„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 4. Mai 2013

Getreu die wirkliche Erfahrung zur Aussprache bringen!

Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Hamburg 3/1996 (1935/36)

1. „Jedermann, der diese Methode verstehen und zu üben vermag“
2. Gewißheit jenseits allen Zweifels
3. „Daten und Datenkomplexe“
4. Geschichte als Sedimentation
5. Zweite Naivität

Hatte ich mich schon bei Jürgen Habermas und seiner Bemerkung zu den „Peers“, zu denen man dazugehören müsse, wenn man kein Scharlatan sein wolle, gefragt, ob ich denn nun dazugehöre oder ob ich eher ein Scharlatan bin (vgl. meinen Post vom 16.02.2013), so geht es mir nun auch mit Husserls Bemerkung zur Mathematik als einer identische Wahrheiten garantierenden Methode: ihr müsse jedermann, „der diese Methode verstehen und zu üben vermag“, unbedingt zustimmen. Wer das nicht kann, so muß man im Umkehrschluß folgern, verbleibt im Bereich der „Relativität der subjektiven Auffassungen“. (Vgl. Husserl 3/1996, S.29) – Mit anderen Worten: im Bereich der Scharlatanerie.

Hiermit gestehe ich einmal mehr: ich kann’s nicht. (Vgl. meinen Post vom 17.04.2011) Aber was hat es eigentlich mit dieser Mathematik auf sich, die die Menschheit in zwei Teile spaltet: in die Könner und in die Nicht-Könner? Muß ich mich als einer, der sie nicht zu verstehen und zu üben vermag, auch des Urteils über sie enthalten, nach dem Motto, daß nur die Experten über ihr Fachgebiet urteilen dürfen? Denn ich bin ja nicht nur kein Experte, sondern noch nicht einmal ein Amateur.

Aber auch, wenn ich niemals den Anspruch erhoben habe, Mathematik zu ‚können‘, so war ich doch immer der Meinung, mich qua eigener Machtvollkommenheit als einen „Selbstdenker“ bezeichnen zu dürfen. Denn ganz im Sinne von Kants „sapere aude!“ nennt Husserl als wichtigste Voraussetzung des Selbstdenkens den „Willen zur Befreiung von allen Vorurteilen“. (Vgl. Husserl 3/1996, S.79) Sich keinen Autoritäten zu unterwerfen, ob nun staatlichen oder kirchlichen Machthabern oder auch nur den eigenen undurchdachten Meinungen, – das müßte doch auch jenseits der Mathematik möglich sein. Und vielleicht kann man sogar sagen, daß es nur jenseits der Mathematik möglich ist?

Dieser Frage will ich in diesem und in den nächsten Posts nachgehen, und dabei soll mir Husserls Buch „Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie“ (3/1996 (1935/36)) helfen; ein Buch, das ich schon lange in meinem Bücherregal stehen habe, das ich aber trotz wiederholter, immer wieder gescheiterter Versuche erst jetzt geschafft habe zu lesen. Es war immer schon eine mühsame Arbeit für mich, Husserls kunstvoll verklausulierte, über ganze Absätze sich erstreckende Schachtelsätze zu entziffern, so daß ich für ihn immer nur als Steinbruch für Ideenstücke und Gedankensplitter Verwendung hatte und nur wenige, kürzere Aufsätze von ihm ganz durchgelesen habe. Aber trotz aller Verschachtelungen: es handelt sich immer noch um Sätze mit Subjekten und Prädikaten und nicht um mathematische Formeln. Und für solche Sätze halte ich mich für zuständig.

Was genau also leisten Husserl zufolge die Geometrie und die späteren formalisierten Mathematiken wie etwa die Algebra? Ich erwähnte es schon: sie überwinden die „Relativität der subjektiven Auffassungen“ (Husserl 3/1996, S.29), die darin besteht, daß die vorwissenschaftliche Welt „in der alltäglichen sinnlichen Erfahrung“ nur „subjektiv-relativ“ gegeben ist: „Jeder von uns hat seine Erscheinungen, und jedem gelten sie als das wirklich Seiende. Dieser Diskrepanz unserer Seinsgeltungen sind wir im Verkehr miteinander längst inne geworden.“ (Husserl 3/1996, S.22)

Schon die noch eng an die sinnliche Anschauung anknüpfende Euklidische Geometrie abstrahiert nun von diesen subjektiv relativen Perspektiven und ihrem „Schwanken“ innerhalb der vagen Grenzen eines jeweils „bloß Typischen“ (vgl. Husserl 3/1996, S.24); und sie zwingt uns allen, ungeachtet unserer individuellen Verschiedenheiten, die „ideale Praxis eines ,reinen Denkens‘“ auf, „das sich ausschließlich im Reiche reiner Limesgestalten hält“. (Vgl. Husserl 3/1996, S.25)

Dieser geometrische Zwang zur Entperspektivierung ist der eigentliche Inhalt wissenschaftlicher ‚Intersubjektivität‘, und nicht etwa die als Kommunikationsgemeinschaft konzipierte science community, die auf ihre Perspektivenvielfalt pocht. Denn wenn die Mathematik mit etwas wirklich am wenigsten, nämlich gar nichts zu tun hat, so ist es die Perspektivenvielfalt. In der Mathematik sind alle Gegenstände eindeutig bestimmt und sind Teil eines wiederum eindeutig bestimmten Ganzen „aus reiner Rationalität, ein in seiner unbedingten Wahrheit einsehbares Ganzes von lauter unbedingten unmittelbar und mittelbar einsichtigen Wahrheiten“. (Vgl. Husserl 3/1996, S.20) – Unmittelbar und mittelbar einsichtig aber natürlich nur für diejenigen, die sich darauf – nämlich auf die Mathematik – verstehen.

Mit „Limesgestalten“ meint Husserl Gestalten, die nicht wie die empirisch-sinnlichen Gestalten lediglich vage innerhalb der Grenzen eines „Typischen“ schwanken. Es handelt sich um finale ‚Grenz‘-Gestalten, die die Grenze einer unendlichen Approximation „an die geometrische Idealgestalt“ vorgeben, die „als leitender Pol fungiert“. (Vgl. Husserl 3/1996, S.29) An diesem leitenden Pol orientiert sich die Erforschung sowohl der direkt mathematisierbaren wie auch der bloß indirekt mathematisierbaren Naturphänomene. Direkt mathematisierbar ist die Raumzeitgestalt von Körpern. Plessner hat dieser Raumzeitgestalt den Gesichtssinn zugeordnet, der der Geometrie zugrundeliegt. (Vgl. meinen Post vom 15.07.2010) Spätere Weiterentwicklungen der Geometrie verlassen auch diese Anschauungsebene und verlieren sich in einer „anschauungsfernen Symbolik“. (Vgl. Husserl 3/1996, S.23)

Als nicht direkt mathematisierbar bezeichnet Husserl pauschal alle Sinnesqualitäten, wobei er vom Gesichtssinn anders als Plessner nicht den „Sehstrahl“ thematisiert, sondern die Farben. Außerdem zählt er „Tastqualitäten“, „Gerüche“, „Wärmen“ und „Schweren“ auf. (Husserl 3/1996, S.31) Als nur indirekt mathematisierbar bezeichnet Husserl diese Sinnesqualitäten, weil sie ihm zufolge keine eigene „Weltform“ ergeben, wie die raumzeitlich dimensionierten Körper. (Vgl. Husserl 3/1996, S.36f.) Ich verstehe das so, daß es z.B. keine Geometrie der Gerüche gibt, im Sinne eines „einsehbare(n) Ganze(n) von lauter unbedingten unmittelbar und mittelbar einsichtigen Wahrheiten“. (Vgl. Husserl 3/1996, S.20)

Die „Limesgestalten“ der Geruchswelt sind also nicht in einem „analogem Sinne idealisierbar“. (Vgl. Husserl 3/1996, S.36) Obwohl aber die Sinnesqualitäten der Körperwelt anders als deren Raumzeitgestalt keine „mathematisierbare Weltform“ ergeben (vgl. ebenda), hängen sie doch untereinander und mit der direkt mathematisierbaren Raumzeitgestalt der Körper auf eine geregelte, gesetzesförmige Weise zusammen. Husserl sagt: sie sind untereinander und mit der direkt mathematisierbaren Raumzeitgestalt selbst verschwistert. (Vgl. Husserl 3/1996, S.35f.) Die Raumzeitgestalt bildet die direkt mathematisierbare Form, die Sinnesqualitäten bilden die indirekt mathematisierbare ‚Fülle‘ zu dieser Form, weshalb Husserl sie auch als „Füllen“ bezeichnet.

Husserl stellt sich diese „Verschwisterung“ so vor, daß die „faktischen“ raumzeitlichen „Gestalten“ im Sinne eines „Seinsstils“ „zwangsläufig“, also quasi-kausal mit „faktischen Füllen“ assoziiert (verschwistert) sind: „daß also diese Art allgemeiner Kausalität besteht, die nur abstrakt, aber nicht real trennbare Momente eines Konkretum verbindet.“ (Vgl. Husserl 3/1996, S.36) Solche „Momente eines Konkretum“ bilden die direkt berechenbare Raumzeitlichkeit und die nur indirekt berechenbaren sinnlichen Qualitäten.

Begriffe wie „Seinsstil“ und „allgemeine Kausalität“ – an anderer Stelle ist auch von einem „Kausalstil“ die Rede (vgl. Husserl 3/1996, S.54) – verweisen auf den lebensweltlichen Charakter der sinnlichen Anschauung. Hier kann von einer mechanischen, direkter Mathematisierung zugänglichen, reinen Körperwelt nicht die Rede sein. Die Regelmäßigkeit der Geschehnisse in der Lebenswelt beruht vielmehr auf „Gewohnheit“, auf einem „invarianten allgemeinen Stil, in dem diese anschauliche Welt im Strömen der totalen Erfahrung verharrt“. (Vgl. Husserl 3/1996, S.31) – Husserls Darstellung der sinnlichen Anschauung und ihrer Gesetze als Gewohnheitsbildung erinnert an Rupert Sheldrakes Kritik der Naturgesetze. (Vgl. meinen Post vom 01.02.2013)

Indirekt mathematisierbar ist diese Welt der Sinnesqualitäten nun insofern, als aufgrund der Verschwisterung zwischen ihnen untereinander und zwischen ihnen und der raumzeitlichen Form die Aussicht besteht, im Zuge einer vollständigen Mathematisierung der reinen Körperwelt auch die Sinneswelt mitzuerfassen. So wie die Limesgestalten der reinen Körper auf den Horizont eines „Ganze(n) von lauter unbedingten unmittelbar und mittelbar einsichtigen Wahrheiten“ verweisen (vgl. Husserl 3/1996, S.20), können auch die singulären Sinnesqualitäten als „unendliche Mannigfaltigkeit“ „horizonthaft antizipiert“ werden. (Vg. Husserl 3/1996, 36) Ich verstehe diese Aussage von Husserl im Sinne einer Statistik, für die das unberechenbare Einzelne in einer größeren Menge berechenbar wird.

Das Verhältnis zwischen der Welt direkt mathematisierbarer Körper und der Welt nicht-direkt mathematisierbarer Sinnesqualitäten stellt Husserl als eine „doppelseitige() Idealisierung der Welt“ dar: „Diese universale idealisierte Kausalität umgreift alle faktischen Gestalten und Füllen in ihrer idealisierten Unendlichkeit“. (Husserl 3/1996, S.41) – In dieser universalen Kausalität wird das „arithmetische Denken“ „zu einem freien systematischen, von aller anschaulichen Wirklichkeit völlig losgelösten apriorischen Denken über Zahlen überhaupt, Zahlenverhältnisse, Zahlgesetze“. (Vgl. Husserl 3/1996, S.47)

Damit ermöglicht es die reine Mathematik, von ihren von der sinnlichen Anschauungswelt losgelösten Formeln her auf sinnlich nicht gegebene, physikalische Wirklichkeiten zu ‚induzieren‘: „Vermöge der reinen Mathematik und praktischen Meßkunst kann man für alles dergleichen Extensionale an der Körperwelt eine völlig neuartige induktive Voraussicht schaffen, nämlich man kann von jeweils gegebenen und gemessenen Gestaltvorkommnissen aus unbekannte und direkter Messung nie zugängliche in zwingender Notwendigkeit ‚berechnen‘. So wird die weltentfremdete ideale Geometrie zur ‚angewandten‘ und so in einer gewissen Hinsicht zu einer allgemeinen Methode der Erkenntnis von Realitäten.“ (Husserl 3/1996, S.33)

Weil nämlich alle „Gestaltvorkommnisse“, direkt mathematisierbare wie indirekt mathematisierbare, miteinander verschwistert sind, muß dies auch für jene Wirklichkeiten gelten, die für uns nur indirekte Gestaltvorkommnisse sein können; indem wir nämlich deren Wirklichkeit über die direkt wahrnehmbaren Gestaltvorkommnisse ‚induzieren‘: durch exakte Messung und Berechnung!

Wir haben es hier tatsächlich mit einem invertierten Sinn von Induktion zu tun: „Auf Voraussicht, wir können dafür sagen, auf Induktion beruht alles Leben. In primitivster Weise induziert schon die Seinsgewißheit einer jeden schlichten Erfahrung. Die ‚gesehenen‘ Dinge sind immer schon mehr als was wir von ihnen ‚wirklich und eigentlich‘ sehen. Wahrnehmen ist wesensmäßig ein Selbsthaben ineins mit Vor-haben, Vor-meinen.“ (Husserl 3/1996, S.54f.)

Üblicherweise ist die alltägliche Induktion an unsere subjektiven, bloß relativen Erfahrungen gebunden, von denen aus wir auf allgemeinere, irrelative Wahrheiten schließen. Induktion basiert also auf Anschaulichkeit bzw. auf Anschauung. Nun aber haben wir es mit einer völlig neuartigen Induktion zu tun, die auf Berechnung basiert! Von ‚evidenten‘ – zumindestens für diejenigen, die in den mathematischen Methoden geübt sind –, aber wenig anschaulichen Formeln, schließen bzw. induzieren wir auf die Wirklichkeit von wiederum überhaupt nicht anschaulichen Vorkommnissen, bis hinein in die Atomphysik. (Vgl. Husserl 3/1996, S.57)

Bei aller Anwendbarkeit der „weltentfremdete(n) ideale(n) Geometrie“ auf den menschlichen Sinnen unzugängliche, physikalische Notwendigkeiten (vgl. Husserl 3/1996, S.33) konstatiert Husserl nun aber, daß diese „Arithmetisierung der Geometrie“ zu einer „Entleerung ihres Sinnes“ geführt habe (vgl. Husserl 3/1996, S.47). „Mathematik und mathematische Naturwissenschaft“ haben sich wie ein „Ideenkleid“ über die „‚objektiv wirkliche und wahre‘ Natur“ der „Lebenswelt“ gelegt: „Das Ideenkleid macht es, daß wir für wahres Sein nehmen, was eine Methode ist.“ (Husserl 3/1996, S.55)

Um dieses „wahre Sein“ in den Blick nehmen zu können, bedarf es Husserl zufolge einer anderen Sprache als der mathematisch-naturwissenschaftlichen: „Den Lesern, besonders den naturwissenschaftlichen, wird es empfindlich geworden sein und fast wie ein Dilettantismus erscheinen, daß von der naturwissenschaftlichen Sprechweise keinerlei Gebrauch gemacht worden ist. Sie ist bewußt vermieden worden. Es gehört selbst zu den großen Schwierigkeiten einer Denkweise, die überall die ‚ursprüngliche Anschauung‘ zur Geltung zu bringen sucht, also die vor- und außerwissenschaftliche Lebenswelt, welche alles aktuelle Leben, auch das wissenschaftliche Denkleben in sich faßt und als Quelle der kunstvollen Sinnbildungen nährt, – es gehört, sage ich, zu diesen Schwierigkeiten, die naive Sprechweise des Lebens wählen zu müssen, sie aber auch angemessen zu handhaben, wie es für die Evidenz der Nachweisungen erforderlich ist.“ (Husserl 3/1996, S.64)

Nun wäre wohl kaum jemand von Husserls Lesern auf die Idee gekommen, er bediene sich der „naiven Sprechweise des Lebens“. Kaum ein normaler Mensch würde von sich aus und ‚naiv‘ in diesen kunstvoll ausgefeilten Jargon verfallen. Inwiefern Husserls Sprechweise im Unterschied zur mathematisch-naturwissenschaftlichen der wirklichen Erfahrung getreu bleibt, werde ich im nächsten Post erörtern.

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