„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 8. Juni 2013

Felix Hasler, Neuromythologie. Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung, Bielefeld 3/2013 (2012)

1. Methoden und Experimente
2. neurologische ‚Korrelate‘
3. „Säftelehre der Griechen“
4. „Pathologisierung psychischer Phänomene“
5. Neurowissenschaften und Politik
6. Kritische Neurowissenschaften

Im letzten Post war es um den logischen und biochemischen Unsinn gegangen, bestehende biochemische ‚Gleichgewichte‘ von Teenagergehirnen und selbstausbeutungswilligen Erwachsenen zu ‚optimieren‘. Auch wenn ich keineswegs so weit gehen will, Teenagern Ausgeglichenheit, Balance und Weisheit zu attestieren, sollte man eine Entwicklungsphase wie die Pubertät nicht einfach nur deshalb pathologisieren, weil wir Erwachsenen und natürlich auch die Teenager selbst sie nicht verstehen. Hier gilt wohl das ernüchternde Fazit eines Kinderpsychiaters zu bipolaren Störungen (‚manisch‘ und ‚depressiv‘) bei Kindern: „... vielleicht haben Eltern, Schulen und der Rest der Gesellschaft eine verminderte Belastbarkeit, die ganze Bandbreite des affektiven Ausdrucks von Kindern auszuhalten.“ (Hasler 2012, S.149)

Aber natürlich gibt es tatsächlich echte Störungen des biochemischen Gleichgewichts und sicherlich auch Störungen des Transmitter-Haushalts zwischen den Synapsen. Das Problem ist nur, daß die Mediziner den genauen Funktionszusammenhang von Psyche und Neurophysiologie einfach noch nicht verstanden haben. (Vgl. Hasler 2012, S.156f.) Manche Forscher, die sich tatsächlich um das Wohlergehen ihrer Patienten sorgen, zögern sogar genau aus diesem Grund, ihre Forschungsergebnisse zu veröffentlichen, die belegen, daß chronische Depressionen und die Langzeitwirkung von Antidepressiva gleichermaßen zu „einem kontinuierlichen Verlust an Hirnsubstanz“ führen (vgl. Hasler 2012, S.136f.). Diese Forscher befürchten, die „Leute“ könnten aufgrund ihrer Forschungsergebnisse „aufhören, die Medikamente zu nehmen, die sie brauchen“ (vgl. Hasler 2012, S.138).

Wenn also die Medikamente, die eine Krankheit heilen bzw. ihren Verlauf erträglicher gestalten sollen, dieselben Symptome hervorrufen wie die Krankheit selbst, stellt sich die Frage, wie man überhaupt zwischen der Krankheit und ihrer Medikamentation unterscheiden soll. Da es seit der Entwicklung und Einführung von Psychopharmaka Anfang der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts kaum noch chronisch Kranke gibt, die noch keine Psychopharmaka eingenommen haben, ist es schwierig bis unmöglich geworden, die Krankheitsbilder selbst und ihre Verläufe zu erforschen. (Vgl. Hasler 2012, S.136)

Die Grenzlinie zwischen Krankheit und Gesundheit ist inzwischen so unscharf geworden, daß kaum noch jemand ohne positiven Befund bleibt: „Während es für viele Menschen früher einfach zum normalen Leben gehörte, gelegentlich Phasen der Traurigkeit, Energiearmut und Hoffnungslosigkeit zu durchleben, schreiben wir einem solchen Zustand heute schon sehr schnell einen Krankheitswert zu.“ (Hasler 2012, S.118) – Im Hintergrund betreiben die Pharmakonzerne fleißig Panikmache, weil sie eine möglichst frühzeitige Behandlung der ersten Anzeichen einer Depression empfehlen, weil ansonsten ihre „Chronifizierung“ drohe. (Vgl. Hasler 2012, S.171)

Um nur ja auch keinen möglichen Kunden aus den Schleppnetzen der Pharmakonzerne entkommen zu lassen, wurden im fünften Diagnosemanual die präzisen Krankheitsbilder, wie man sie aus der somatischen Medizin kennt, durch „Formenkreise“ ersetzt: „Aus ‚Autismus‘ wird der ‚Autismus-Formenkreis‘,() aus Schizophrenie wird das ‚Schizophrenie-Spektrum‘ und aus den Zwangsstörungen der ‚Formenkreis der Zwangsstörung‘. Dazu kommen neue Diagnosen wie die ‚Hypersexualitäts-Störung‘, die ‚Gemischte Angst-Depression‘,() das ‚Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom bei Erwachsenen oder die ‚Stimmungsregulations-Störung mit Dysphorie‘ bei Kindern.()“ (Hasler 2012, S.122)

So kann es schon mal dazu kommen, daß Schüchternheit als zu therapierende „soziale Phobie“ diagnostiziert wird. (Vgl. Hasler 2012, S.119f.)

Wenn es also der Profitabilität nützt, wird gerne auf das Informationsverarbeitungsmodell der Neurowissenschaften mit ihren Transmittern und Synapsen verzichtet und auf altehrwürdige Begriffe der Gestaltpsychologie zurückgegriffen. Innerhalb grob umschriebener Typen, eben den Formenkreisen, gibt es dann eine mehr oder weniger große Schwankungsbreite von diagnostizierbaren Einzelfällen, wobei es wiederum der mehr oder weniger großen Erfahrung der jeweiligen Ärzte bzw. ihrer hilfesuchenden Patienten – die auch gerne mal mit ihren Anwälten drohen, wegen unterlassener Hilfeleistung – überlassen bleibt, ob eine aktuelle Befindlichkeit als pathologisch eingestuft wird oder nicht.

Stimmungsschwankungen kommen und gehen. Dazu gehören auch Depressionen. Es ist bislang weder „mit Gentests, noch mit klinisch-chemischen Untersuchungen, noch mit bildgebenden Verfahren“ gelungen, „Normalität von Depression, Manie oder Schizophrenie zu unterscheiden“. (Vgl. Hasler 2012, S.87) Es gibt offensichtlich ein erhebliches Selbstheilungspotential, das gleichermaßen auf Gesprächstherapien, auf Placebos wie auf Psychopharmaka anspricht: „Gerade bei Depressionserkrankungen scheint es letzten Endes gar nicht so sehr darauf an zu kommen, was man dagegen unternimmt – Hauptsache man unternimmt irgendetwas.“ (Hasler 2012, S.141) – In einer Fußnote ergänzt Hasler: „Offensichtlich verstärkt sich der Placeboeffekt, wenn die Versuchsperson irgendeine Wirkung eines Medikaments spürt, und sei es auch nur in Form von Nebenwirkungen.() ... Gemäß dieser Theorie müssten lediglich die natürlichen Genesungs-Ressourcen des Patienten aktiviert werden.“ (Hasler 2012, S.141f.)

Dazu passen Äußerungen von Medizinern aus der Anfangszeit der Psychopharmakologie: „‚Die meisten Depressionen sind selbstlimitierend‘, schrieb Jonathan Cole, Psychopharmakologie-Pionier am National Institute of Mental Health.() Im selben Jahr, 1964, wies Rockland State Hospital Psychiater Nathan Kline darauf hin, dass man ‚bei der Behandlung der Depression immer einen Verbündeten darin hat, dass die meisten Depressionen in Spontanremission enden.‘() ... ‚Die meisten depressiven Episoden‘, so Schuyler in seinem Buch weiter, ‚werden ihren Lauf nehmen und ohne spezifische Intervention mit praktisch vollständiger Erholung enden.‘()“ (Hasler 2012, S.115f.)

Das Phänomen der „Spontanremission“ und der „natürlichen Genesungs-Ressourcen“ fällt unter die „Resilienz“, womit die Fähigkeit des Menschen gemeint ist, große soziale und persönliche Notsituationen psychisch unbeschadet zu überstehen. Das ist natürlich nur ein individuelles Phänomen und nicht verallgemeinerbar. Umstände, unter denen viele und sogar die meisten Menschen zerbrechen, können einige überstehen und sogar daran wachsen. Ein Beispiel für dieses unterschiedliche Schicksal sind für mich die unterschiedlichen Biographien von Adolf Hitler und Willi Münzenberg. Erich Fromm beschreibt in seinem Buch „Anatomie der menschlichen Destruktivität“ (1973), wie Hitler sich aufgrund seiner Kindheitserlebnisse zwangsläufig zu einem Psychopathen hatte entwickeln müssen. Peter Weiss wiederum beschreibt in seiner „Ästhetik des Widerstands“ (1971-1981), wie sich Willi Münzenberg trotz einer Kindheit, die wesentlich schlimmer war, als die von Hitler, erst zu einem Widerstandskämpfer gegen den Faschismus und dann, was für die damaligen Verhältnisse besonders bemerkenswert gewesen ist, auch noch gegen den Stalinismus entwickelt hatte. Münzenberg ist ein Beispiel für Resilienz.

Mit geht es jetzt nicht darum, einen Heroismus gegen die krankmachenden Umstände unserer Leistungsgesellschaft zu propagieren. Aber die verbreitete Bereitschaft, die eigenen „Befindlichkeitszustände“ pathologisieren zu lassen (vgl. Hasler 2012, S.173), hat für mich doch etwas Erschreckendes. Auch in diesem Post möchte ich Hasler das letzte Wort lassen:
„Die Forscher (Sozialmediziner der Universität Nijmegen – DZ) haben in einer retrospektiven Studie 222 Patienten untersucht, die zehn Jahre zuvor vom Hausarzt eine depressive Episode diagnostiziert bekommen haben. Der Befund der Holländer: 76 Prozent der Patienten, die nicht mit einem Antidepressivum behandelt wurden, erholten sich und hatten nie mehr einen Rückfall. Bei Patienten, die mit Antidepressiva behandelt wurden, blieb nur die Hälfte der Patienten rückfallfrei.“ (Hasler 2012, S.169f.) – „Auch wenn es seine Zeit braucht – und diese Zeit großes Leiden bedeuten kann – akute Depressionen vergehen in der Regel von selbst. Und behandelt man eine Depression nicht mit Medikamenten, so führt dies überhaupt nicht zwingend zu einer Chronifizierung der Krankheit.()“ (Hasler 2012, S.171)
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