„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 28. Juli 2013

Edith Stein, Der Aufbau der menschlichen Person. Vorlesung zur philosophischen Anthropologie, in: Edith Stein Gesamtausgabe, hrsg.v. Internationales Edith-Stein-Institut Würzburg, Bd.14: Sachschriften zur Anthropologie und Pädagogik 2, Freiburg/Basel/Wien 2/2010 (1932/33)

1. Christliche Anthropologie
2. Interdisziplinarität
3. Embryogenese als Beispiel einer teleologischen Entwicklungsdynamik
4. Geist und Kraft
5. Expressivität und Exzentrizität

In meinen Posts zu Marcus Knaup war ich auf einen scheinbaren Widerspruch in der Darstellung der menschlichen Ontogenese gestoßen. (Vgl. meinen Post vom 10.07.2013) Bei der Auseinandersetzung mit der Frage, ab welchem Zeitpunkt der Embryo als ‚beseelt‘ bezeichnet werden kann und Anspruch auf den vollen Schutz seiner Menschenwürde erheben kann bzw. ob er von Anfang an in vollem Sinne Mensch ist, spricht Knaup in demselben Absatz einmal davon, daß das „Leben des Menschen“ als „Entwicklungsgang“ beschrieben werden könne und daß es „unangebracht“ sei, vom Menschen „als von einem werdenden menschlichen Lebewesen“ zu sprechen. (Vgl. Knaup 2012, S.460f.)

Dieser Widerspruch wird von Knaup nicht weiter erläutert und aufgelöst. Von Edith Stein her wird er mir jetzt aber verständlich. Ähnlich wie Plessner in den „Stufen des Organischen“ (1928) spricht Edith Stein von einem Gestaltenwandel sowohl im Evolutionsprozeß (Artenbildung) als auch in der individuellen Ontogenese. Entsprechend dem biogenetischen Grundgesetz (1866) von Ernst Haeckel wiederholt die Embryogenese die Stammesgeschichte des Menschen. Der Embryo beginnt als Einzeller und rekapituliert die Stadien des Fisches und des Säugetiers, um schließlich zum Menschen heranzureifen.

Wie Plessner versteht Edith Stein die Evolution des Lebens als einen Stufenprozeß. Die unterste ‚Stufe‘ bilden die Pflanzen, die mittlere ‚Stufe‘ die Tiere und die letzte ‚Stufe‘ – im Plessnerschen Sinne – die Menschen. Bei Edith Stein ist hier aber noch nicht Schluß. Entsprechend ihrer christlichen Anthropologie fügt sie noch weitere Stufen hinzu: die Stufe der Geister und Dämonen und dann noch die letzte Stufe der Gottheit als reinen Geist.

In der Embryogenese haben wir es aber zunächst nur mit den drei Stufen der Pflanze, des Tieres und des Menschen zu tun, wobei Edith Stein mit Aristoteles und Thomas von Aquin bei der untersten Stufe der Embryogenese von einer „Pflanzenseele“ (vgl.u.a. Stein 2/2010, S.54f.; hier insbesondere Stein 2/2010, S.131), bei der zweiten Stufe von einer Tierseele (vgl.u.a. Stein 2/2010, S.54f.) und erst bei der letzten Stufe von einer Menschenseele (vgl.u.a. Stein 2/2010, S.84; vgl. auch Stein 2/2010, S.95) spricht.

Innerhalb des das ganze Leben des Menschen umfassenden „Entwicklungsganges“ schreitet die ‚Entwicklung‘ des Menschen nicht einfach von Stufe zu Stufe fort und läßt dabei gleichzeitig Stufe um Stufe hinter sich. Vielmehr werden die niederen Stufen auf den höheren Stufen bewahrt und wirken sich dort weiterhin auf die Persönlichkeit des Menschen aus. Die Eigenart der Pflanzenseele besteht Edith Stein zufolge in ihrer „Unbewusstheit“: „Ihr ganzes Sein ist darauf gerichtet, das, was sie ist, in sichtbarer Gestalt zu offenbaren, sie ist nicht nach innen aufgebrochen, ist nicht für sich selbst da und lebt nicht in sich selbst. So ist sie in einem ontischen (nicht ethischen) Sinne selbst-los und rückhaltlos offen. ... So ist sie, unbeschadet der Offenheit, mit der sie sich darlebt ..., in eigentümlicher Weise in sich beschlossen.“ (Stein 2/2010, S.41)

Ein weiteres Merkmal der Pflanze, die vertikale Aufrichtung, weist schon über die Pflanze hinaus auf den Menschen voraus: „Es scheint, daß Mensch und Pflanze sich hier in etwas begegnen, was dem Tier fehlt. ... Als Triumph über die Materie erscheint die Aufrichtung auch dort ...“ (Stein 2/2010, S.43)

Der Pflanzencharakter bildet nicht nur das erste Stadium der Embryogenese, sondern taucht auch in einem späteren Lebensalter wieder als dominierendes Merkmal auf: „Er tritt reiner hervor beim Kinde als beim Erwachsenen und auch als beim Jugendlichen. Es ist kein bloßes poetisches Bild, wenn man so gern Kinder mit Blumen vergleicht, sondern hat eine sachliche Grundlage: Wir finden hier noch ein relativ ungebrochenes Sichentfalten und Sichoffenbaren, ein Ruhen in sich selbst.“ (Stein 2/2010, S.44)

Diese Beschreibung des Kindesalters entspricht der von Rousseau in seinem „Emile“ (1762). Rousseau hebt die ‚Stärke‘ des Kindes hervor, die darin besteht, daß seine Bedürfnisse und seine Fähigkeiten noch ausgeglichen sind, weshalb es noch keine Identitätsprobleme hat wie die Jugendlichen. Zugleich ist diese Lebensphase seltsam amoralisch. Richtig und Falsch, Gut und Böse spielen noch keine Rolle in dieser Lebensphase. ‚Mitleid‘ bzw. ‚Empathie‘ treten nur punktuell und spontan auf. Genauso leicht können Kinder grausam und mitleidlos sein.

Doch zurück zu Edith Stein. Das Wesen der Tierseele besteht ihr zufolge in der Empfindsamkeit: „ Der (animalische – DZ) Leib ist empfindender Leib nicht nur, sofern er äußere Reize spürt, sondern er empfindet sich selbst; er ist sozusagen durch und durch empfindender Leib und kontinuierlich empfindend, nicht nur oberflächenhaft und nur, wenn er von äußeren Reizen getroffen wird. Die Empfindsamkeit für äußere Reizet ist ein Aufgebrochensein des animalischen Wesens nach außen, die Empfindsamkeit für sich selbst ist eine Aufgebrochenheit nach innen.“ (Stein 2/2010) S.46)

Die Tierseele ist die eigentliche, ursprüngliche Seele, auch beim Menschen. Sie ist an den Körper gebunden. Sie bildet mit dem Leib eine Leib-Seele-Einheit. (Vgl. Stein 2/2010, S.47) Die Menschseele geht über diese Einheit aus Leib und Seele hinaus, weil sie „Geistseele oder Vernunftseele“ ist. Dieser geistigen Besonderheit der Menschenseele ist „ihre Trennbarkeit vom Leib“ zu verdanken: „Das Leben der Seele ist geistiges Leben: Erkennen, Fühlen, Wollen. Sie öffnet sich darin für anderes geistiges Sein, aus dem ihr Kraft zuströmen kann, und so ist es wohl denkbar, daß sie von daher allein getragen werden kann (besonders wenn wir bedenken, daß unter geistigem Sein auch der unendliche Geist Gottes zu verstehen ist) und des Leibes nicht unbedingt zu ihrer Existenz bedarf.“ (Stein 2/2010, S.128)

Die Menschenseele ist also unsterblich, denn Edith Stein kehrt die Rangordnung zwischen Körper und Seele um. Nicht die Seele bedarf des Körpers, um Seele sein zu können, sondern der Körper bedarf der Seele, um lebendiger Leib sein zu können: „.... es gibt ein reales Verlassen des Leibes im Tode; damit hört der Leib auf, Leib zu sein, und der rein materielle Körper, der noch für eine gewisse Zeit die Gestalt des Leibes behält, die durch die Seele geformt wurde, beginnt zu zerfallen und hört schließlich auch auf, dieser materielle Körper zu sein. Das ist ja gerade eine der Tatsachen, die zu der Auffassung der Seele als Form des Körpers hindrängen. Der Körper ist etwas auch ohne die Seele, aber ist dieser Körper nur durch diese Seele und in der Einheit mit ihr. Darum muß man sagen, daß der menschliche Körper ohne die Seele keine Substanz ist und daß der ganze Mensch eine Substanz ist.“ (Stein 2/2010, S.98)

Während sich also beim geborenen Menschen die verschiedenen ‚Stufen‘ bzw. ‚Seelen‘ in der weiteren Entwicklung des Menschen, die Edith Stein als Bildung beschreibt (vgl. Stein 2/2010, S.78, 80, 91 u.ö.), je nach Lebensalter weiterhin auswirken und seine Persönlichkeit prägen, haben wir es bei der Embryogenese insofern mit einer Besonderheit in seinem „Entwicklungsgang“ zu tun, als die verschiedenen ‚Seelen‘ hier nicht gleichzeitig, sondern erst nach und nach in chronologischer Folge auftreten. Die Phase, in der der Embryo ausschließlich durch seine Pflanzenhaftigkeit bestimmt ist, beschreibt Edith Stein in sehr nüchterner, prosaischer Weise: „Von personal-geistigem Leben ist so wenig etwas festzustellen wie bei einer Pflanze. ... Wenn wir unter Seele ein personal-geistiges Wesen verstehen, so können wir das Vorhandensein einer solchen Seele in diesem Stadium nicht feststellen.“ (Stein 2/2010, S.130)

Die Darstellung dieser Phase in der Embryogenese entspricht ganz und gar dem Entwicklungsgedanken, nach dem die verschiedenen Qualitäten des menschlichen Bewußtseins zugleich verschiedene Ebenen bzw. Module des Bewußtseins bilden und unabhängig voneinander entstehen, wie sie auch unabhängig voneinander – aufgrund von Krankheit, Unfällen oder im Prozeß des Sterbens – ausfallen bzw. wieder ‚verlöschen‘ können. Die in dieser Hinsicht empfindlichste Bewußtseinsebene bildet Damasio zufolge das erweiterte Bewußtsein, also das im vollen Sinne menschliche Bewußtsein. Es ist eben nicht die Geistseele, die den Körper ‚überlebt‘, sondern es ist der Körper, der noch vegetieren kann, wo das Bewußtsein längst geschwunden ist.

Auch Edith Stein formuliert Sätze, die dieser Einsicht nahekommen, „(d)aß der Mensch nicht ‚fertig‘ zur Welt kommt, sondern sich während der Dauer seines Lebens in einem beständigen Umwandlungsprozeß aufbauen und immer wieder erneuern muß, ohne einen festen Endzustand zu erreichen ...“. (Vgl. Stein 2/2010, S.112) – Das klingt so, als träten die Bewußtseinsqualitäten in einem „beständigen Umwandlungsprozeß“ nach und nach zum Menschen hinzu, im Sinne einer Supervenienz. (Vgl. meine Posts vom 12.07. und vom 14.07.2013) Wir hätten es auch in der individuellen Ontogenese – ähnlich der biologischen Phylogenese – mit einem offenen Entwicklungsprozeß zu tun, in dem in jeder Phase etwas vorher noch nicht Dagewesenes, etwas Neues entsteht, das zu den früheren Entwicklungsphasen ‚hinzukommt‘ und neue Freiheitsräume eröffnet.

Aber Edith Stein versteht den von ihr beschriebenen „Entwicklungsgang“ anders. Sie hält unmißverständlich fest: „Ich möchte weder von einem Hinzutreten der animalischen Form zur organischen (d.h. pflanzlichen – DZ) noch von einer Ablösung der einen durch die andere sprechen, sondern von einem Entweder – Oder. Das Individuum ist von vornherein Pflanze oder Tier, nicht erst das eine und dann das andere.“ (Stein 2/2010, S.132)

Wir haben es also Edith Stein zufolge nicht mit einem Hinzukommen verschiedener Bewußtseinsqualitäten in der Embryogenese zu tun, erst Pflanzenseele, dann Tierseele, dann Menschenseele; und der Embryo ist auch nicht erst Pflanzenseele, die er dann hinter sich läßt, um jetzt Tierseele zu sein, die er dann ebenfalls hinter sich läßt, um schließlich endgültig Menschenseele zu sein. In der Embryogenese ist das ‚Individuum‘ vielmehr zunächst analog zur Pflanze Pflanzenseele und nichts anderes. Die Tierseele tritt hier noch nicht in Erscheinung. Wenn dann die Phase in der Embryogenese beginnt, in der das ‚Individuum‘ der Tierseele analog ist, ist dieses ‚Individuum‘ wiederum nichts anderes als diese Tierseele, ohne daß diese Tierseele allerdings die Pflanzenseele ‚ablöst‘ und hinter sich läßt. Die Pflanzenseele ist vielmehr immer schon in der Tierseele aufgehoben und bleibend wirksam. Dennoch bildet die Tierseele eine neue Stufe. Sie ist etwas qualitativ anderes als die Pflanzenseele.

Wenn Edith Stein in diesem Zusammenhang von einem „Entwicklungsgang“ spricht, haben wir es nicht mit einem offenen Entwicklungsprozeß zu tun, sondern mit einem Entfaltungsprozeß. Schon im Begriff der ‚Entwicklung‘ steckt etwas von ‚Entfaltung‘. Vom Wort her geht es eher darum, daß sich etwas aus schon Vorhandenem heraus ‚entwickelt‘, wie wir aus einem Garnknäuel ein Garn heraus wickeln. Darwin hat deshalb nicht von einer ‚Entwicklung‘ (Evolution) der Arten, sondern von einer ‚Entstehung‘ der Arten gesprochen, weil er keine Kontinuität in diesem Naturprozeß erkennen konnte.

Edith Stein versteht also ‚Entwicklung‘ im Sinne von ‚Entfaltung‘: „Wenn wir die Frage, ob (wir) diese geistige Seele als die substantielle Form des Menschen aufzufassen haben, jetzt noch einmal aufgreifen, so werden wir sagen müssen: Sie ist das dominierende Formprinzip, das die materiellen Aufbaustoffe organisch, animalisch und personal-geistig formt und im Lauf dieses Formungsprozesses, der Entwicklung des menschlichen Individuums stufenweise zur Entfaltung kommt, durch ihre Entfaltung die Entwicklungsstadien bestimmend.“ (Stein 2/2010, S.132)

Die Substanz des Menschen ist also von Anfang an als Potentialität vollständig vorhanden. (Vgl. Stein 2/2010, S.76 u.ö.) Die verschiedenen Aspekte treten als Pflanzenseele, Tierseele und Menschenseele nur nach und nach in Erscheinung. Und auch alles, was der Mensch später noch ‚werden‘ kann, ist als Potenz schon da.

Der ganze Bildungsprozeß besteht lediglich darin, im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten und der eigenen Willenskraft etwas daraus zu machen: „Die Seele verfügt offenbar über ein begrenztes Kraftmaß, das in verschiedene Richtung gelenkt werden kann. Indem es in eine Richtung gelenkt wird, wird es den andern möglichen Richtungen entzogen. ... Darin ist begründet, daß er (der Mensch) nur ganz wenig von dem, was potentiell ist, jeweils aktuell sein kann, und daß auch keineswegs alle seine Potenzen habituell ausgestaltet werden können. Vieles von dem, was in ihm angelegt ist, bleibt das ganze Leben lang unrealisiert.“ (Stein 2/2010, S.77) – Es ist wie bei dem Gleichnis von Jesus: dem Menschen sind verschiedene ‚Talente‘ gegeben – im monetären wie im übertragenen Sinne –, und er muß nun damit wirtschaften, so gut er kann.

Wenn Knaup also davon spricht, daß das „Leben des Menschen“ als ein „Entwicklungsgang“ beschrieben werden könne, daß wir es aber nicht mit einem „werdenden menschlichen Lebewesen“ zu tun haben, so ist damit gemeint, daß die Entwicklung des Menschen keinen Prozeß darstellt, in dem wirklich etwas Neues geschieht, sondern in dem nur zur Entfaltung kommt, was in potentia schon da ist.

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