„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 9. Juni 2013

Felix Hasler, Neuromythologie. Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung, Bielefeld 3/2013 (2012)

1. Methoden und Experimente
2. neurologische ‚Korrelate‘
3. „Säftelehre der Griechen“
4. „Pathologisierung psychischer Phänomene“
5. Neurowissenschaften und Politik
6. Kritische Neurowissenschaften

Als ich vor vielen Jahren an einem Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft in Frankfurt a.M. teilnahm, wies irgendeine Landesministerin, deren Namen ich inzwischen wieder vergessen habe, in ihrer Begrüßungsansprache die versammelten Erziehungswissenschaftler und Pädagogen auf die immense pädagogische Bedeutung der Hirnforschung hin, und sie wies uns an, gefälligst deren Erkenntnisse in den kommenden Tagen in unseren Kolloquien und Arbeitsgruppen angemessen zu berücksichtigen. Auch bei meinen Kolleginnen und Kollegen an meiner Schule konnte ich auf der einen und anderen Weiterbildung beobachten, wie ihre Gesichter zu leuchten begannen, sobald ein Gastredner aus der Hirnforschung auftrat und uns erklärte, was im Gehirn unserer Schüler während des Unterrichts vor sich geht, und der auch nicht versäumte, uns einige Tips für den gehirnfreundlichen Unterricht zu geben.

Dabei ist die Motivlage jener Landesministerin und dieser meiner KollegInnen wohl eher nicht dieselbe. Die Landesministerin denkt möglicherweise eher an das gesellschaftspolitische Steuerungspotential, das mit neurophysiologisch abgesicherten Erkenntnissen über die Gehirnfunktionen verbunden ist; sprich: ihr geht es vor allem um Macht. Meine KollegInnen hingegen verbinden mit der Gehirnforschung vor allem die Hoffnung, endlich einmal erklärt zu bekommen, womit sie es in ihrem nervenaufreibenden, zermürbenden Pädagogenalltag eigentlich zu tun haben, also Einblick in die Blackbox zu erhalten, die ihre Schüler für sie darstellen, bei denen alle Ansprachen und didaktischen Maßnahmen auf taube Ohren stoßen und die beim Eintreten in den Klassenraum nicht nur ihre Jacken und Schultaschen ablegen, sondern auch jedes Interesse an dem, was ihnen in der bevorstehenden Unterrichtsstunde geboten werden wird.

Mich hat dabei immer wieder überrascht, daß nur wenige meiner KollegInnen merkten, wie dürftig die neurodidaktischen Erkenntnisse in Wirklichkeit waren; sie lieferten keinerlei Hinweise darauf, was man im Schulalltag anders machen sollte; jedenfalls nichts, was man nicht schon gewußt hätte und was nicht im deutschen Schulsystem schon längst an den bestehenden institutionellen und administrativen Sachzwängen und an den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Erwartungshaltungen gescheitert wäre. Hasler zitiert eine Didaktik-Wissenschaftlerin: „Wenn eine Lehrerin die Frage stellen würde ...: ‚Was muss ich jetzt, wenn ich mir neurowissenschaftliche Befunde zum Lernen anschaue, anders machen als vorher?‘, dann schweigt doch die Neurowissenschaft.“ (Hasler 2012, S.156) – Ja, wenn überhaupt eine Lehrerin diese Frage stellen würde! Vorerst aber schweigen die pädagogischen Praktikerinnen und Praktiker, applaudieren dem gerade vortragenden Neurodidaktiker und freuen sich über sein Interesse an ihrer Arbeit, durch das sie sich aufgewertet fühlen.

Gerade in der Pädagogik liegt das Problem niemals im Gehirn, geschweige denn am Individuum, sondern immer an den Umständen. Eigentlich besteht die ganze pädagogische Arbeit darin, den Kindern und Jugendlichen in den verschiedenen Umständen ihres Lebens die jeweils bestmögliche Unterstützung zu geben, das zu werden, was sie von sich aus werden könnten, wenn die Umstände es zuließen. Die neurowissenschaftlich induzierte, politisch geförderte Umkehrung des pädagogischen Blicks von den Umständen auf die Gehirne als „zerebrale Subjekte“ (Hasler 2012, S.62) unterschlägt aber die gesellschaftliche Verantwortung für soziale Mißstände:
„Es ist nicht überraschend, dass die Diskussion über den ‚besten Umgang‘ mit der Jugend gerade in Großbritannien besonders intensiv geführt wird. Kaum ein Land der westlichen Welt hat größere Probleme mit Jugendkriminalität. Grimmige Hoodies prägen das Straßenbild in Londoner Problemquartieren wie Brixton, Stratford oder Pickham. Anwohner fühlen sich durch Jugendbanden bedroht und räumen die Quartiere. Die Polizei ist überfordert. Ebenso Jugendämter und soziale Einrichtungen. Besonders vor dem Hintergrund doch so offensichtlicher gesellschaftlicher Spannungen ist es erstaunlich, dass sich der Fokus der politischen Aufmerksamkeit weg von sozialen und politischen Einflussfaktoren hinein ins Innere des Teenager-Gehirns verlagert.“ (Hasler 2012, S.155)
Es ist offensichtlich bequemer für das politische Establishment, komplexe gesellschaftliche Problemlagen zu individualisieren. Unterstützt wird es dabei vom zeitgeistigen Glauben an die Gehirnforschung, von der „Zerebralisierung menschlicher Lebenswelten“, wie Hasler schreibt. (Vgl. Hasler 2012, S.155) Der Glaube an die Gehirnforschung ist mittlerweile wohl tatsächlich zu einem Bestandteil der Lebenswelt geworden und wirkt sich entsprechend auf unser Menschenbild aus. In der Pädagogik hat die Bildungspolitik der letzten 13 Jahre, seit dem Erscheinen der ersten PISA-Studie, den Humboldtschen Bildungsbegriff durch den Kompetenzbegriff ersetzt. Der Kompetenzbegriff soll dazu beitragen, Bildungsstandards zu setzen – den Unterschied zwischen ‚Standards‘ und ‚Stilen‘ habe ich schon in einem anderen Post (vom 30.04.2012) diskutiert –, die die Bemessung der gesellschaftlich erwünschten Schulbildung nach Input und Output ermöglichen. Die Blackbox, die die Schüler für Pädagogen, Eltern und Gesellschaft darstellen, soll vom Output, also von den ‚Kompetenzen‘ her kybernetisch unter Kontrolle gebracht werden.

So tritt das mentale Kapital an die Stelle des Humankapitals (vgl. Hasler 2012, S.154f.), das uns ja schon an den Kapitalbegriff in der Bildungspraxis gewöhnt hatte, aber immerhin noch an den alten Humanitätsgedanken erinnerte, wenn auch in pervertierter Form. Die politische Einflußnahme auf das mentale Kapital fällt nun vollends in die Verantwortung der Wirtschafts- und Finanzpolitik. So kommt eine „‚Foresight‘-Studie zum Thema ‚geistiges Kapital und Wohlbefinden‘“ (Hasler 2012, S.154) der britischen Regierung zu dem Ergebnis:
„Eine substanzielle Erhöhung der Produktivität wird ... als unerlässlich angesehen. Psychische Krankheiten und kognitive Unzulänglichkeiten, darunter auch Lernschwierigkeiten, sind laut der Studie die hauptsächlichen Störfaktoren. ‚Das Beste aus uns zu machen‘ bedeutet demnach, die Bevölkerung insgesamt flexibler und zugleich stressresistenter zu machen, damit die bestehenden wirtschaftlichen Sachzwänge bedient werden können.‘() ... Aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse über adoleszente Hirnentwicklung und schädliche Einflussfaktoren sollen gemäß der britischen Untersuchung bildungs- und erziehungspolitische Rahmenbedingungen geschaffen werden, um ‚das Beste aus den Jugendlichen zu machen.‘ “ (Hasler 2012, S.155)
Hasler bezeichnet diese britische „‚Wellbeing‘-Studie“ als ein „exemplarisches Beispiel für die Verknüpfung neoliberaler Politik mit den kognitiven Neurowissenschaften“. (Vgl. Hasler 2012, S.155)

Mit einem ‚Humanismus‘ hat das ganze nichts mehr zu tun, auch wenn mit diesem Wort weiter Etikettenschwindel betrieben wird, wie es der Schweizer Strafrechtler Felix Bommer den Hirnforschern Gerhard Roth und Wolf Singer vorwirft, „wenn diese von Prävention statt Repression und einem humaneren Umgang mit Straftätern sprechen“. (Vgl. Hasler 2012, S.206) Ähnlich wie die Phrenologen des 19. Jhdts. behaupten diese Neurowissenschaftler, kriminelle Veranlagungen an der Funktionsweise des Gehirns dingfest machen zu können, was die tatsächlichen, aber sicher auch die potentiellen Straftäter nicht zu Objekten der Justiz, sondern zu Klienten der Neuro-Psychotherapie macht: „‚Was hier auf samtweichen Pfoten daherkommt, ist in Tat und Wahrheit eine harte Strategie der Exklusion, die handelnde Subjekte zu Gefahrenquellen degradiert, die es zu bekämpfen gilt.‘() ... Wohin radikaler biologischer Reduktionismus in Kombination mit einem totalitären Umfeld führen kann, ist spätestens seit den 1930er Jahren klar.“ (Hasler 2012, S.206)

Auch diesem Zitat habe ich am Schluß meines Posts nichts hinzuzufügen.

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