3. Ein ortloser Standort

Die unternehmerische Universität, die ich im letzten Post besprochen habe, bildet das aktuelle, im Dienst eines ungebremsten Wirtschaftswachstums stehende Projekt des europäischen Bildungsraums. Masschelein und Simons machen sich nun daran, eine Alternative zu dieser unternehmerischen Universität zu konzipieren, die sie als „Welt-Universität“ bezeichnen. Diese Welt-Universität erinnert in vielem an das Humboldtsche Bildungskonzept, das allerdings bei der Gründung der nach ihm benannten Universität nicht vollständig – und im Laufe der Zeit immer weniger – umgesetzt wurde. Das gilt übrigens auch insgesamt für die von ihm angestoßenen und von seinen Nachfolgern fortgesetzten preußischen Bildungsreformen.

Ich möchte deshalb gleich zu Beginn dieses Posts auf einige wesentliche Punkte in Humboldts Bildungskonzept hinweisen, die in die Richtung der von Masschelein und Simons beschriebenen Welt-Universität deuten. Humboldt dachte sich die Universität nicht als einen Bestandteil der Berufsausbildung, sondern der Allgemeinbildung, die er als vollständige Menschenbildung kennzeichnete. Professoren und Studierende sollten sich als Gleiche gegenübertreten, die sich lediglich durch das geringere und höhere Lebensalter voneinander unterscheiden sollten. Die Professoren sollten von der unbefangenen Weltoffenheit der Studierenden profitieren, und die Studierenden sollten von der Erfahrung und dem Wissen der Professoren profitieren. (Vor dem Hintergrund der unternehmerischen Universität fällt es mir allerdings schwer, das Wort ‚profitieren‘ zu verwenden.)

Das eigentliche Studium sollte in der einsamen und freien Auseinandersetzung der Studierenden am Gegenstand und am Text stattfinden. Auf dieser Grundlage sollten Studierende dann mit anderen Studierenden und den Professoren in Vorlesungen und „Collegien“ zusammentreffen und sich dort über die gewonnenen Einsichten austauschen. Wann das Studium beendet war, sollten die Studierenden selbst bestimmen. Für das Ende des Studiums war kein ‚Reife‘-Zeugnis vorgesehen, weil die Professoren den Studierenden gleichgestellt waren und sie deshalb auch nicht bewerten konnten.

Wenn man sieht, was aus dieser Universitätsidee im Laufe des 19. und des 20. Jahrhunderts geworden ist, kann es einen angesichts eines so ähnlichen Konzepts, wie es Masschelein und Simons vorstellen, zur Vorsicht mahnen. Allerdings ist es gerade deren Desinteresse gegenüber den widrigen Marktbedingungen, das die Besonderheit ihres Konzepts ausmacht. Masschelein und Simons argumentieren nicht strategisch, sondern im Dienste einer Sache, die sich strategischer wie taktischer Zugriffe entzieht. Im Dienste dieser Sache etwas aus dem Scheitern der Humboldtschen Universitätsidee ‚lernen‘ zu wollen, würde bedeuten, diese Sache von vornherein verloren zu geben.

Dennoch unterscheidet sich ihr Konzept einer Welt-Universität von der Humboldtschen Bildungsuniversität. Masschelein und Simons behalten der Welt-Universität eine besondere raumzeitliche Struktur vor, die sie als „Heterotopie“ und als „Heterochronie“ kennzeichnen. Insbesondere der Begriff der Heterochronie macht hier die entscheidende Differenz zur Bildungsuniversität. Humboldt hatte in der Tat die Menschheitsgeschichte als eine Fortschrittsgeschichte konzipiert, mit einem in die Zukunft gerichteten Zeitpfeil, der immer weiter von der ‚Natur‘ wegführt. Allerdings hatte Humboldt selbst schon eine ‚Brechung‘ dieses Zeitpfeils zumindestens angedacht, insofern er diese Fortschrittsgeschichte – ‚fort‘, also ‚weg‘ von der Natur – als eine Entfremdungsgeschichte darstellte: je weiter die Menschheit sich von der Natur wegentwickelt, um so größer die Entfremdung und eben deshalb um so nötiger die Bildung, um die eigene Menschlichkeit zu bewahren.

Der auf die Zukunft gerichtete Zeitpfeil war also ein prekärer und deshalb eben ein ‚gebrochener‘ Zeitpfeil. In meinem letzten Post war davon die Rede gewesen, wie die unternehmerische Universität den Zeitpfeil zu einem „Zirkel der Exzellenz“ gekrümmt hat. Die Welt-Universität bricht Masschelein und Simons zufolge diesen Zeitpfeil nun vollständig und hebt damit im Grunde genommen jede Zeitbestimmung auf. Die Hörsäle der Welt-Universität werden zu einem „Ereignisraum“, der die Menschen „in der Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft“ versammelt. (Vgl. Masschelein/Simons 2010, S.66) Die Zeit wird auf diese Weise „verlangsamt“ und wird zur „freien Zeit“, die dem zögernden Denken ‚Raum‘ gibt. (Vgl. ebenda)

Der Raum selbst wird aufgehoben und zur „Heterotopie“ (Masschelein/Simons 2010, S.63ff.), ein Begriff der mich an die Plessnersche exzentrische Positionalität erinnert. Die Raum der unternehmerischen Universität ist ein positionierter Raum, ein Raum der mittels eines globalen Positionssystems Positionen verteilt und diese zueinander in Beziehung setzt. (Vgl. Masschelein/Simons 2010, S.37) Der ‚Raum‘ der Welt-Universität ist hingegen ein ortloser Standort, eine Raumzeit, „wo Leute ohne klare Position sind“. (Vgl. Masschelein/Simons 2010, S.59) Was sie sich versammeln läßt, sind nicht ihre spezifischen Bedürfnisse und Interessen, also das, was das unternehmerische Individuum als sein „Humankapital“ versteht. Es geht ihnen nicht um das an Marktumgebungen anpaßbare und ausbeutbare Lernen, das sich im „Zirkel der Exzellenz“ (Masschelein/Simons 2010, S.34f.) zu einem „Kreis des Lernens“ schließt und in eine „endlose solipsistische Reise der Kapitalisierung des Lebens“ führt (vgl. Masschelein/Simons 2010, S.38), sondern es geht ihnen beim Lernen schlicht und einfach um etwas (vgl. Masschelein/Simons 2010, S.55). Kurz gesagt: sie sind interessiert.

Die Professoren und die Studierenden haben in der Welt-Universität keine Interessen. Dafür sind sie aber interessiert. Die von der Welt-Universität konstituierte Gemeinschaft bildet kein Netzwerk, das in sich selber zirkuliert und nur an seiner Selbstoptimierung interessiert ist, sondern sie wird von einem Gegenstand, von einer Sache konstituiert, um die herum sich Professoren und Studierende versammeln. Die Gemeinschaft bildet ein referentielles Dreieck.

Masschelein und Simons interpretieren diese Weltgemeinschaft vom lateinischen ‚communis‘ her, in dem das Wort ‚munus‘ steckt, was so viel wie ‚Last‘ und ‚Aufgabe‘ bedeutet. (Vgl. Masschelein/Simons 2010, S.64f.) Darin steckt auch die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, und zwar Verantwortung für einen ‚gemeinsamen‘, die Gemeinschaft sozusagen stiftenden Gegenstand: „Ein Thema, das Nachdenken provoziert und eine Sache in einen Gegenstand des öffentlichen Nachdenkens verwandelt, wirft allerdings sofort die Frage auf, wie man angesichts des Themas zusammenleben soll.“ (Masschelein/Simons 2010, S.65)

Den Gegenbegriff zu dieser „Kom-munisation“ (Masschelein/Simons 2010, S.64) bildet der Begriff der Immunisierung: „Immunisierungsstrategien installieren klare Aufteilungen, Hierarchien und Rollen und halten einen davon ab, sich zu exponieren, oder verhindern, dass eine Sache zum Thema wird.“ (Masschelein/Simons 2010, S.65) – Die unternehmerische Universität bildet eine einzige solche Immunisierungsstrategie.

Sich gemeinsam und gemeinschaftlich um eine Sache herum zu versammeln, bedeutet, daß vor dieser Sache alle zu Gleichen werden. Anstatt ihre Unterschiede zu pflegen, zu fördern und schließlich zu kapitalisieren, wie in der unternehmerischen Universität, setzen sich alle gleichermaßen einer Sache aus, die der Professor, nicht als Experte, sondern als „Amateur“, also als Liebhaber, in den (heterotropen) Raum stellt. (Vgl. Masschelein/Simons 2010, S.70) Indem der Professor die Sache in den Raum stellt und sich ein interessiertes Publikum nicht um ihn, sondern um diese Sache herum versammelt, wird die Welt-Universität geschaffen. (Vgl. Masschelein/Simons 2010, S.69) Sie konstituiert sich als öffentlicher Raum, durch den „öffentliche(n) Gebrauch der Vernunft“ (ebenda), als Bekenntnis und als Vorlesung (vgl. Masschelein/Simons 2010, S.69f.): „In der Vorlesung spricht man in Gegenwart eines Publikums über Dinge von Belang. ... unter der Voraussetzung der Gleichheit aller in Hinblick auf die Deutung und Bewertung dessen, was im Spiel ist.“ (Masschelein/Simons 2010, S.57f.)

Diese durch die Sache gestiftete Gleichheit der um sie versammelten Gemeinschaft beinhaltet Masschelein und Simons zufolge einen „Akt der Profanierung“, wobei sie eine interessante, von Foucault inspirierte Umdeutung der Begriffe des Heiligen und des Profanen vornehmen. Als ‚heilig‘ bezeichnen sie alles, was in seiner Bedeutung für bestimmte Interessen, Machtinteressen, religiöse Interessen, unternehmerische Interessen etc. festgelegt ist, also als eine bestimmte Art und Weise zu denken oder zu sprechen. Als ‚Profanierung‘ bezeichnen sie eine Freisetzung des Denkens und Sprechens, in denen es jetzt nur noch um die Sache geht: „In der Tat, eine Sache in den Raum zu stellen schließt einen Akt der Profanierung mit ein. Tatsachen und Ressourcen werden zu Themen und möglicherweise zu Dingen von Belang, indem Worte und Dinge von bestimmten Verwendungen und spezifischen Interessen losgelöst und sozusagen frei zu jedermanns Verfügung gestellt werden. ... während der Vorlesung enthüllt etwas seinen öffentlichen Belang, das heißt es enthüllt die Frage, wie wir mit ihm leben und uns ihm gegenüber verhalten wollen.“ (Masschelein/Simons 2010, S.58)

Das Heilige ‚immunisiert‘ uns gegenüber dem Anspruch der Sache und sorgt dafür, daß wir unsere Individualität, unsere Identität, unser ‚Humankapital‘ bewahren. Die Profanierung hingegen setzt uns dem Anspruch der Sache aus und macht uns alle ihr gegenüber gleich. Und weil wir uns nun unweigerlich der Frage stellen müssen, wie wir mit dieser Sache, in der „stets die eigene Position auf dem Spiel steht“ (Masschelein/Simons 2010, S.72), zusammenleben wollen, beinhaltet die Welt-Universität nicht nur ein egalitäres, sondern auch ein experimentelles Ethos (vgl. Masschelein/Simons 2010, S.40f., 70ff.), ein im genuinen Sinne pädagogisches Experiment. Wir müssen, so Masschelein und Simons, „wenn wir Hörer einer Vorlesung sind, wir selbst und unsere Beziehungen zu diesen Dingen auf dem Spiel stehen“, beginnen, „für uns selbst zu sehen und zu denken“. (Vgl. Masschelein/Simons 2010, S.67f.)

Deshalb beinhaltet die Welt-Universität trotz ihrer Ortlosigkeit letztlich doch auch eine Standortbestimmung, eine Positionierung gegenüber der unternehmerischen Universität: „Wir sind kein Humankapital, keine Gemeinschaft der Lernenden, keine Unternehmer, sondern Studierende und Professoren.“ (Masschelein/Simons 2010, S.74)

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Samstag, 17. August 2013

Jan Masschelein/Maarten Simons, Jenseits der Exzellenz. Eine kleine Morphologie der Welt-Universität, Zürich 2010

1. Von der Bildungsuniversität zur Welt-Universität
2. Exzellenz statt Kultur
3. Ein ortloser Standort

In dem Begriff der Bildungsuniversität verbinden Masschelein und Simons Bildung, Kultur und Natur so miteinander, daß Bildung als ein kulturelles Projekt der Naturüberwindung verstanden werden kann. Dabei erscheint die Natur vor allem als Hindernis, als Beschränkung der menschlichen Freiheit, von der man sich ‚emanzipieren‘ muß. (Vgl. Masschelein/Simons 2010, S.17) In diesem Zusammenhang ist an der genannten Stelle direkt von der „Natur“ und an anderer Stelle von der „Kindheit“ die Rede (vgl. Masschelein/Simons 2010, S.17 und S.51), so daß man letztere wohl auch als innere Natur verstehen kann, die über eine „Kultivierung des Charakters“ dem Erwachsenenalter und seinen ‚Freiheiten‘ weichen muß.

Dieser Kultivierungsprozeß beinhaltet also einen Zeitpfeil, der von einer zu überwindenden dunklen Vergangenheit auf eine helle, transparente Zukunft verweist. Dieses „kulturelle Selbstverständnis“ der Bildungsuniversität macht sich Masschelein und Simons zufolge heute niemand mehr zueigen. (Vgl. Masschelein/Simons 2010, S.23) An die Stelle der „Kultur“ ist die „Exzellenz“ getreten, und an die Stelle der Bildungsuniversität die unternehmerische Universität. (Vgl. Masschelein/Simons 2010, S.23-40: 30)

Professoren bilden in der unternehmerischen Universität keine Elite mehr, die über eine höhere Form des Wissens verfügt und deshalb andere, wie z.B. Studierende oder die außeruniversitäre Öffentlichkeit, mit der Autorität von Experten belehren kann, sondern sie werden selbst als Unternehmer verstanden, die eine Nachfrage zu bedienen haben. Professoren sind Manager, die sich mit ihren Unternehmen, den Universitäten, in einer Marktumgebung bewegen, in der die unterschiedlichen Bildungsbedürfnisse von Konsumenten ‚bedient‘ werden müssen: „Von der Universität wird gefordert, sich selbst räumlich in einem Umfeld zu positionieren, sich dauerhaft am Bedarf auszurichten und dabei mit begrenzten Ressourcen auszukommen. Und angesichts dieses Bedarfs und dieser Ressourcen werden eine unternehmerische Haltung und Kreativität zu essentiellen Qualitäten.“ (Masschelein/Simons 2010, S.28)

In so einer Marktumgebung ist für die ‚Kunden‘, also die Studierenden, die sich ebenfalls als Unternehmer verstehen sollen, die in ihre eigene Bildung ‚investieren‘ (vgl. Masschelein/Simons 2010, S.56f.), vor allem der Vergleich entscheidend, mit dessen Hilfe die Qualität des Angebots des jeweiligen Universitätsunternehmens bewertet werden kann. Zu diesem Zweck haben Staaten und überstaatliche Einrichtungen permanente Evaluationssysteme geschaffen. Masschelein und Simons sprechen von einem „Äquivalenz-Raum()“, „in dem der produktive Gebrauch von Ressourcen, und somit alles und jedes, anhand einer einzigen Performanzskala gemessen und beurteilt werden kann. Per Vergleich erhalten die Performanzmessungen und -beurteilungen ihre Aussagekraft und öffnen den Raum für die Erfahrung der Exzellenz. Exzellenzorientierung bedeutet also, dass Universitäten alles nach Maßgabe eines ‚permanenten Qualitätstribunals‘ beurteilen.“ (Masschelein/Simons 2010, S.31)

Es ist also die Exzellenz, die im Äquivalenzraum des Marktes den entscheidenden, weil Profit ermöglichenden Unterschied macht. Die unternehmerischen Studierenden werden diejenigen universitären Angebote ‚kaufen‘, mit deren Hilfe sie ein „Humankapital“ (Masschelein/Simons 2010, S.36f.) produzieren können, das ihre „employability“, also ihre Brauchbarkeit in einer Marktumgebung gewährleistet und so ihr Überleben sichert. Um die Marktumgebung für diese individuellen Bildungsentscheidungen möglichst effektiv zu gestalten, bedarf es eines „globale(n) Positionsbestimmungssystem(s)“ (Masschelein/Simons 2010, S.37), das die ‚Positionen‘ in diesem Äquivalenzraum, also die verschiedenen universitären Angebote übersichtlich ordnet. Wir haben es mit einem globalen Markt zu tun, der den Orientierungsraum auf die ganze Menschheit ausdehnt und für den im Zeichen der Exzellenz regionale Kulturräume nur noch die Funktion haben, einen möglichst profitträchtigen Unterschied zu machen.

Alle sind also auf der Suche nach „Nischen“, sowohl die unternehmerischen Universitäten wie auch die unternehmerischen Studierenden, die ihnen im Vergleich zu ihren Konkurrenten in einer Marktumgebung einen Vorteil verschaffen, weil sie eine spezifische Nachfrage befriedigen, für die sonst niemand oder nur vergleichsweise wenige ein passendes Produkt anbieten: „Der Krieg um Exzellenz setzt also voraus, dass alles und jeder eine Ressource ist und dass Hochschullehrer und Studierende und alle anderen Ressourcen fortwährend und unerbittlich mobilisiert werden, um internationale Exzellenz zu erzielen. Und was dieses Streben nach Exzellenz antreibt, ist Angst.“ (Masschelein/Simons 2010, S.33)

Die Exzellenz wird also durch entsprechende Evaluationsinstanzen einem „permanenten Qualitätstribunal()“ unterzogen, in dem möglichst „alles und jedes, anhand einer einzigen Performanzskala gemessen und beurteilt“ wird. (Vgl. Masschelein/Simons 2010, S.31) Dabei wird das „Streben nach Exzellenz“ von der „Angst vor schlechten Rankings, Fehlwahrnehmungen, negativen Bewertungen, verpassten Gelegenheiten, falschen Entscheidungen“ angetrieben (vgl. Masschelein/Simons 2010, S.33), denn mit der employability steht zugleich auch das Überleben auf dem Spiel: nicht nur in der Marktumgebung, also ökonomisch, sondern – da die Ökonomie ‚globalisiert‘ wurde – auch existentiell.

Die Angst wird so zum Motor des Exzellenzzirkels, das den nach vorn gerichteten Zeitpfeil der Bildungsuniversität zu einer Kreisbewegung gekrümmt hat: „Das Aufkommen unternehmerischer Universitäten, aber ebenso unternehmerischer Hochschullehrer(), Studierender, ja sogar Staaten und Regionen, korreliert mit dem Aufkommen räumlicher Orientierungssysteme oder, um einen eleganteren Ausdruck zu verwenden, mit global positioning systems. ‚Wo stehe ich im Vergleich mit anderen?‘() – das ist die aufreibende Hauptfrage im unternehmerischen System, und die Antwort auf diese Frage versieht den Motor der Innovation mit Treibstoff, der den Zirkel der Exzellenz in Schwung hält.“ (Masschelein/Simons 2010, S.34)

Wir haben es also beim Zirkel der Exzellenz mit einem Feedback-Mechanismus zu tun, das auf sich selbst reagiert. In ihm geht es um die „totale Mobilisierung der Humanressourcen Europas“, die durch ein „(t)otale(s) und permanente(s) Leistungs-Überwachungssystem()“ gewährleistet werden soll. (Vgl. Masschelein/Simons 2010, S.35) Wir wissen aus der Kybernetik, was von solchen positiven Feedback-Schleifen zu erwarten ist. Sie sind höchst instabil und führen zu permanenten ‚Systemabstürzen‘. Es handelt sich dabei um genau den Feedback-Mechanismus, der einem fortdauernden, alternativlosen Wirtschaftswachstum zugrundeliegt. Genau dieses, ein „dauerhaftes Wirtschaftswachstum“ nämlich, soll ja auch durch die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen „Wissensgesellschaft“ gewährleistet werden (vgl. Masschelein/Simons 2010, S.30f.).

In dieser Marktumgebung, in dem die Studierenden ihr Humankapital ‚produzieren‘, um ‚Nischen‘ zu besetzen, die ihnen ihr Überleben gewährleisten, haben wir es letztlich mit ‚Subjekten‘ zu tun, die als ‚Unternehmer‘ ihrer selbst nur noch scheinbar ihre eigenen Interessen verfolgen. Das eigentliche Subjekt, wie ja auch der von den Autoren geprägte Begriff des „Äquivalenzraums“ andeutet – Masschelein und Simons sprechen auch von einer „Währung des Humankapitals“ und einer künftigen „Zentralbank des Humankapitals“ (vgl. Masschelein/Simons 2010, S.37f.) – , ist das Geld und sein Selbstverwertungsinteresse. Im Sinne von Christina von Braun („Der Preis des Geldes“ (2012)) haben wir es mit einem „Geldschleier“ zu tun, der verhindert, daß die Menschen merken, daß sie nur Objekte ihres vom Geld gesteuerten Begehrens sind. (Vgl. meinen Post vom 15.12.2012)

So weit gehen Masschelein und Simons mit ihren Analysen aber letztlich doch nicht, und ich werde auf diese Zurückhaltung in meiner Diskussion zu ihrem zweiten Buch noch eingehen. An dieser Stelle folgt erst noch ein Post zur Welt-Universität.

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Freitag, 16. August 2013

Jan Masschelein/Maarten Simons, Jenseits der Exzellenz. Eine kleine Morphologie der Welt-Universität, Zürich 2010

1. Von der Bildungsuniversität zur Welt-Universität
2. Exzellenz statt Kultur
3. Ein ortloser Standort

In meinem Post vom 05.08.2013 bin ich auf den Zusammenhang von Kapitalismus und Bildung zu sprechen gekommen. Dabei ging es um die Frage, wie es ‚das Kapital‘ entgegen den Prognosen der Kritischen Theorie geschafft hat, die soziale Marktwirtschaft der 1960er und frühen 1970er Jahre auf Kosten der Steuern zahlenden Allgemeinheit nahezu vollständig zu deregulieren, ohne das Vertrauen der Bevölkerung in die endlose Fortsetzbarkeit eines ungebremsten Wirtschaftswachstums zu verlieren. Wolfgang Streeck (2013) stellt die Frage nach der „Strategiefähigkeit“ des Kapitals, kann sie aber nur als allgemeine Tendenz innerhalb „zahlreiche(r) turbulente(r) Prozesse“ mit ihren „vielfältige(n) Ungewissheiten“ rekonstruieren. (Vgl. Streeck 3/2013, S.209)

Die Schwierigkeit liegt darin, daß die sogenannte „Strategiefähigkeit“ des Kapitals nicht etwas mit aktuellen, auf dem öffentlichen ‚Marktplatz‘ ausgetragenen, vom selbstbewußten Bürger beobachteten und bewerteten Auseinandersetzungen zu tun hat. Es geht dabei nicht um im Vier-Jahres-Zyklus von Wahlkämpfen zur Schau gestellte Politik. Wir haben es vielmehr mit lebensweltlichen Prozessen zu tun, die nur im Nachhinein als neoliberale Umerziehungsmaßnahmen (vgl. Streeck 3/2013, S.96) beschreibbar sind und sich auf der Ebene der Zeitgenossen in Form von shifting baselines unmerklich vollziehen (vgl. meinen Post vom 31.03.2011).

Jan Masschelein und Maarten Simons (2010 und 2012) sprechen deshalb von einem „Regime“ (Masschelein/Simons 2012, S.13f.), das die Lebensweltlichkeit der von Streeck erwähnten „Umerziehung“ dahingehend thematisiert, wie über Bildung gedacht und gesprochen wird (vgl. Masschelein/Simons 2012, S.9). Auf ihre beiden Bücher, „Jenseits der Exzellenz“ (2010) und „Globale Immunität“ (2012), werde ich in den folgenden Posts nacheinander eingehen, indem ich sie getrennt voneinander, jedes für sich, diskutiere.

Zunächst also „Jenseits der Exzellenz“: in diesem kleinen, knapp 75 Seiten umfassenden Buch beschreiben Masschelein und Simons zwei historische Phasen und eine bislang bloß konzeptuelle Phase der Universität: die Bildungsuniversität, die unternehmerische Universität und die Welt-Universität. Die Bildungsuniversität läßt sich wohl am prägnantesten mit dem Namen von Wilhelm von Humboldt und seiner Universitätsgründung von 1810 in Verbindung bringen. Auch Masschelein und Simons verweisen auf Humboldts bekannte Zusammenfassung seiner Universitätsidee als „Einsamkeit und Freiheit“. (Vgl. Masschelein/Simons 2010, S.15f.)

Das Bildungskonzept von Humboldt verkürzen Masschelein und Simons mit Bill Readings („The university in ruins“ (1996)) allerdings auf den Begriff der Kultivierung, so daß Bildung zum einen als das „Ganze der Kultur“ und zum anderen als individuelle Charakterbildung verstanden werden kann. (Vgl. Masschelein/Simons 2010, S.16f.) Außerdem geht mit dem Begriff der Kultivierung die Vorstellung von einem Gegensatz, einer Antinomie zwischen Bildung und Natur einher, so daß Bildung als „Emanzipation von der Natur“ erscheint. (Vgl. Masschelein/Simons 2010, S.17)

Bei Humboldt steht Bildung aber nicht in einem Gegensatz zur Natur, sondern in Bezug zur Entfremdung des modernen Menschen von der Natur. Ich beziehe mich hier insbesondere auf seine Ideenschrift zu den Grenzen der Wirksamkeit des Staates (1792). Der Mensch bedarf der Bildung, weil er sich in seiner gesellschaftlichen Entwicklung immer weiter von der Natur entfernt hat. Dabei spielt der Rousseausche Gedanke eine Rolle, daß der Mensch in der Natur noch hatte gut sein können, weil er den verderblichen Einflüssen der Gesellschaft noch nicht ausgesetzt gewesen war. Humboldt hat allerdings einen positiveren Begriff von der Gesellschaft als Rousseau, denn die Gesellschaft bildet bei ihm ein durchaus notwendiges Moment der menschlichen Bildung. Er folgt aber dem Roussauschen Gedanken darin, daß Bildung vor allem ein Mittel der Individuen ist, mit den Folgen der Naturentfremdung in der Gesellschaft umgehen zu lernen. Weil wir uns von der Natur entfremdet haben, brauchen wir also Bildung, und nicht etwa, um uns von der Natur zu emanzipieren. ‚Emanzipieren‘ müssen wir uns vielmehr von den auf gesellschaftlicher Ebene sich auswirkenden, die Individuen bedrohenden Folgen der Naturentfremdung.

Dieser kleine Exkurs schien mir notwendig zu sein, weil das Bildungskonzept, von dem Masschelein und Simons ausgehen, den Eindruck erweckt, als sei Humboldts Universitätsidee, also die Bildungsuniversität, historisch veraltet. Letztlich aber hat Humboldts Bildungsidee viel mehr mit Masscheleins und Simons’ Konzept einer Welt-Universität gemeinsam, als es aufgrund der Darstellung der Autoren scheint.

Der Kultivierungsgedanke, den Masschelein und Simons mit der Bildungsuniversität verbinden, beinhaltet einen „in die Zukunft gerichteten“ Zeitpfeil (vgl. Masschelein/Simons 2010, S.17), also eine spezifische Fortschrittsorientierung, in der das Neue immer besser und auch wahrer ist als das Alte: „Die Bildungsuniversität betrachtet sich selbst als eine Institution, die die Gesellschaft, den Staat, ja die Welt auf den Fortschritt hin orientiert – das heißt, sie garantiert, dass der Wandel in die richtige Richtung verläuft und Fortschritt und Emanzipation mit einschließt.“ (Masschelein/Simons 2010, S.19)

Dabei funktioniert die Bildungsuniversität wie eine „Maschinerie“, „die unentwegt Vergangenheit und Zukunft voneinander trennt, indem sie ‚Tatsachen‘ (matter of fact) im Gegensatz zu bloßen Meinungen, Glaubenssätzen und Dogmen aufzeigt.“ (Vgl. Masschelein/Simons 2010, S.20) – Prägnant formuliert: die Vergangenheit steckt voller Vorurteile und Meinungen, während die Gegenwart die Tatsachen kennt. Ganz ähnlich beschreibt übrigens auch Plessner den wissenschaftlichen ‚Fortschritt‘. (Vgl. meinen Post vom 06.12.2010)

Masschelein und Simons kennzeichnen diese Bildungsuniversität als eine „Elite-Institution“, die „zwischen Intellektuellen und gewöhnlichen Bürgern“ unterscheidet. Der Zeitpfeil ihres Fortschritts ist auf ein „Zeitalter der Vernunft“ und auf ein „ultimatives Ende() der Geschichte“ ausgerichtet. (Vgl. Masschelein und Simons 2010, S.22) Dieses Ethos, so Masschelein und Simons, ist überholt und macht sich heute niemand mehr zu eigen. (Vgl. Masschelein und Simons 2010, S.23)

Das Konzept, mit dem wir es aktuell zu tun haben, ist die unternehmerische Universität. Sie hat den geraden, nach vorn in die Zukunft gerichteten Zeitpfeil der Bildungsuniversität in sich gekrümmt, so daß er jetzt einen sich in sich selbst drehenden Zirkel bildet: den „Zirkel der Exzellenz“. (Vgl. Masschelein und Simons 2010, S.23-40) Auf dieses Universitätskonzept werde ich im folgenden Post eingehen.

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