„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 29. Mai 2013

Helmuth Plessner, Zur Anthropologie der Nachahmung (1948), in: Gunter Gebauer (Hg.), Anthropologie, Leipzig 1998, S.176-184

Zoologen wie Anthropologen haben gleichermaßen das Problem, wie es zwischen zwei Lebewesen zu einer motorischen Korrespondenz kommen kann: Wie ist Nachahmung möglich? Während nun der vergleichende Anthropologe Michael Tomasello und der philosophische Anthropologe Helmuth Plessner darin übereinkommen, daß Nachahmung ein menschliches Monopol sei, das den Menschen vom Schimpansen bzw. ‚Affen‘ unterscheidet – „Nachäffen kann nur der Mensch, nicht der Affe.“ (Plessner 1998/1948, S.182) –, verweist der Primatologe Frans de Waal auf artenübergreifendes „Body-Mapping“, etwa wenn ein Mensch mit den Armen wedelt und ein Delphin, ihn nachahmend, mit den Brustflossen wackelt. (Vgl. de Waal 2011/2009, S.75f.)

Das Problem der Nachahmung wird von de Waal vor allem auf der Ebene der Empathie, also einer weitgehend vorbewußten Verhaltensebene thematisiert. Er spricht in diesem Zusammenhang vom „Body-Mapping“ und meint damit eine wechselseitige „Gefühlsansteckung“. (Vgl. meinen Post vom 18.05.2011) Tomasello und Plessner hingegen sprechen von einer genuinen Bewußtseinsleistung. Insbesondere von Plessner wird das Problem der Nachahmung als Frage danach gestellt, wie wir davon wissen können, daß z.B. bei der Mimik bestimmte Partien unseres Gesichtes, die wir nicht sehen können, den Partien eines Gesichtes von jemandem uns gegenüber entsprechen, den wir sehen können. Nur in diesem Fall nämlich, so Plessner, können wir von „echter Nachahmung“ sprechen: „Man wird daher zwischen dem Phänomen der Erwiderung von Bewegungen, die vitalen Ursprungs sind und der affektiven Miterregung zugerechnet werden dürfen, und der echten Nachahmung zu unterscheiden haben. Diese ist dem Menschen vorbehalten, insofern als Distanz zum eigenen und fremden Gebaren ihre Basis bildet.“ (Plessner 1998/1948, S.182)

Tomasello und Plessner führen also das menschliche Monopol der Nachahmung auf eine Bewußtseinsleistung zurück. Ein Mitarbeiter von Tomasello hat in der festen Überzeugung, daß auch Schimpansen nachahmen können, Experimente durchgeführt, die zu seiner eigenen Überraschung Tomasellos These zu bestätigen scheinen. (Vgl. ZEIT-ONLINE vom  04.03.2013) Aber mit Experimenten ist das immer so eine Sache, wenn es um Bewußtseinsleistungen geht. Kausale 1:1-Beziehungen zwischen dem, was im Experiment geschieht, und dem, was im Bewußtsein vor sich geht, lassen sich einfach nicht herstellen. Dazu bedarf es immer hermeneutischer Anstrengungen, sprich: Interpretationen.

Meine Faustregel ist: um Schimpansen ein dem Menschen vergleichbares Bewußtsein zusprechen zu können, muß man erstmal zeigen, daß sie Bewußtseinskrisen durchmachen, wie sie sich z.B. in der Pubertät manifestieren. Als Antwort auf solche Bewußtseinskrisen hat der Mensch Initiationsriten erfunden, an deren Stelle im Laufe der Kulturentwicklung mehr und mehr die Erziehung getreten ist. Und das ist auch genau der Ansatz, den Plessner einnimmt, wenn er Nachahmung als ein spezifisch menschliches Monopol bezeichnet.

Zunächst nochmal die Parallele zu Tomasello: wie er unterscheidet Plessner zwischen ‚Schimpansen‘ – Plessner selbst spricht immer von ‚Affen‘ – und Menschen, insofern alle zur Nachahmung befähigten Tierarten nur Techniken nachahmen, aber niemals das jeweilige Tier selbst: „Jemandem etwas nach-machen ist nicht dasselbe wie jemanden nachmachen. ... Das Tier läßt sich, wie u.U. auch der Mensch von einem Bewegungsablauf, der sein Ziel erreicht, mitführen und verfällt damit dem Schein der Imitation, während in Wahrheit nur Mitvollzug im Spiel ist.“ (Plessner 1998/1948, S.182)

Die Fähigkeit, jemanden nachzumachen, im Unterschied dazu, ihm etwas nachzumachen, beruht Tomasello zufolge auf der gemeinsamen Aufmerksamkeit bzw. auf der geteilten Intentionalität. Damit bleibt Tomasello aber noch an der Oberfläche des menschlichen Monopols. Letztlich sind ja auch viele Tierarten zu einer gemeinsamen Aufmerksamkeit fähig, und deshalb bedarf die spezifisch menschliche Differenz in dieser Bewußtseinsleistung noch einer weiteren Erläuterung.

Plessner führt die Befähigung des Menschen zur gemeinsamen Aufmerksamkeit auf zwei einander bedingende Momente zurück: auf den Blick und auf die Exzentrizität. Die exzentrische Positionalität des Menschen bildet dabei die anthropologische Fundamentalbedingung, die ihn für den Blick des Anderen erst empfänglich macht: „Als exzentrisches Wesen sich selbst gegenwärtig (Sartre) und in eins damit undurchsichtig (Merleau-Ponty) verfügt der Mensch über die einander begegnenden Blicke als Leitfaden zwischen sich und dem Anderen, an dessen Stelle er stehen könnte und dessen Mienen und Gesten er daher auch mit seinem eigenen Leibe nachahmen kann.“ (Plessner 1998/1948, S.181)

Plessner beschreibt die exzentrische Positionalität als Doppelaspektivität von Innen und Außen. Der Mensch ist zugleich Mitte und Peripherie, in der Welt und der Welt gegenüber. Das entspricht der im Zitat angesprochenen Gleichzeitigkeit von Gegenwärtigkeit und Undurchsichtigkeit. ‚Gegenwärtigkeit‘ meint Unmittelbarkeit: wie das Tier ist sich der Mensch unmittelbar gegeben. Er ist da, hier und jetzt. Aber anders als das Tier ist er sich selbst ‚fremd‘. Der Mensch ist sich selbst unzugänglich und undurchsichtig, wie seine eigene Mimik, als „unsichtbare Bewegungsfelder des eigenen Gesichts“. (Vgl. Plessner 1998/1948, S.181)

Wenn ihm nun jemand anderes ins Gesicht sieht, über den ‚Blick‘, so werden ihm über die sehenden Augen des Anderen die eigenen sehenden Augen bewußt. Und da ihm die eigenen Augen unsichtbar sind, treten nun die sehenden Augen des Anderen an die Stelle der eigenen Augen: sie werden zu seinen eigenen Augen. Das ist der Kern der menschlichen Nachahmung: der gesehene Leib des Anderen tritt an die Stelle des eigenen unsichtbaren Leibes. Deshalb ist, so Plessner, „(e)chte Nachahmung ... nur der exzentrischen Position möglich, d.h. ein Monopol des Menschen.“ (Vgl. Plessner 1998/1948, S.183)

Im Detail beschreibt Plessner nun die Funktion des Blicks im Prozeß der Nachahmung analog zu einer Landschaftsvermessung. Der Blick bzw. die Augen bilden einen Fixpunkt des unsichtbaren ‚Leibes‘ bzw. des Gesichtes, um den herum sich eine Mimik organisiert, ähnlich wie bei einer Trigonometrie. Weniger umständlich formuliert ruft der Blick des Anderen in uns das „Körperschema“ wach, so wie es sich in unseren Gehirnfunktionen abbildet und „dessen Ausbildung mit der Ausbildung und Beherrschung der Motorik vermutlich gleichen Schritt hält“. (Vgl. Plessner 1998/1948, S.180)

Auf dieser Ebene des Körperschemas bewegen sich sicher auch die nachahmenden Tiere. Ihnen fehlt aber die entscheidende Voraussetzung des ‚Blicks‘, in dem sich der Mensch der eigenen Augen, des eigenen Gesichts und des eigenen Leibes bewußt wird. Über den Blick des Anderen wird sich der Mensch seiner eigenen „unvollkommenen Vergegenwärtigung“ bewußt (vgl. Plessner 1998/1948, S.183f.), und er beginnt nun den Anderen als Person nachzuahmen, um sich seiner selbst als Person zu vergewissern. Er beginnt nun, mit der „Reziprozität des Körperschemas“ zu spielen (vgl. Plessner 1998/1948, S.180f.), „z.B. in der Koketterie, im Flirt, in der Verstellung“ (Plessner 1998/1948, S.181). So eignet er sich den eigenen Körper an, der er ist, um ihn als Leib zu haben.

Deshalb zum Schluß nochmal meine Frage: Haben Schimpansen eine Pubertät?

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Mittwoch, 22. Mai 2013

Claude Lévi-Strauss, Das wilde Denken, Frankfurt a.M. 1973 (1962)

1. Wildes Denken und kultiviertes Denken
2. Gegensatzpaare als Bedeutungsträger
3. Infra-Struktur und Lebenswelt
4. Primäre und sekundäre Qualitäten
5. Geschichte zwischen Chronologie und Anachronismus

Die Struktur bzw. das System dient immer der Aufrechterhaltung einer Gegenwart. Ihr diskontinuierliches, weil aus Gegensatzpaaren zusammengesetztes „Gitter“ dient der Verhinderung von Diskontinuität. Diese die Kontinuität der Gegenwart bedrohende Diskontinuität bedrängt die Gegenwart mit „Ereignissen“ (vgl. Lévi-Strauss 1973, S.35f.), wie sie z.B. die Geburt von Kindern darstellt. Andere die Kontinuität bedrohende Ereignisse stellen „Hungersnöte, Epidemien und Kriege“ dar. (Vgl. Lévi-Strauss 1973, S.181) Das „Ereignis“ bildet einen „Modus der Zufälligkeit“, und die totemistischen Klassifikationssysteme dienen der Aufrechterhaltung eines „prekären“, jederzeit vom Zusammenbruch bedrohten „Gleichgewicht(s) zwischen Struktur und Ereignis, zwischen Notwendigkeit und Zufälligkeit, zwischen Interiorität und Exteriorität“. (Vgl. Lévi-Strauss 1973, S.44)

Da das Ereignis also die Struktur ‚stört‘, ihr Veränderungen aufzwingt, auf die sie wiederum mit die Stabilität wiederherstellenden Anpassungen antworten muß, steht das Ereignis auch für „Geschichte“ bzw. „Diachronie“, während die Struktur im Dienst einer auf Dauer gestellten Gegenwart für „Synchronie“ steht. Synchronie und Diachronie sind „in einen ständig erneuerten Konflikt verwickelt, bei dem es scheint, als müsse jedesmal die Diachronie siegreich daraus hervorgehen.“ (Vgl. Lévi-Strauss 1973, S.181) Zwischen der Geschichte und den Klassifikationssystemen gibt es, wie Lèvi-Stauss sich ausdrückt, „so etwas wie eine tief eingewurzelte Antipathie“. (Vgl. Lévi-Strauss 1973, S.268)

Dennoch gibt es klassifikatorische Elemente des wilden Denkens, die keine Totems bzw. Eponyme bilden und die der individuellen Persönlichkeit ihres jeweiligen Trägers gegenüber nicht gleichgültig sind, sondern ganz im Gegenteil das Individuum noch über dessen Tod hinaus ‚verkörpern‘: „... der Tschuringa bringt ... den greifbaren Beweis, daß der Vorfahre und sein lebender Nachkomme ein und dasselbe Fleisch sind.“ (Lévi-Strauss 1973, S.278)

Die australischen Tschuringas, spindelförmige, bearbeitete oder unbearbeitete Stücke aus Holz oder anderen Materialien, stellen von einem Ahn gestiftete Erbstücke dar, die von Generation zu Generation weitergegeben werden, wobei sie hauptsächlich in Verstecken aufbewahrt werden: „Man holt sie in regelmäßigen Abständen heraus, um sie zu besichtigen und mit ihnen zu hantieren, und bei jeder dieser Gelegenheiten poliert man sie, fettet sie ein und bemalt sie, nicht ohne Gebete und Beschwörungsformeln an sie zu richten.“ (Lévi-Strauss 1973, S.274)

Lévi-Strauss meint, daß diese Behandlung der Tschuringas an unseren Umgang mit alten Familienerbstücken und Urkunden erinnert, die wir auf dem Dachboden in Truhen oder im Salon in Vitrinen aufbewahren. Als solche „Urkunden“ haben sie die Funktion, Ereignisse und die mit ihnen einhergehenden Veränderungen in die Kontinuität einer Familientradition zu integrieren. In den Urkunden wird der „Widerspruch zwischen einer vollendeten Vergangenheit und einer Gegenwart, in der sie weiterlebt, überwunden. Die Urkunden sind das verkörperte Wesen der Ereignishaftigkeit.“ (Lévi-Strauss 1973, S.280)

An dieser Beschreibung der Funktion von Urkunden fällt insbesondere auf, daß die Urkunden nur eine Beziehung zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart herstellen. Die Vergangenheit dient tatsächlich vor allem dazu, ein weiteres Mal die Gegenwart zu stabilisieren. Es gibt über die Urkunden keinen Bezug zu einer unbekannten Zukunft. Der Umgang mit „Ereignissen“ ist letztlich doch nur ein klassifikatorischer, nämlich chronologisch datierender, wie Lévi-Strauss selber am Beispiel der modernen Geschichtswissenschaft zeigt: „Die Besonderheit der historischen Erkenntnis liegt nicht in dem Fehlen eines Code, was illusorisch ist, sondern in dessen besonderer Natur: er besteht in einer Chronologie.“ (Lévi-Strauss 1973, S.297)

Die Geschichtswissenschaft klassifiziert also mittels historischer Daten in Form von Jahreszahlen und ihrer Zuordnung zu Epochen. Dabei reduziert sie die zwei Reihen (Natur und Kultur) des totemistischen Klassifikationssystems auf eine einzige Reihe: „... wenn sich eine Gesellschaft für die Geschichte entscheidet, wird die Klassifizierung in endliche Gruppen unmöglich, weil die abgeleitete Reihe (die Kultur – DZ), statt eine ursprüngliche Reihe zu reproduzieren (die Natur – DZ), mit ihr verschmilzt, um eine einzige Reihe zu bilden, bei der jeder Ausdruck abgeleitet ist in bezug auf den, der ihm folgt. Anstelle einer ein für alle Mal gegebenen Homologie zwischen zwei Reihen, die jede für sich endlich und diskontinuierlich ist, postuliert man eine kontinuierliche Entwicklung innerhalb einer einzigen Reihe, die Ausdrücke in unbegrenzter Anzahl aufnimmt.“ (Lévi-Strauss 1973, S.269)

Indem also bestimmte Gesellschaften, wie in Europa oder Asien (vgl. Lévi-Strauss 1973, S.268), sich nicht an totemistischen Klassifikationssystemen mit ihrem begrenzten Repertoire an Positionsklassen (vgl.(Lévi-Strauss 1973, S.230), sondern an einer linearen, zur Zukunft hin offenen Geschichte orientieren, ermöglichen sie einen nahezu unbegrenzten Zugang von immer neuen und immer zahlreicheren Generationen. Die Geschichte wird zu einer Fortschrittsgeschichte.

Aber das chronologische Prinzip der Geschichtsschreibung verdeckt genau diese zukunftsoffene Ereignishaftigkeit der Geschichte. Mit der an den Totemismus des wilden Denkens erinnernden ‚Benennung‘ von Ereignissen mit Jahreszahlen und ihrer klassifikatorischen Zuordnung zu Epochen erweckt sie den Eindruck einer Bändigung und Kontrolle der Geschichte: „Die chronologische Kodierung aber verschleiert eine Natur, die weit komplexer ist, als man es sich vorstellt, wenn man die Daten der Geschichte in Form einer einfachen linearen Reihe begreift.“ (Lévi-Strauss 1973, S.298)

Anders als das totemistische Klassifikationssystem kann diese chronologische Geschichtsschreibung niemals in ein endgültiges Geschichtssystem münden: „Eine wahrhaft totale Geschichte würde sich selbst neutralisieren: ihr Produkt wäre gleich Null.“ (Lévi-Strauss 1973, S.296)

Quer zur großen, ‚epochalen‘ Geschichte liegt die „biographische und anekdotische Geschichte, die ganz unten auf der Stufenleiter steht“. (Vgl. Lévi-Strauss 1973, S.300) Diesen individuellen Lebensgeschichten wächst erst über ihre Einordnung „en bloc“ in die große Geschichte einer Epoche ein historischer Sinn zu. Lévi-Strauss macht hier den Unterschied zwischen einer „schwachen“ und einer „starken“ Geschichte. (Vgl. ebenda) Aber trotz dieser Differenzierung zwischen einer „schwachen“ und einer „starken“ Geschichte wird das auf die große Geschichte hinzielende ‚Einschachteln‘ von lokalen Untergruppenereignissen in immer höhere Klassen von Geschichtsereignissen niemals zu einer „Totalgeschichte“ führen können. (Vgl. Lévi-Strauss 1973, S.301)

Letztlich geht es in Lévi-Straussens auch an dieser Stelle wieder recht umständlichen Darstellung der Unterschiede und der Parallelen zwischen der Synchronie eines totemistischen Klassifikationssystems und der Diachronie einer geschichtsoffenen Zivilisation darum, daß beide Gesellschaftssysteme eben ‚Systeme‘ bilden. Es geht in ihnen also immer und allererst um die Bändigung und Kontrolle von Ereignissen bzw. Zufällen, die in einem System immer den Charakter von Störungen annehmen. Dabei wird noch einmal auf eine besondere Weise deutlich, daß wir es beim Menschen mit einem Anachronismus zu tun haben, der sich jeder Synchronisierung wie Diachronisierung verweigert. Insofern möchte man fast heiter den immer wieder erneuerten Versuchen des wilden und des kultivierten Denkens zuschauen, diesen Menschen zu ignorieren bzw. ihn – als „letzte(m) Ziel der Wissenschaften“ – aufzulösen. (Vgl. Lévi-Strauss 1973, S.284)

An dieser Stelle formuliert Lévi-Strauss eine Einsicht, die an die in diesem Blog schon so oft erwähnte zweite Naivität erinnert. Dabei beschreibt er die lebensweltliche Naivität als eine Form der Involviertheit in die Infrastruktur; eine Involviertheit, die er als „Interiorität“ bezeichnet: „Man sage uns aber nicht, der Mensch müsse sich von dieser Interiorität lösen. Das steht nicht in seiner Macht, und die Weisheit besteht für ihn darin, sich selbst dabei zuzusehen, wie er sie lebt, und doch zu wissen (aber in einem anderen Register), daß das, was er so vollkommen und intensiv lebt, ein Mythos ist ...“ (Lévi-Strauss 1973, S.294) – Dem habe ich nichts hinzuzufügen.

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Dienstag, 21. Mai 2013

Claude Lévi-Strauss, Das wilde Denken, Frankfurt a.M. 1973 (1962)

1. Wildes Denken und kultiviertes Denken
2. Gegensatzpaare als Bedeutungsträger
3. Infra-Struktur und Lebenswelt
4. Primäre und sekundäre Qualitäten
5. Geschichte zwischen Chronologie und Anachronismus

Ich hatte schon auf Husserls Differenzierung zwischen direkt mathematisierbaren und nicht direkt mathematisierbaren Qualitäten der Sinneswelt hingewiesen, wobei zu den direkt mathematisierbaren Qualitäten nur die Raum-Zeit-Gestalt der physischen Körper gehört, von der aus aber, so die wissenschaftliche Hoffnung, die übrigen Sinnesqualitäten indirekt mit mathematisiert werden können, so daß sich die gesamte empirische Mannigfaltigkeit in eine „universale idealisierte Kausalität“ überführen ließe. (Vgl. meinen Post vom 04.05.2013)

Einen ganz ähnlichen Ausblick eröffnet auch Lévi-Strauss: „Schon streben Physik und Chemie danach, wieder qualitativ zu werden, d.h. auch den sekundären Qualitäten Rechnung zu tragen, die, wenn sie erklärt sein werden, wiederum Mittel der Erklärung werden; und vielleicht tritt die Biologie in Erwartung dieser Vollendung auf der Stelle, um dann ihrerseits das Leben erklären zu können.“ (Lévi-Strauss 1973, S.35)

An dieser Stelle geht Lévi-Strauss tatsächlich noch einen erheblichen Schritt weiter als Husserl, der sich bei der umfassenden Mathematisierbarkeit nur auf Sinnesqualitäten bzw. mit Instrumenten erweiterte und aufgerüstete Sinnesqualitäten bezieht, so daß die Wissenschaftler mit hochspezialisierten Meßverfahren in subatomare oder makrokosmische Bereiche vorstoßen können. Lévi-Straus geht über diese empirischen Bereiche hinaus, indem er glaubt, daß die Wissenschaft auch für das Leben selbst eine empirische bzw. materielle Erklärung wird geben können. Sogar geistige Phänomene wie das Denken hält Lévi-Strauss prinzipiell für mathematisierbar, weil auch das Denken letztlich nur ein ‚Ding‘ sei: Die „Sätze der Mathematik spiegeln ... das freie Funktionieren des Geistes wider, d.h. die Tätigkeit der Zellen der Hirnrinde, die von allem äußeren Zwang frei sind und nur ihren eigenen Gesetzen gehorchen. Da auch der Geist ein Ding ist, unterrichtet uns das Funktionieren dieses Dings über die Natur der Dinge: selbst die reine Reflexion läuft auf eine Interiorisierung des Kosmos hinaus.“ (Lévi-Strauss 1973, S.285 (Anm.))

Lévi-Strauss ist sich der anti-humanistischen Konsequenzen eines solchen rigiden Materialismusses durchaus bewußt, und er hält ausdrücklich fest, daß es nicht „das letzte Ziel der Wissenschaften vom Menschen“ sei, „den Menschen zu konstituieren, sondern das, ihn aufzulösen“. (Vgl. Lévi-Strauss 1973, S.284) Somit verfolgt Lévi-Strauss als Ethnologe eine paradoxe Anthropologie: den Menschen zu erklären, indem alles Menschliche aus den Erklärungszusammenhängen eliminiert wird. Alle „Kultur“ und „schließlich das Leben“ sollen auf ihre „physikochemischen Bedingungen“ zurückgeführt werden. Auf dem Weg dorthin macht Lévi-Strauss zufolge die Ethnologie nur den ersten Schritt. Es überrascht, daß Lévi-Strauss am Ende all dieser wissenschaftlichen Reduktionen dennoch weiter von einer „allgemeinen Menschheit“ sprechen will. Allerdings hat diese Vorstellung „nichts mehr mit der zu tun, die man vorher von ihr hatte“. (Vgl. Lévi-Strauss 1973, S.285)

Es müßte sich hierbei wohl um eine ‚Menschheit‘ handeln, die nicht mehr aus Menschen besteht, ähnlich der Luhmannschen ‚Gesellschaft‘. Deshalb kann Lévi-Strauss dem Vorwurf, ein Antihumanist zu sein, nicht entgehen. Es ist schon eine seltsame Neugier, die diesen Ethnologen in die vor der zivilisierten Welt verborgenen Dörfer treibt, um die dort lebenden Menschen gleichzeitig zu erforschen und „aufzulösen“; was immerhin den unvermeidlichen Effekt solcher Besuche von außen recht gut beschreibt.

Methodisch wie ideologisch rechtfertigt Lévi-Strauss seine menschenfeindliche Wissenschaft mit dem wilden Denken dieser ‚Primitiven‘ selbst. Denn auch dem wilden Denken ist ein ursprünglicher Glaube an den „globalen und integralen Determinismus“ zueigen, der alle Ereignisse der Natur und der Kultur gleichermaßen umfaßt. (Vgl. Lévi-Strauss 1973, S.23) Indem schon das wilde Denken reduktionistisch verfährt und „physische und semantische Eigenschaften“ gleichsetzt (vgl. Lévi-Strauss 1973, S.308), hat es den gleichen Zugang zur Welt wie eine Wissenschaft, die sich als Informationstheorie versteht. Wo die Menschheit ihren Ausgang genommen hat, in den totemistischen Klassifikationssystemen, dorthin kehrt sie am Ende mit der wissenschaftlichen Zivilisation wieder zurück: „Bis in die Mitte unseres Jahrhunderts hat es gedauert, bis sich lang getrennte Wege kreuzten: derjenige, der auf dem Umweg der Kommunikation zur physischen Welt Zugang findet, und derjenige, der, wie man seit kurzem weiß, auf dem Umweg der Physik zur Welt der Kommunikation Zugang findet. Der gesamte Prozeß der menschlichen Erkenntnis gewinnt so den Charakter eines geschlossenen Systems.“ (Lévi-Strauss 1973, S.310)

Worin Husserl noch eine Krisis gesehen hatte, in der Ablösung der mathematischen Wissenschaft von der menschlichen Lebenswelt, sieht Lévi-Strauss ihre Erfüllung und ihre Rückkehr zu den Ursprüngen der Menschheit, nämlich als dieser Menschheit immer schon zugrundeliegende mathematische Infrastruktur, die sich für die individuellen Menschen noch nie wirklich interessiert hat und am Ende tatsächlich auf sie verzichten kann.

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Montag, 20. Mai 2013

Claude Lévi-Strauss, Das wilde Denken, Frankfurt a.M. 1973 (1962)


1. Wildes Denken und kultiviertes Denken
2. Gegensatzpaare als Bedeutungsträger
3. Infra-Struktur und Lebenswelt
4. Primäre und sekundäre Qualitäten
5. Geschichte zwischen Chronologie und Anachronismus

In mancherlei Hinsicht ähnelt die Lévi-Straussische „Struktur“ bzw. das „System“ dem, was die Phänomenologen die Lebenswelt nennen: „Im Unterschied zu den anderen Klassifikationssystemen, die vornehmlich konzipiert sind (wie die Mythen) oder vollzogen (wie die Riten), ist der Totemismus fast immer gelebt, d.h. er haftet an konkreten Gruppen oder konkreten Individuen, weil er ein erbliches Klassifikationssystem ist.()“ (Lévi-Strauss 1973, S.268)

Es ist eine Eigenart von Lévi-Strauss, daß er oft Begriffe setzt, ohne sie vorher einzuführen oder wenigstens im nachhinein zu erläutern. Auch die in diesem Zitat kursiv hervorgehoben Verben ‚konzipieren‘, ‚vollziehen‘ und ‚erleben‘ werden von ihm nicht erläutert. Sie tauchen also plötzlich im Text auf, und es bleibt dem Leser überlassen, sich seinen Teil dabei zu denken. Ich halte es ebenso und beschränke mich hier auf die Pointe, daß das wilde Denken ein gelebtes, weil erbliches Klassifikationssystem bildet.

Beide Prädikate, ‚gelebt‘ und ‚erblich‘, verweisen auf Aspekte der Lebenswelt. Wir werden in eine Lebenswelt hineingeboren und leben in ihren Horizonten, ohne daß wir uns ihrer bewußt werden. Dabei entspricht der Husserlsche Horizontbegriff der Lévi-Straussischen Struktur. Noch deutlicher wird diese Parallele am Begriff der Infra-Struktur (vgl. Lévi-Strauss 1973, S.92, 114f.), die ja schon im Wort auf ein Unterhalb (‚infra‘) verweist, also z.B. auf ein Unter-Bewußtsein. Ich selbst ordne die Lebenswelt zwar eher dem Unbewußten als dem Unterbewußten zu, im Sinne eines prinzipiell Unbewußten, während alles Unterbewußte potentiell bewußt ist, also z.B. mit psychoanalytischen Techniken bewußt gemacht werden kann. (Vgl. meinen Post vom 20.04.2012) Aber diese Differenzierung zwischen Unbewußtem und Unterbewußtem ist sehr subtil, und es fällt schwer, sie konsequent durchzuhalten.

Der Begriff der Lebenswelt stammt aus der Phänomenologie (Husserl) und ist auf einen Horizontbegriff bezogen: der Horizont der Lebenswelt bildet prinzipiell nur Binnenhorizonte. Es gibt keinen Außenhorizont zur Lebenswelt. Das ist der Grund, warum die Lebenswelt ein prinzipiell Unbewußtes bildet. Der Lévi-Straussische Begriff der Struktur beinhaltet aber einen Konstruktivismus, was bedeutet, daß die Infra-Struktur rekonstruierbar ist. Sie fungiert zwar auf einer vorbewußten Ebene, kann aber bewußt gemacht werden.

Der immanente Konstruktivismus im Lévi-Straussischen Strukturbegriff wird z.B. an der kybernetischen Funktion deutlich, die die Struktur bei ihm hat: „Nimmt man einen Ausgangspunkt an (dessen Begriff rein theoretisch ist), an welchem die Gesamtheit der Systeme genau ausgewogen war, so wird diese Gesamtheit auf jede Veränderung, die zunächst einen ihrer Teile angreift, wie eine Maschine mit ‚feedback‘ reagieren ... Die legendären Traditionen der Osage, ob sie nun der historischen Wirklichkeit zugehören oder nicht, zeigen, daß das Denken der Eingeborenen von sich aus Interpretationen dieses Typs hat vornehmen können, Interpretationen, die sich auf die Annahme einer strukturalen Regulierung der historischen Entwicklung gründen.“ (Lévi-Strauss 1973, S.85f.)

Der ausgewogene Ausgangszustand eines Gesellschaftssystems, von dem Lévi-Strauss hier spricht, besteht in der durch das Klassifikationssystem festgelegten Anzahl von Positionen und Funktionen, für die eine darauf abgestimmte Anzahl von Eponymen (Namensgebern) zur Verfügung steht. Jede Position bzw. Funktion ist mit einem Eponym verknüpft. Diese Eponyme sind der „ursprünglichen Reihe“ (Lévi-Strauss 1973, S.269), also der Natur, entnommen und können nicht beliebig vermehrt werden.

Jede neue Generation, jedes neugeborene Kind, muß in dieses Klassifikationssystem eingeordnet werden. Solange die bisherigen Postions- bzw. Funktionsinhaber leben, sind die neu hinzu gekommenen Kinder nur Anwärter auf diese Positionen, bis ihnen der Tod Platz verschafft und sie eine freigewordene Position und mit dieser Position das dazugehörige Eponym übernehmen können. Lévi-Strauss bezeichnet die Begrenztheit und die Unveränderlichkeit als eine „ständige() Eigenschaft der klassifikatorischen Systeme“: „... sie sind begrenzt und unverformbar. Durch ihre Regeln und Bräuche legt jede Gesellschaft nur ein strenges und diskontinuierliches Netz über den kontinuierlichen Fluß der Generationen, dem sie auf diese Weise eine Struktur aufzwingt.“ (Lévi-Strauss 1973, S.232)

Dieses „Netz“ bzw. diese Infrastruktur gewährleistet also wie die Lebenswelt die Gewißheit des „Immer-so-weiter“, nur daß wir es hier eben mit einer Art „Maschine“ zu tun haben, die repariert und gewartet werden kann. Das ist immer dann nötig, wenn aufgrund geschichtlicher Ereignisse wie Geburtenüberschüsse, Hungersnöte, Epidemien oder Kriege das demographische Gleichgewicht gestört ist. (Vgl. Lévi-Strauss 1973, S.181) Dann nehmen die weisen Männer Modifikationen und Ergänzungen am Klassifikationssystem vor, die dessen ursprüngliche Logik möglichst intakt erhalten oder sie zumindestens nicht allzusehr deformieren. (Vgl. Lévi-Strauss 1973, S.183f.)

So wie wir heutzutage beim Begriff der Infrastruktur vor allem an Straßen und den Autoverkehr denken, vergleicht auch Lévi-Strauss das Spurenlesen mit dem Autofahren: „Der amerikanische Indianer, der eine Fährte an kaum wahrnehmbaren Indizien abliest, und der Australier, der ohne Zögern die von irgendeinem Mitglied seiner Gruppe hinterlassenen Fußspuren identifiziert ..., verfahren nicht anders als wir, wenn wir ein Auto lenken und in einem einzigen Augenblick aufgrund einer leichten Richtungsänderung der Räder, ein Schwanken im Takt des Motors oder gar aufgrund eines abschätzenden Blickes den Moment für gekommen halten, wo wir einen Wagen überholen oder ihm ausweichen können.“ (Lévi-Strauss 1973, S.256)

Dieser ungewöhnliche, scheinbar unmotivierte Vergleich zwischen dem Spurenlesen und dem Autofahren ist typisch für Lévi-Straussens Darstellungsweise. Immer wieder stellt er rätselhafte Behauptungen auf, die er dann entweder gar nicht oder nur ungenügend erläutert. Auf das Spurenlesen geht Lévi-Strauss auf den folgenden Seiten gar nicht mehr weiter ein, während er das Beispiel vom Autofahren in allen Details durchdiskutiert. Was das Spurenlesen betrifft, muß man sich damit begnügen, daß Spurenlesen und Autofahren gleichermaßen auf einst bewußten, dann ins Unterbewußtsein abgesunkenen Fähigkeiten beruhen. Vielleicht kann man die Spuren im Gelände auch noch mit Wegen assoziieren, die die Tiere oder Menschen gegangen sind, und darin eine weitere Parallele zu den Straßen und Autobahnen unserer technischen Zivilisation sehen.

Letztlich erläutert aber wohl weniger das Spurenlesen den Autoverkehr, sondern der Autoverkehr soll den Technikcharakter des Spurenlesens hervorheben. Das natürliche System, in dem die Menschen ihre Spuren hinterlassen, bildet auf die gleiche Weise eine Infrastruktur wie die technische Umwelt des Autoverkehrs. Nicht das Autofahren ist so ‚natürlich‘ wie das Spurenlesen, sondern das Spurenlesen ist so ‚künstlich‘ wie der Autoverkehr. Und das individuelle Autofahren bildet im Ganzen des Verkehrssystems ein beständiges, homöostatisch ausgeglichenes, kybernetisch reguliertes System aus Aktionen und Reaktionen.

Ein anderes Beispiel ist das Kartenspiel, dessen Regeln schon festgelegt sind, wenn die Spieler zusammenkommen und die Karten verteilen. (Vgl. Lévi-Strauss 1973, S.114f.) Sie haben die Regeln, an die sie sich beim Spielen orientieren, gewissermaßen ‚geerbt‘, also nicht selbst aufgestellt. Auch wenn es nur eine begrenzte Anzahl von Karten gibt, die jedem Spieler zur Verfügung stehen, hat dieser nun doch die Möglichkeit, im Rahmen der Regeln seine ganz individuellen Strategien zu verfolgen.

Auch hier haben wir wieder den konstruktiven Charakter. Die vorgegebene Infrastruktur wurde ‚gemacht‘, wenn auch nicht von den aktuellen Spielern, sondern von irgendwelchen ‚Vorfahren‘ oder ‚Ahnen‘. Ähnlich wie die Lebenswelt bildet sie ein „‚apriorisches‘ Gitter“ (Lévi-Strauss 1973, S.174), das man über einen ‚Text‘ bzw. über die ‚Welt‘ legt und so ihr komplexes Rauschen in eine sinnvolle Nachricht umwandelt.

Und es ist genau dieser Charakter des Gemachtwordenseins, der Konstruktivität, der die Lévi-Straussische Infrastruktur von der Husserlschen Lebenswelt unterscheidet.

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Sonntag, 19. Mai 2013

Claude Lévi-Strauss, Das wilde Denken, Frankfurt a.M. 1973 (1962)

1. Wildes Denken und kultiviertes Denken
2. Gegensatzpaare als Bedeutungsträger
3. Infra-Struktur und Lebenswelt
4. Primäre und sekundäre Qualitäten
5. Geschichte zwischen Chronologie und Anachronismus

Daß es sich beim Strukturalismus um einen Konstruktivismus handelt, wird auch an Lévi-Straussens Definition von Begriffen wie ‚Sinn‘ und ‚Bedeutung‘ deutlich. Lévi-Straus ordnet die damit verbundene Thematik der Nachrichtentechnik bzw. der Informationstheorie zu: „Die Vorstellung, daß die Welt der Primitiven (oder der sogenannten Primitiven) hauptsächlich aus Nachrichten besteht, ist nicht neu. ... Man wird einwenden, daß zwischen dem Denken der Primitiven und dem unseren ein wesentlicher Unterschied fortbesteht: die Informationstheorie interessiert sich für Nachrichten, die authentisch solche sind, während die Primitiven bloße Manifestationen des physischen Determinismus fälschlich für Nachrichten nehmen.“ (Lévi-Strauss 1973, S.308)

Lévi-Strauss verweigert sich einer Unterscheidung zwischen ‚authentischen‘ und bloß scheinbaren Nachrichten, zwischen Information und Materie. Er verweist darauf, daß die moderne Informationstheorie über diese Unterscheidung längst hinaus ist – und sich damit tatsächlich auf einer Ebene mit den ‚Primitiven‘ befindet; denn inzwischen erstreckt sich die Informationstheorie auch „auf Erscheinungen, die nicht von sich aus den Charakter von Nachrichten haben, namentlich auf die der Biologie ...“ (Vgl. Lévi-Strauss 1973, S.309)

Lévi-Strauss verweist hier insbesondere auf die binäre Struktur der Chromosomen, als dem „tieferen Grund für die bevorzugte Bedeutung, die der Mensch dem Begriff der Art zuerkennt“. (Vgl. Lévi-Strauss 1973, S.161) Demzufolge hätte das wilde Denken schon geahnt, daß den Arten ein binärer Code zugrundeliegt. Wenn das wilde Denken also „physische und semantische Eigenschaften“ gleichsetzt, ist es „auf dieselbe Weise logisch, wie es unser Denken ist“. (Vgl.Lévi-Strauss 1973, S.308)

Genau wie in den binären Formeln der Informationstheorie schafft das wilde Denken Bedeutung mit Hilfe von „Gegensatzpaaren“. Die einfachste Art, Bedeutung zu stiften, besteht Lévi-Strauss zufolge darin, eine bestimmte Art (Pflanze oder Tier) als Nahrungsquelle zu verbieten: „In erster Linie erklärt sich der Unterschied zwischen erlaubten und verbotenen Arten weniger aus der vermuteten Schädlichkeit, die der verbotenen Art zugeschrieben wird, also einer ihm immanenten Eigenschaft physischer oder mystischer Ordnung, als vielmehr aus dem Bemühen, eine Unterscheidung zwischen ‚ausgeprägter‘ und ‚nicht-ausgeprägter‘ Art einzuführen. Bestimmte Arten zu verbieten, ist nur ein Mittel unter anderen, sie zu Bedeutungsträgern zu machen ...“ (Lévi-Strauss 1973, S.122)

Es ist also der Gegensatz zwischen erlaubt und nicht erlaubt, der Bedeutung stiftet. Das jeweilige konkrete Individuum als Teil einer Art oder auch die Art selbst spielen dabei überhaupt keine Rolle. Der Gegensatz zwischen zwei Gegenständen stiftet eine ‚Struktur‘, und auf diese Struktur kommt es an. Sie bildet den eigentlichen Kern des Lévi-Straussischen Bedeutungsbegriffs.

Wie strukturell und formal das gemeint ist, zeigt sich z.B. an Lévi-Straussens Behandlung bestimmter Riten wie etwa dem Frauentausch. Er setzt den „Austausch“ von Frauen ohne weiteres gleich mit dem „Austausch“ von Nahrung, ohne auch nur einen Gedanken oder auch nur ein Wort zur Differenz zwischen ‚Frauen‘ und ‚Nahrung‘ zu verschwenden. (Vgl. Lévi-Strauss 1973, S.130ff.) Es kommt auf die Inhalte wie Frauen oder Nahrung gar nicht an, sondern eben nur auf deren kommunikative Funktion innerhalb einer Struktur, die die „gegenseitige Durchdringung der sozialen Gruppen“ gewährleistet. Wir haben es mit Kommunikationsmitteln zu tun. Jede darüber hinausgehende ‚Bedeutung‘, die an den konkreten Frauen haftet, ein persönlicher oder auch menschlicher Sinn, ist irrelevant. Es geht immer nur um die Form, nicht um den Inhalt: „Der Irrtum der klassischen Ethnologen bestand darin, daß sie diese Form verdinglichen, sie an einen bestimmten Inhalt knüpfen wollten, während sie sich dem Beobachter doch als eine Methode darstellt, die jede Art von Inhalt zu assimilieren erlaubt.“ (Lévi-Strauss 1973, S.92f.)

Wenn Lévi-Strauss von Metaphern und Metonymien spricht, meint er deshalb auch nicht bestimmte Aspekte oder Momente am Gegenstand, die ihn geeignet machen, einen Sinn zum Ausdruck zu bringen, der sich einer begrifflichen Logik entzieht, etwa im Sinne einer Theorie der Unbegrifflichkeit, wie sie Blumenberg beschrieben hat. (Vgl. meine Posts vom 06.09. bis zum 10.09.2011) Es geht hier nicht um Vieldeutigkeit und Unbestimmtheit. Vielmehr beschreiben bei Lévi-Strauss Metaphern und Metonymien Struktureigenschaften von Systemen. So ist Lévi-Strauss zufolge die Wissenschaft ‚metonymisch‘, weil sie der Wirklichkeit Naturgesetze abschaut, die sie in Maschinen wie den Webstuhl umsetzt, während die Kunst ‚metaphorisch‘ vorgeht, weil sie die Wirklichkeit in verkleinerte Modelle verwandelt. (Vgl. Lévi-Strauss 1973, S.38) ‚Metonymisch‘ meint in diesem Fall, daß eine maßstabsgetreue ‚Verschiebung‘ bzw. Übertragung von Kräfteverhältnissen aus der Natur in die Technik stattfindet; und ‚metaphorisch‘ meint, daß eine nicht maßstabsgetreue (weil die Dimensionen der Wirklichkeit reduzierende) Verwandlung‘ des Originals zum Modell stattfindet. Mit Sinn bzw. Bedeutung im literarischen Sinne hat die Lévi-Straussische Definition von Metonymie und Metapher nichts mehr zu tun. Vielmehr haben wir es hier nur noch mit Algorithmen zu tun, die Kraftübertragungsprozesse bzw. Informationsprozesse in Gang setzen.

Was hier verloren geht, ist das Weltverhältnis des Menschen, in dem er so etwas wie Sinn oder Bedeutung für sich selbst und für andere allererst finden kann. Das Weltverhältnis wird reduziert auf die Gegenüberstellung zweier Reihen, der natürlichen und der kulturellen, von denen die natürliche Reihe als die ursprüngliche und die kulturelle als die abgeleitete Reihe bezeichnet wird. (Vgl. Lévi-Strauss 1973, S.269) Beide Reihen verweisen nicht aufeinander, sondern laufen parallel nebeneinander her, wobei gelegentlich ‚Nachrichten‘ von der ursprünglichen Reihe zur abgeleiteten Reihe gesendet werden.

Es ist also nicht so, daß der Mensch die Natur anspricht und sie befragt, oder umgekehrt, daß die Natur den Menschen anspricht und ihm Anweisungen gibt. Eine Ansprache wie sie das anderthalbjährige Kind in Anne-Fischer-Bucks Studie praktiziert, das mit den Gegenständen seiner alltäglichen Umwelt einen Tanz aufführt, in dem es auf die Couch springt, auf den Tisch schlägt, dann auf ihn drauf klettert, an den Schrank klopft und zur Tür läuft, auf die er ebenfalls klopft usw., und dieses Spiel in den folgenden Tagen in gleicher Reihenfolge mehrfach wiederholt.

Fischer-Buck merkt dazu an: Das Kind „überträgt seine Sehnsucht nach Trost auf die Couch, auf der die Eltern schlafen. Denn Dirk warf sich immer darauf, wenn er Kummer oder Schmerz hatte. Tisch und Schrank dagegen waren Herausforderungen und er triumphierte, wenn er oben war. Die Tür jedoch war voller Geheimnis, denn durch sie verschwanden die Eltern und kehrten dann doch zurück. Er klopft und hört, was Schrank und Tür sagen und damit beginnt der Dialog mit der Umwelt, bei dem das Äußerliche – nämlich die Beschaffenheit von Couch, Tisch, Tür und vieler anderer Dinge mit hart oder weich, mit dumpf oder klangvoll antworten. Und durch die Bewegung vom einen zum anderen – immer wieder vollzogen – verinnerlicht sich seine Verbundenheit mit der ersten Umwelt, die er erlebt. Es beginnt so etwas wie der eigene Lebensrhythmus, die eigene Lebensmelodie.“ („Zum Sinn der frühkindlichen Bildung“, in: Franz-Fischer-Jahrbuch 2013, S.10f.)

Nichts davon beschreibt Lévi-Strauss im Verhalten des ‚Primitiven‘, und die Frage stellt sich, ob seine strukturalistische Methode überhaupt geeignet ist, solche Zusammenhänge sichtbar zu machen. Wenn überhaupt von einem Verweisungszusammenhang die Rede sein kann, dann besteht er in der ‚Stellvertretung‘. Lévi-Strauss spricht davon, daß die ‚Zeichen‘, also bestimmte signifikante Naturereignisse, mit den ‚Begriffen‘ die „Fähigkeit des Verweisens“ gemeinsam haben: „... beide beziehen sich nicht ausschließlich auf sich selbst, sie können für anderes stehen.“ (Lévi-Strauss 1973, S.31)

Damit widerspricht sich Lévi-Strauss in gewisser Weise selbst, denn an anderer Stelle hebt er hervor, daß sich das Opfer vom Klassifikationssystem des wilden Denkens unterscheidet, in dem alles auf diskontinuierlichen Unterschieden bzw. Gegensatzpaaren beruht: „Beim Opfer ist es umgekehrt: obwohl verschiedene Dinge oft vorzugsweise bestimmten Gottheiten oder bestimmten Typen der Opferung vorbehalten sind, ist das Grundprinzip das der Stellvertretung ... Die Opferung liegt also im Bereich der Kontinuität ...“ (Lévi-Strauss 1973, S.258f.)

Wenn also einmal eine bestimmte Art, Pflanze oder Tier, einem Individuum oder einer Gruppe (Clan) zugeordnet worden ist, bleibt diese Zuordnung unveränderlich erhalten. Die ‚Verweisung‘ kann nicht mehr aufgehoben oder umgewandelt werden, wohingegen ein Opfer jederzeit durch ein anderes Opfer ersetzt werden kann. – Nirgendwo ein tanzendes Kind, das sich und seine Welt erprobt und sich in dem Maße in sie einfügt, wie es sie sich zueigen macht. Es ist eben nicht so, daß die Zuordnung einer bestimmten Pflanze oder eines bestimmten Tieres über die Clanangehörigen irgendetwas aussagt. Sie müssen sich nur an die mit dieser Zuordnung verbundenen Regeln bzw. Riten halten, ohne daß jemand davon in seiner Individualität, in seiner Person betroffen wäre.

Deshalb sind die mit der ursprünglichen Zuordnung von Mineralien, Pflanzen oder Tieren verbundenen Mythen auch so einfallslos: kein Vergleich mit der narrativen Qualität der Odyssee oder der Ilias. Lévi-Strauss spricht von der „Bedeutungslosigkeit“ dieser Mythen, von ihrer „Ärmlichkeit“. (Vgl. Lévi-Strauss 1973, S.264) Sie beschränken sich oft auf die Beschreibung einer Wegstrecke, wo irgendein Vorfahr an einer Wasserstelle, einer Buschgruppe oder einem Felsen vorbeigekommen ist, und so wurde die entsprechende geographische Formation zu einem heiligen Ort: „... der Vorfahr ist an diesem oder jenem Ort erschienen, er ist hierhin gegangen, dann dorthin, er hat diese oder jene Geste gemacht ...“ (Lévi-Strauss 1973, S.280) – Das ist die ganze dürftige und einfallslose Geschichte. Letztlich geht es tatsächlich nur darum, eine bestimmte Information an eine bestimmte Stelle zu heften, einer Pflanze, einem Tier oder eben einem Ort. Das erinnert an ein Gedächtnistraining, wo man lernt, wie man Informationen behält, indem man sie an verschiedenen Stellen eines fiktiven Ortes unterbringt.

Die beiden Reihen der natürlichen und der kulturellen Begebenheiten stehen also in einem sehr reduzierten Verweisungszusammenhang, der vor allem durch die zugrundeliegende Struktur, das System, getragen wird. Es gibt, so Lévi-Strauss, keinen kontinuierlichen Übergang vom „Akt des Benennens“, also des Zuordnens von Artbegriffen und Eigennamen, zum „Akt des Zeigens“. (Vgl. Lévi-Strauss 1973, S.250) Man könnte auch sagen: Es gibt keinen kontinuierlichen Übergang zwischen der Struktur bzw. dem System und dem konkreten Individuum. Und es gibt diesen Übergang deshalb nicht, weil das konkrete Individuum in diesem System nicht vorkommt; weder es selbst noch seine Perspektive, d.h. sein Weltverhältnis. Der eigentliche Verweisungsakt, der „Akt des Zeigens“, durchbricht das System und schlägt eine Bresche in die Struktur.

Indem auf dieses Individuum ‚gezeigt‘ wird oder indem dieses Individuum selbst auf etwas ‚zeigt‘, haben wir es mit einem echten Mensch-Welt-Verhältnis zu tun, in dem der Mensch seine Perspektiven auf sich und die Welt zum Ausdruck bringt. Wir haben es nicht mehr mit Algorithmen zu tun, sondern mit Sätzen mit einer S/P-Struktur, also mit Subjekten und ihren Prädikaten. Mit dieser Struktur gehören diese Sätze zu einem seiner selbst gewissen Bewußtsein; anders als das Klassifikationssystem des wilden Denkens, dessen „Prinzip“, so Lévi-Strauss, sich niemals „postulieren“ läßt (vgl. Lévi-Strauss 1973, S.74; vgl. auch S.82), weil es dem Bewußtsein entzogen ist. Das gilt nicht nur für die Willkürlichkeit in der wechselseitigen Zuordnung an sich bedeutungsloser „Einzelheiten“ in den beiden ‚Reihen‘ (vgl. Lévi-Strauss 1973, S.70), sondern auch für die im letzten Post erwähnte schwangere Frau, die nicht wirklich begründen kann, warum jetzt gerade diese eine Melone, an der sie gerade vorbeigeht, eine solche tiefreichende Bedeutung für die Zukunft ihres ungeborenen Kindes haben soll.

Im Freudschen Sinne haben wir es beim wilden Denken nicht mit Bewußtseinsleistungen, sondern mit „Fehlleistungen“ zu tun (vgl. Lévi-Strauss 1973, S.292); d.h. die Strukturen des Klassifikationssystems bilden nicht das Mensch-Welt-Verhältnis ab, sondern das Unterbewußtsein, in dem nach Freud tatsächlich niemals etwas so ist, wie es zu sein scheint. Wir haben es also niemals mit Phänomenen zu tun, sondern mit dem, was sich hinter ihnen verbirgt. Dem kommen wir nur auf die Spur, wenn wir die Phänomene nicht als das nehmen, was sie sind. Das Bewußtsein ist auf Gestalten bezogen. Wer Gestalten als Gestalten nimmt, d.h. wer sie wahrnimmt, betreibt Phänomenologie. Das Unter-Bewußtsein aber ist in Strukturen organisiert. Und wer die Gestalten in ihrer Funktion innerhalb dieser Struktur analysiert, erforscht das Unter-Bewußtsein und betreibt Psychoanalyse.

Letztlich steht Lévi-Straussens strukturalistische Anthropologie irgendwo zwischen Konstruktivismus und Traumdeutung. Vielleicht besteht ja nicht nur eine Affinität zwischen dem Bastler und dem Ingenieur, sondern auch zwischen dem Ingenieur und dem Analytiker.

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Samstag, 18. Mai 2013

Claude Lévi-Strauss, Das wilde Denken, Frankfurt a.M. 1973 (1962)

1. Wildes Denken und kultiviertes Denken
2. Gegensatzpaare als Bedeutungsträger
3. Infra-Struktur und Lebenswelt
4. Primäre und sekundäre Qualitäten
5. Geschichte zwischen Chronologie und Anachronismus

Viele große Denker schreiben in einer seltsam verklausulierten Sprache und rechtfertigen sich oft genug damit, daß ihr Sprachstil besonders sachangemessen sei, so als hätten sie diese Sprache eigens für das Thema, das sie behandeln, erschaffen müssen. Die Anschaulichkeit bleibt dabei meistens auf der Strecke. Der Leser muß sich in den Sprachstil einarbeiten, wie der Initiand in einen esoterischen Ritus. Auch Lévi-Strauss mutet seinen Lesern einen solchen Sprachstil zu, wobei bei ihm aber auf eine besondere Weise deutlich wird, daß Sachangemessenheit und Esoterik auf dasselbe hinauslaufen: auf Formelhaftigkeit. Mathematisches und magisches Denken stimmen nämlich in der Überzeugung überein, daß sich die wesentlichen Momente der natürlichen Weltereignisse auf mathematische ‚Strukturen‘ zurückführen und mittels ‚Formeln‘ bzw. Algorithmen kontrollieren lassen.

Dabei unterscheidet sich das ‚magische‘ bzw. ‚wilde‘ Denken vom ‚kultivierten‘ Denken vor allem durch seine ‚Umständlichkeit‘ bzw. ‚Umwegigkeit‘ – ähnlich dem umständlichen und umwegigen Sprachstil von Lévi-Strauss –, mit der es die Naturwelt der Pflanzen und Tiere und die Kulturwelt des Menschen zueinander in Beziehung setzt (vgl. Lévi-Strauss 1973, S.29f.), während die in der Form der Mathematik auf die Spitze getriebene denkerische Kultiviertheit alles Menschliche ohne weiteres auf die Biologie reduziert; insbesondere auf die „chromosomische(n) Formeln“ unseres Erbgutes (vgl. Lévi-Strauss 1973, S.161f.), das wir ja zum größten Teil mit Pflanzen und Tieren gemeinsam haben.

Aufgrund der Umwegigkeit des wilden Denkens beschreibt Lévi-Strauss es auch als eine Art von Bastelei („bricolage“; vgl. Lévi-Strauss 1973, S.29ff.). Der Bastler muß ja ebenfalls in seiner Werkstatt mit den Werkzeugen und mit dem Material zurecht kommen, das vorhanden ist, während dem Ingenieur im Verbund mit der modernen Wissenschaft die technologischen Mittel zur Verfügung stehen, sich über die Umstände zu erheben (vgl. Lévi-Strauss 1973, S.32) und sie nach Belieben zu manipulieren. Der Bastler muß sich also den Umständen mehr anpassen und eben Umwege machen. Und solche Umwege geht auch der sogenannte ‚Wilde‘ bzw. ‚Primitive‘, wenn er Strukturelemente seiner natürlichen Umwelt – „als seien es die Elemente einer Nachricht“ (vgl. Lévi-Strauss 1973, S.309) – mit Strukturelementen seiner sozialen Lebenswelt verknüpft und so Mythen und Riten nicht etwa ‚konstruiert‘, wie ein planmäßig vorgehender Ingenieur, sondern zusammenbastelt, wie es eben gerade paßt: „Die signifikanten Bilder des Mythos sind, wie die Materialien des Bastlers, Elemente, die sich nach zwei Kriterien definieren lassen: sie haben gedient, als Wörter einer geformten Rede, die von der mythischen Reflexion ‚demontiert‘ wird, so wie ein Bastler einen alten Wecker demontiert; und sie können noch dienen, zum gleichen Gebrauch oder zu einem anderen Gebrauch, sofern man sie ihrer ersten Funktion entkleidet.“ (Vgl. Lévi-Strauss 1973, S.49)

In diesem Zitat ist zwar nur von den signifikanten Bildern innerhalb eines Mythos die Rede. Diese signifikanten Bilder, als „abgeleitete Reihe“, sind aber wiederum der „ursprünglichen Reihe“ der pflanzlichen und tierischen Umwelt entlehnt: „Die ursprüngliche Reihe ist immer da, bereit, als Bezugssystem zu dienen, um die Wandlungen, die sich in der abgeleiteten Reihe vollziehen, zu interpretieren oder zu korrigieren.“ (Lévi-Strauss 1973, S.269)

Grundsätzlich hält Lévi-Strauss fest, daß der Unterschied zwischen dem Bastler und dem Ingenieur nur ein gradueller ist und daß beide, Bastler, Zauberer und Priester auf der einen Seite, Ingenieure und Wissenschaftler auf der anderen Seite, dasselbe tun: eine Struktur über die Wirklichkeit zu legen, so wie man ein ‚Gitter‘ über einen unverständlichen Text legt, um durch die Lücken des Gitters hindurch einzelne Worte hervorzuheben, die einen verständlichen Satz ergeben. (Vgl. Lévi-Strauss 1973, S.92, 175)

Auch die Mathematik bildet letztlich nichts anderes als ein solches „‚apriorisches‘ Gitter“ (Lévi-Strauss 1973, S.175), und somit kommt im wilden Denken ein ursprünglicher Glaube an den Determinismus zum Ausdruck, der sich auch im mathematischen Determinismus des kultivierten Denkens widerspiegelt. (Vgl. Lévi-Strauss 1973, S.22) Eine weitere Parallele zur modernen Wissenschaft besteht Lévi-Strauss zufolge in der beständigen Aufmerksamkeit des ‚Wilden‘ bzw. ‚Primitiven‘ für seine natürliche Umwelt, in seiner „beharrliche(n) Schulung aller Sinne“, in seinem „Scharfsinn“, „der auch vor der methodischen Analyse tierischer Auswürfe nicht zurückschreckt, um ihre Ernährungsgewohnheiten kennenzulernen, usw.“ (Lévi-Strauss 1973, S.69)

Ein historisches Beispiel für diese menschheitsgeschichtlich frühe Form einer wissenschaftlichen Neugier bildet das „neolithische Paradox“. (Vgl. Lévi-Strauss 1973, S.26) Im Neolithikum traten plötzlich „wesentliche Fertigkeiten der Zivilisation“ wie „Töpferei, Weberei, Landwirtschaft und Tierzucht“ in Erscheinung: „... für all dies bedurfte es zweifellos einer wirklich wissenschaftlichen Geisteshaltung, einer unentwegten und stets wachen Neugier, eines Hungers nach Erkenntnis aus Freude an der Erkenntnis, denn nur ein kleiner Bruchteil der Beobachtungen und Experimente (bei denen man voraussetzen muß, daß sie zunächst und vor allem durch die Freude am Wissen inspiriert waren) konnten zu praktischen und unmittelbar verwendbaren Ergebnissen führen.“ (Lévi-Strauss 1973, S.27)

Der Sammeleifer des frühen Menschen erstreckte sich also keineswegs nur auf die unmittelbaren Dinge der täglichen Lebenserhaltung, eine Lebensform, für die sich die Bezeichnung „Jäger und Sammler“ eingebürgert hat, sondern auch auf ein umfassendes, über die täglichen Lebenserfordernisse weit hinausreichendes Wissen über die Welt: „Dieser Drang nach objektiver Kenntnis ist einer der am meisten vernachlässigten Aspekte des Denkens derer, die wir ‚Primitive‘ nennen. Wenn er sich auch selten auf Wirklichkeiten jener Bereiche richtet, mit denen sich die moderne Wissenschaft befaßt, schließt er dennoch vergleichbare intellektuelle Verfahren und Methoden der Beobachtung ein. In beiden Fällen ist das Universum mindestens ebensosehr Gegenstand des Denkens wie Mittel zur Befriedigung von Bedürfnissen.“ (Lévi-Strauss 1973, S.13)

Die mineralische, botanische, animalische, meteorologische und astronomische Umwelt dient dem ‚Wilden‘ bzw. ‚Primitiven‘ aber nicht nur als unerschöpflicher Gegenstand seiner Neugier, sondern auch als Vorlage für die Struktur bzw. das Gitter, das sein wildes Denken über die Wirklichkeit legt. Indem er seine Umwelt klassifiziert, also zu einem komplexen Artensystem ordnet, wird dieses Ordnungssystem zugleich zu dem sozialen System aus Verwandtschafts- und Funktionsverhältnissen der menschlichen Gesellschaft in Beziehung gesetzt. Die Ordnung der Natur, vergleichbar dem Linnéschen System, wird zum „Modell“ für die Gesellschaftsordnung.

Lévi-Strauss hat dabei eine ganz eigenartige Vorstellung von der Funktionsweise eines Modells. Das Hauptkennzeichen eines Modells besteht ihm zufolge darin, ein verkleinertes Bild von der Wirklichkeit zu liefern, so wie eine Miniatur wie etwa „Schiffe in Flaschen“ oder die japanischen Bonsaibäumchen. (Vgl. Lévi-Strauss 1973, S.36) Sogar die Kunst besteht Lévi-Strauss zufolge darin, Verkleinerungen von der Wirklichkeit zu schaffen. (Vgl. Lévi-Strauss 1973, S.39f.) Mit ‚Verkleinerung‘ ist ganz allgemein der „Verzicht auf bestimmte Dimensionen des Objekts“ gemeint (vgl. Lévi-Strauss 1973, S.37), was zunächst ganz offensichtlich die räumliche Dimension betrifft: ein verkleinertes Modell, etwa ein Miniaturauto, ist nicht so groß wie das reale Auto. Weitere Dimensionen, auf die im Modell verzichtet werden kann, sind „Farben“, „Gerüche“ oder „fühlbare Eindrücke“. (Vgl. Lévi-Strauss 1973, S.37) So gibt etwa ein Landschaftsgemälde nur die Farben der Landschaft wieder, während Gerüche, Geräusche und Tastempfindungen fehlen.

Den ästhetischen Genuß an solchen kunstvollen Modellen führt Lévi-Strauss darauf zurück, daß wir die verkleinerten Modelle in die Hand nehmen können, wie etwa eine Puppe, und nun mit ihnen ‚spielen‘ können: „... in der Verkleinerung erscheint die Totalität des Objekts weniger furchterregend; aufgrund der Tatsache, daß sie quantitativ vermindert ist, erscheint sie uns qualitativ vereinfacht. Genauer gesagt, diese quantitative Umsetzung steigert und vervielfältigt unsere Macht über das Abbild des Gegenstandes; durch das Abbild kann die Sache erfaßt, in der Hand gewogen, mit einem einzigen Blick festgehalten werden.“ (Lévi-Strauss 1973, S.37)

Wieder haben wir hier die Perspektive des Bastlers bzw. Ingenieurs, die Dinge ‚machen‘ bzw. kontrollieren wollen. Im Grunde bildet Lévi-Straussens Strukturalismus nur eine besondere Form des Konstruktivismus. In seiner Anthropologie fühlt sich der Mensch nur unter Dingen bzw. in einer Umwelt wohl, die er selbst konstruiert hat bzw. deren Konstruktionsbedingungen er verstanden hat. Es handelt sich dabei um eine statische Welt, deren Erhaltungsbedingungen wir ständig vor Störungen aller Art schützen müssen, eine Welt der Homöostase, deren kybernetische Mechanismen wir ständig warten und reparieren müssen.

Wenn das wilde Denken jetzt also das Wissen von seiner komplexen Umwelt, an dessen Vervollständigung der ‚Primitive‘ immerzu arbeitet, dazu nutzt, um die menschliche Kulturwelt zu ordnen und zu stabilisieren, so entnimmt es diesem umfassenden Wissen willkürlich einzelne Details – eine Pflanze oder nur den Teil einer Pflanze, ein Tier oder nur eine seiner Lebensäußerungen, etwa den Laut seiner  Rufe oder Schreie, die an irgendetwas in der menschlichen Lebenswelt erinnern –, und korreliert dieses Detail mit einem Ereignis aus der menschlichen Lebenswelt. So wird dieses Detail zu einer „Nachricht“ – die „Welt des Primitiven (oder des sogenannten Primitiven)“ besteht „hauptsächlich aus Nachrichten“ – für denjenigen, der gerade zufällig des Weges kommt, etwa eine schwangere Frau, deren Blick zufällig auf eine Melone fällt, und die nun glaubt, daß diese Melone jetzt in eine unzerstörbare Beziehung zu ihrem ungeborenen Kind getreten ist, was für sein künftiges Leben bedeutet, daß es ganz spezielle Ernährungstabus beachten muß.

Wie das wilde Denken dabei natürliche Vorkommnisse mit kulturellen Bezügen belegt, zeigen folgende Beispiele: „Der aufgeregte Schrei des Hähers (Platylophus galericulatus Cuvier) erinnert, sagen sie, an das Knistern der Glut und verheißt also Erfolg beim Abbrennen des Grases; der Alarmruf eines Trogon (Harpactes diardi Temminck), der mit dem Röcheln eines gewürgten Tieres verglichen wird, verheißt eine gute Jagd, während man vom Alarmschrei des Sasia abnormis Temminck glaubt, er verscheuche die schlechten Geister, die die Felder heimsuchen, indem er sie gleichsam abschabe, weil er dem schabenden Geräusch eines Messers ähnelt. Ein anderer Trogon (Harpactes duvauceli Temminck) verheißt mit seinem ‚Lachen‘ den Erfolg von Handelsexpeditionen und erinnert mit seinen roten, glänzenden Hals- und Rückenfedern an den Glanz, der mit siegreichen Kriegen und fernen Reisen verbunden ist. Es ist klar, daß dieselben Einzelheiten ganz andere Bedeutungen hätten erhalten oder daß andere charakteristische Züge derselben Vögel jenen hätten vorgezogen werden können.“ (Lévi-Strauss 1973, S.69f.)

Sein ganzes immenses Wissen reduziert der ‚Primitive‘ also zum Zweck der Regulierung seiner Lebenswelt auf eine begrenzte Reihe von willkürlich ausgewählten Merkmalen, die modellartig mit der menschlichen Lebenswelt in Beziehung gesetzt werden. Dabei kommt es nur auf die Form dieser Merkmale an, die irgendeine Analogie zur menschlichen Lebenswelt bilden. Wenn man jetzt aber meint, daß das ja nun gar nichts mehr mit unserer modernen Wissenschaft zu tun habe, so übersieht man den strukturellen Determinismus und den Systemcharakter dieser Merkmale. Indem die Umwelt dem ‚Primitiven‘ ständig solche Nachrichten ‚sendet‘, reguliert sie sein individuelles und soziales Leben und erhält es auf diese Weise in einem Gleichgewicht. Und da diese Nachrichten Teil eines formalen Systems sind, bilden sie Algorithmen, so, als hätten wir es mit Computerprogrammen zu tun: wenn sich in dem einen System, der Kulturwelt, bestimmte Dinge ereignen, und parallel dazu in dem anderen System, der Naturwelt, ebenfalls bestimmte Dinge ereignen, dann hat das bestimmte Konsequenzen für die betroffenen Individuen oder sozialen Gruppen.

Wir haben es also tatsächlich mit Formeln zu tun, und ich neige dazu, in diesem Zusammenhang von einer analogischen Mathematik zu sprechen, womit im Unterschied zur narrativen Mathematik, von der hier in diesem Blog auch schon mal die Rede gewesen war (vgl. meine Posts vom 31.08.2011 und vom 24.03.2013), nicht der Zeitfaktor gemeint ist, der den statischen mathematischen Formeln hinzugefügt wird. Ganz im Gegenteil dient die analogische ‚Mathematik‘ des wilden Denkens ja der Aufrechterhaltung zeitloser Zustände. Sie soll ja gerade verhindern, daß etwas passiert und daß sich etwas verändert. ‚Analogisch‘ will ich diese Mathematik nennen, weil sie ihre Strukturelemente der natürlichen Umwelt willkürlich entnimmt, wobei der Gegenstand selbst, in seiner konkreten Gestalt, keine Rolle mehr spielt (vgl. Lévi-Strauss 1973, S.50, 92f.u.ö.) und nur noch eine formale Funktion in einem „divinatorischen System“ (Lévi-Strauss 1973, S.70) übernimmt, so daß es zu seiner Interpretation der „Anstrengung von Mathematikern“ bedarf (vgl. Lévi-Strauss 1973, S.281).

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Mittwoch, 8. Mai 2013

Getreu die wirkliche Erfahrung zur Aussprache bringen!

Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Hamburg 3/1996 (1935/36)

1. „Jedermann, der diese Methode verstehen und zu üben vermag“
2. Gewißheit jenseits allen Zweifels
3. „Daten und Datenkomplexe“
4. Geschichte als Sedimentation
5. Zweite Naivität

Die Naturwissenschaft hat in der Nachfolge von Galilei dazu geführt, daß die „gesamte unendliche Natur“ (Husserl 3/1996, S.38) sich von einer außerwissenschaftlich in „sinnlicher Fülle“ (Husserl 3/1996, S.29) gegebenen Welt in eine „eigenartig angewandte() Mathematik“ (Husserl 3/1996, S.38) verwandelt hat. Der Naturwissenschaftler von heute hat vergessen, daß die Naturwissenschaft einmal von einem lebensweltlichen Naturverständnis ihren Ausgang genommen hat. Oder er hat es verdrängt, weil er davon ausgeht, daß sich in der Mathematisierung der Natur der Sinn der Naturwissenschaft erfüllt:
„In seiner wirklichen Forschungs- und Entdeckungssphäre weiß er (der Naturwissenschaftler – DZ) gar nicht, daß all das, was diese Besinnungen zu klären haben, überhaupt klärungsbedürftig ist, und zwar um des höchsten für eine Philosophie, für eine Wissenschaft maßgeblichen Interesses willen, des der wirklichen Erkenntnis der Welt selbst, der Natur selbst. Und gerade das ist durch eine traditionell gegebene, zur έχνη gewordene Wissenschaft verloren gegangen, soweit es überhaupt bei ihrer Urstiftung bestimmend war. Jeder von einem außermathematischen, außernaturwissenschaftlichen Forscherkreis herkommende Versuch, ihn zu solchen Besinnungen anzuleiten, wird als ‚Metaphysik‘ abgelehnt.“ (Husserl 3/1996, S.61)
Aber in den sedimentierten „Sinnes-Implikationen“ (Husserl 3/1996, S.56) der Lebenswelt ist der ursprüngliche lebensweltliche Sinn, aus dem die neuzeitlichen Naturwissenschaften seit der an der griechischen Antike sich orientierenden Renaissance hervorgegangen sind, aufbewahrt (vgl. Husserl 3/1996, S.S.6f., 12, 14, 16) und auf sie müssen wir uns bzw. die ‚Philosophen‘ sich zurückbesinnen, wenn sie den ‚gegenwärtigen‘ „Zusammenbruch der Wissenschaft“ (Husserl 3/1996, S.63) – Husserl veröffentlicht sein Buch zu einer Zeit, in der der Faschismus sich in ganz Europa auszubreiten droht – in eine Chance zu einer neuen Entwicklung umwenden wollen.

Husserl fordert also eine Neubewertung des Verhältnisses von Lebenswelt und Naturwissenschaft, von Naivität und Reflexion, – ähnlich wie auch schon Nietzsche von der Notwendigkeit einer zweiten Naivität gesprochen hat. (Zur zweiten Naivität vgl. meine Posts vom 28.10.2010, 17.11.2010, 07.12.2010, 14.12.2010, 01.01.2011, 24.01.2011 und 26.11.2012) Um eine zweite Naivität handelt es sich, weil in der Rückwendung auf die erste Naivität des Lebens diese sich verwandelt hat, in eine Möglichkeit, eine Freiheit des Denkens und Handelns.

Dabei ist es gleichgültig, ob es sich bei der ersten Naivität um die Naivität des „Lebens“ handelt oder um eine „philosophische Naivität“, in der die Philologen im Eifer ihrer Textexegesen vergessen, sich die Frage nach dem Sinn ihres Tuns zu stellen, oder wenn heutige Philosophen glauben, ohne Bezug auf die Erkenntnisse der Neurophysiologie nicht mehr philosophieren zu dürfen:
„Daß der rechte Rückgang zur Naivität des Lebens, aber in einer über sie sich erhebenden Reflexion, der einzig mögliche Weg ist, um die in der ‚Wissenschaftlichkeit‘ der traditionellen objektivistischen Philosophie liegende philosophische Naivität zu überwinden, wird sich allmählich vollkommen erhellen und wird der schon wiederholt vorgedeuteten neuen Dimension die Tore öffnen.“ (Husserl 3/1996, S.64)
Die Reflexion, die sich auf die erste Naivität zurückwendet, erhebt sich zugleich über sie und eröffnet eine neue Denk- und Handlungsebene, eine neue Sinndimension, die die bisherigen Denk- und Handlungsebenen transzendiert. Ich spreche in diesem Zusammenhang von einer „Ebenentranszendenz“. (Vgl. meine Posts vom 13.07. und vom 16.07.2012) Und das gilt nicht nur für Menschheitsfunktionäre wie die Philosophen, sondern für jeden von uns. Der notwendige, kritische Rückgang auf die „Naivität des Lebens“ ist die Aufgabe eines jeden denkenden Menschen, nicht im Sinne einer „finalen Harmonie“ (Husserl 3/1996, S.80), sondern im Sinne einer immer wieder neu zu findenden Balance zwischen Naivität und Reflexion.

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Dienstag, 7. Mai 2013

Getreu die wirkliche Erfahrung zur Aussprache bringen!

Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Hamburg 3/1996 (1935/36)

1. „Jedermann, der diese Methode verstehen und zu üben vermag“
2. Gewißheit jenseits allen Zweifels
3. „Daten und Datenkomplexe“
4. Geschichte als Sedimentation
5. Zweite Naivität

Obwohl wir es bei der Lebenswelt als der transzendentalen Möglichkeitsbedingung jeder Wissenschaft, also auch der Naturwissenschaft (vgl. Husserl 3/1996, S.53f., 64, 75f.), nur mit einem „empirischen Gesamtstil“ zu tun haben, mit einer Gewohnheitskausalität (vgl. Husserl 3/1996, S.31), letztlich also mit einem „Schwanken des bloß Typischen“ (vgl. Husserl6/1996, S.24), weist Husserl ihr den Status einer Letztbegründung, eines „letzten Seinssinns“ zu (vgl. Husserl 3/1996, S.75f.). Wie sich dieser letzte Seinssinn in eine, von einer „Urstiftung“ des europäischen Menschentums in der Renaissance (vgl. Husserl 3/1996, S.12ff.) bis zur „Endstiftung“ einer „finalen Harmonie“ (vgl. Husserl 3/1996, S.79f.) reichenden, noch unvollendete Entwicklungslinie einordnet, wird von Husserl nicht weiter ausgeführt.

Immerhin haben wir es bei seinem Buch zur „Krise der europäischen Wissenschaften“ nur mit einer „Einleitung“ zu tun, so daß man dem Autor zugute halten kann, daß die entsprechenden Antworten in einem der nachfolgenden Bände gegeben worden wären, wenn er sie denn noch geschrieben hätte. Außerdem weist Husserl schon in dieser Einleitung selbst auf die Funktionärskaste hin, die für diese letzten Sinnfragen und damit für die Rettung des europäischen Menschentums zuständig ist: die Philosophen (vgl. Husserl 3/1996, S.17 u.ö.): „Wir  sind eben, was wir sind, als Funktionäre der neuzeitlichen philosophischen Menschheit, als Erben und Mitträger der durch sie hindurchgehenden Willensrichtung ...“ (Husserl 3/1996, S.78)

Ich habe so meine Probleme mit Letztbegründungen (vgl. meinen Post vom 11.07.2012) und mit die Geschichte durchziehenden Willensrichtungen (vgl. meinen Post vom 06.08.2010). Dennoch spricht Husserl einen wichtigen Aspekt der Geschichtlichkeit des menschlichen ‚Seins‘-Sinns an, den ich allerdings nicht als Seinssinn, sondern als Prozeß-Sinn verstehe: die Sedimentation. Husserl zufolge fügen sich über die Sedimentation von „Sinnes-Implikationen“ (Husserl 3/1996, S.56) die Generationen zu „generativ und sozial verbundenen Menschheiten“ (Husserl 3/1996, S.15) zusammen. Auch ich sehe das so; nur glaube ich aber nicht, daß sich diese Verbundenheit zu einer „Kette“ fügt. (Vgl. Husserl 3/1996, S.79f.)

Die von Husserl angesprochene „Kette der Denker“ beruht auf der Voraussetzung einer „latenten“ (Husserl 3/1996, S.14) bzw. „verborgenen Vernunft“ (Husserl 3/1996, S.56), die sich aus diesen Sedimenten wie ein Goldschatz bergen läßt: im Sinn einer „verborgenen Einheit intentionaler Innerlichkeit, welche allein Einheit der Geschichte ausmacht“ (vgl. Husserl 3/1996, S.80). Die Entbergung dieser latenten Vernunft verleiht Husserl zufolge der ‚goldenen‘ Kette der Denker die Weihe einer „apodiktischen Methode“. (Vgl. Husserl 3/1996, S.79)

Ich denke nun aber ganz im Gegenteil, daß die ‚Sedimente‘ nicht das Material für das Schmieden einer solchen apodiktisch zwingenden Kette liefern. Wir haben es hier nicht mit einer wie auch immer zu bergenden ‚Vernunft‘ zu tun – etwa im Habermasschen Sinne eines rekonstruierenden Zugangs zu historischen Entwicklungsdynamiken. (Vgl. meinen Post vom 20.01.2013; vgl. auch meinen Post vom 10.09.2012) Die in der individuellen Ontogenese fortwirkenden ‚Sedimente‘ bilden kein „Telos“ (vgl. Husserl 6/1996, S.17, 77) biologischer, kultureller und  psychologischer Entwicklungsprozesse, sondern einen Anachronismus. Diesen Anachronismus verstehe ich analog zu Plessners exzentrischer Positionalität als ein Herausfallen des Menschen aus der Zeit, in der er sich zugleich handelnd verwirklicht; also gleichzeitig innerhalb wie außerhalb der Zeit.

Darin steckt keinerlei Vernunft, nur die Freiheit des Denkens und der Entscheidung, und das ist nicht wenig. Erst in der Freiheit des Denkens und Entscheidens entsteht Vernunft, nicht umgekehrt. So könnte man auch sagen, daß die Unvernunft die Vernunft begründet. Jedenfalls wird die Vernunft nicht in Sedimenten bewahrt und kann auch nicht über die Zeiten hinweg aus ihnen herausgegraben oder gefischt werden.

Im Grunde kommt Husserl selbst ganz nahe an diesem Anachronismus heran, wenn er das Verfahren beschreibt, mit dem seiner Ansicht nach die „Funktionäre der neuzeitlichen philosophischen Menschheit“ (Husserl 3/1996, S.78) vorgehen müssen und das ganz und gar nichts Apodiktisches an sich hat. Demnach stehen „wir“, also die Funktionärsphilosophen, „in einer Art Zirkel“:
„Das Verständnis der Anfänge ist voll nur zu gewinnen von der gegebenen Wissenschaft in ihrer heutigen Gestalt aus, in der Rückschau auf ihre Entwicklung. Aber ohne ein Verständnis der Anfänge ist diese Entwicklung als Sinnesentwicklung stumm. Es bleibt uns nichts anderes übrig: wir müssen im ‚Zickzack‘ vor- und zurückgehen; im Wechselspiel muß eins dem anderen helfen. Relative Klärung auf der einen Seite bringt einige Erhellung auf der anderen, die nun ihrerseits auf die Gegenseite zurückstrahlt. So müssen wir ... beständig historische Sprünge machen, die also nicht Abschweifungen, sondern Notwendigkeiten sind. Notwendigkeiten, wenn wir, wie gesagt, diejenige Aufgabe der Selbstbesinnung auf uns nehmen, welche aus der ‚Zusammenbruchs‘-Situation unserer Zeit, mit ihrem ‚Zusammenbruch der Wissenschaft‘ selbst, erwachsen ist.“ (Husserl 3/1996, S.63)
Fast allem, was Husserl hier zur Methode einer Geschichtsvergewisserung sagt, kann ich zustimmen. Sehr schön beschreibt er den Zickzack-Weg, der der anachronistischen Natur des Menschen entspricht, in der sich nichts einfach logisch aus irgendetwas anderem ergibt, sondern alles vielfach miteinander verknüpft ist. Gerade die allzu stromlinienförmigen, allzu glatt in ihre ‚Zeit‘ passenden Zeitgenossen machen auf mich oft den Eindruck, nicht ganz da zu sein, während diejenigen, die mit ihrer Zeit kämpfen, mit ihr im Streit liegen und unter ihr leiden, und die manchmal denken, sie lebten in der falschen Zeit, mit beiden Beinen in der Mitte des Lebens stehen.

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Montag, 6. Mai 2013

Getreu die wirkliche Erfahrung zur Aussprache bringen!

Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Hamburg 3/1996 (1935/36)

1. „Jedermann, der diese Methode verstehen und zu üben vermag“
2. Gewißheit jenseits allen Zweifels
3. „Daten und Datenkomplexe“
4. Geschichte als Sedimentation
5. Zweite Naivität

Husserl kritisiert an „Sensualisten“ wie etwa John Locke, daß sie Sinnes- bzw. Empfindungsdaten mit realen, „an den Körpern selbst“ wahrgenommenen Eigenschaften von Körpern gleichsetzen. (Vgl. Husserl 3/1996, S.29f.) Auf diese Weise „unterschieben“ sie „der Wahrnehmung, die uns doch Dinge (die Alltagsdinge) vor Augen stellt, bloße Sinnesdaten“. (Vgl. Husserl 3/1996, S.104) Mancher wird vielleicht an dieser Stelle gleichgültig mit der Schulter zucken und sich fragen, wie man denn überhaupt zwischen Sinnesdaten ‚im Kopf‘ und realen Eigenschaften von Körpern außerhalb des Kopfes unterscheiden soll? Andere werden vielleicht an dieser Stelle genau aus denselben Gründen neugierig und wissen wollen, was Husserl genau damit gemeint haben könnte.

Mit Husserl müßte man die Frage nach dem Unterschied zwischen der Welt im Kopf und der Welt da draußen zurückweisen, weil sie falsch gestellt ist. Denn es geht nicht um ein Wissensproblem, also wie man von einer Außenwelt wissen kann, sondern um ein ethisches Problem: was wäre denn die Konsequenz, wenn es keine Außenwelt gäbe? – Nach Husserl besteht die Konsequenz einer „Lehre“, derzufolge die Phänomene „nur in den Subjekten“ sind, „als kausale Folgen der in der wahren Natur stattfindenden Vorgänge, die ihrerseits nur in mathematischen Eigenschaften existieren“, darin, daß „die gesamten Wahrheiten des vor- und außerwissenschaftlichen Lebens, welche sein tatsächliches Sein betreffen, entwertet“ werden. (Vgl. Husserl 3/1996, S.58)

Das eigentliche Rangverhältnis zwischen Lebenswelt und mathematisch berechenbarer ‚Natur‘ wird damit auf den Kopf gestellt. Denn so wie die S/P-Struktur unserer unbezweifelbaren Selbstgewißheit allen mathematischen Formeln erst ihren Sinn verleiht, so bildet die vorwissenschaftliche Lebenswelt die transzendentale Voraussetzung für die Möglichkeit der Naturwissenschaft:
„Der Transzendentalismus ... sagt: der Seinssinn der vorgegebenen Lebenswelt ist subjektives Gebilde, ist Leistung des erfahrenden, des vorwissenschaftlichen Lebens. In ihm baut sich der Sinn und die Seinsgeltung der Welt auf, und jeweils der Welt, welche dem jeweilig Erfahrenden wirklich gilt. Was die ‚objektiv wahre‘ Welt anlangt, die der Wissenschaft, so ist sie Gebilde höherer Stufe, aufgrund des vorwissenschaftlichen Erfahrens und Denkens bzw. seiner Geltungsleistungen. Nur ein radikales Zurückfragen auf die Subjektivität, und zwar auf die letztlich alle Weltgeltung mit ihrem Inhalt und in allen vorwissenschaftlichen und wissenschaftlichen Weisen zustandebringende Subjektivität, sowie auf das Was und Wie der Vernunftleistungen kann die objektive Wahrheit verständlich machen und den letzten Seinssinn der Welt erreichen.“ (Husserl 3/1996, S.75f.)
Wenn jetzt wiederum einige denken, diese Textstelle sei doch ein eindeutiges Plädoyer für den radikalen Konstruktivismus, da Husserl ja alles auf die lebensweltliche Subjektivität zurückführt, und nun vollends nicht verstehen können, warum Husserl auf den Unterschied zwischen Sinnesdaten und realen Eigenschaften von Körpern besteht, so übersehen sie zum einen die Naivität dieser lebensweltlichen Subjektivität, und zum anderen verstehen sie nicht den Unterschied zwischen einem leistenden und einem konstruierenden Bewußtsein.

Der „Seinssinn“, sagt Husserl im obigen Zitat, sei eine „Leistung des erfahrenden, des vorwissenschaftlichen Lebens“. Immer wieder bezeichnet Husserl das „Bewußtsein“ als „leistendes Leben“, als „recht oder schlecht, Seinssinn leistendes“. (Vgl. Husserl 3/1996, S.99) Bewußtsein, das etwas ‚leistet‘, bedeutet in der Husserlschen Diktion aber nicht, daß es etwas konstruiert. Es vollzieht vielmehr einen Seinssinn; und mit Bezug auf die Lebenswelt: es fungiert.

Wir haben es also nicht mit einem bewußten konstruierenden Ingenieur zu tun, sondern mit einer Naivität. Und Husserl wird nicht müde, immer wieder darauf hinzuweisen, daß es zur Bewahrung des Sinns von Wissenschaft, und ineins damit zur Bewahrung des „europäischen Menschentums“ darum geht, auf diese Naivität zurückzukommen. (Vgl. Husserl 3/1996, S.63) Nur ein „radikales Zurückfragen auf die Subjektivität“, eben auf die vorwissenschaftliche Lebenswelt, kann über die bloß „objektive Wahrheit“ der Wissenschaft hinaus zum „letzten Seinssinn der Welt“ vorstoßen. (Vgl. Husserl 3/1996, S.76) Diese Naivität, auf die Husserl zurückfragen möchte, konstruiert nicht: sie leistet bzw. fungiert.

Wenn wir aber nun der sinnlichen Wahrnehmung, die den Körpern reale Eigenschaften zuordnet, bloße „Sinnesdaten“ „unterschieben“ (vgl. Husserl 3/1996, S.104), verwandeln wir die lebensweltlich entscheidende Differenz zwischen Innen und Außen, zwischen bloßer „Fiktion“ und realer Welt in lauter berechenbare „Daten und Datenkomplexe“ (vgl. Husserl 3/1996, S.104; vgl. auch S.96), ja, die Person selbst wird zu einem „unaufhörlich wechselnde(n) Haufen von Daten“ (vgl. Husserl 3/1996, S.96). Im Grunde hat Husserl hier schon die virtuellen Realitäten unserer Computerwelten vorweggenommen, auch wenn er statt von ‚Algorithmen‘ von ‚geregelten‘ Assoziationen von Datenkomplexen spricht. (Vgl. Husserl 3/1996, S.96)

Es geht Husserl also genau um die Unterscheidung, die ich auch schon in meinen beiden Posts vom 25.10.2011 mit meiner Differenzierung zwischen einer Informationstheorie und einer Gegenstandstheorie der Wahrnehmung beschrieben habe. Es geht eben nicht darum, wie man in einem streng empirischen Sinne zwischen Informationen und Gegenständen, zwischen Sinnesdaten und realen Eigenschaften unterscheiden kann. Es geht vielmehr um eine Neubewertung des Verhältnisses von Lebenswelt und Wissenschaft, von alltagssprachlicher S/P-Struktur und mathematischem Formelsinn:
„Wir sprechen hier und überall, getreu die wirkliche Erfahrung zur Aussprache bringend, von Qualitäten, von Eigenschaften der wirklich in diesen Eigenschaften wahrgenommenen Körper. Und wenn wir sie als Füllen von Gestalten bezeichnen, so nehmen wir auch diese Gestalten als Qualitäten der Körper selbst, und auch als sinnliche, nur daß sie als αίσϑητά κοινά (körperliche Eigenschaften – DZ) nicht die Bezogenheit auf ihnen allein zugehörige Sinnesorgane haben wie die αίσϑητά ίδια (Sinnesempfindungen – DZ).“ (Husserl 3/1996, S.30)
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Sonntag, 5. Mai 2013

Getreu die wirkliche Erfahrung zur Aussprache bringen!

Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Hamburg 3/1996 (1935/36)

1. „Jedermann, der diese Methode verstehen und zu üben vermag“
2. Gewißheit jenseits allen Zweifels
3.„Daten und Datenkomplexe“
4. Geschichte als Sedimentation
5. Zweite Naivität

Wenn Husserl schreibt, daß er sich nicht der „naturwissenschaftlichen Sprechweise“ bedienen könne, weil es ihm darum gehe, „die ‚ursprüngliche Anschauung‘ zur Geltung zu bringen“ (vgl. Husserl 3/1996, S.64), so meint er sicherlich nicht, daß man im Ernst von ihm erwartet hätte, daß seine 1936 als Buch erschienenen, in Wien und Prag gehaltenen Vorträge statt in mehr oder weniger wohlgeformten Sätzen mit Subjekt-Prädikat-Struktur (vgl. meinen Post vom 23.01.2011) in lauter mathematischen Formeln abgefaßt und vorgetragen würden.

Wenn Husserl dennoch zwischen einer naturwissenschaftlichen und einer naiven Sprechweise unterscheidet, dann geht es ihm um eine neue Gewichtung dieser naiven Sprechweise und ineins damit um eine Neubewertung der vorwissenschaftlichen Lebenswelt. Die mathematischen Satzstrukturen bestehen Husserl zufolge aus „Buchstaben“, wie in der Algebra, und aus „Verbindungs- und Beziehungszeichen“ wie + und × usw. (Vgl. Husserl 3/1996, S.49) Bei ihrer Zusammenordnung, ihrer ‚Syntax‘, haben wir es lediglich mit „Spielregeln“ zu tun, wie bei einem „Karten- und Schachspiel“. (Vgl. ebenda)

Worin besteht aber der Unterschied zwischen bloßen Spielregeln und den Regeln bzw. der Grammatik einer Sprache? Auch die Sprache ist bei einigen französischen Strukturalisten wie etwa Ferdinand de Saussure mit einem Schachspiel verglichen worden. Und angelsächsische Linguisten sprechen gerne vom „Sprachspiel“. Als Student habe ich mir den Spaß gemacht, mir anhand der unterschiedlichen Spielregeln von Doppelkopf und Schach entsprechend unterschiedliche Sprachmodelle auszudenken. Und ich weiß noch, wie ich in einem Seminar zur generativen Transformationsgrammatik (Noam Chomsky) gesessen habe, wo uns ein junger Dozent, der zu diesem Thema seine Doktorarbeit geschrieben hatte, vorführte, wie man den Satz: „Der Rabe ist ein Vogel!“ in eine mathematische Formel übersetzt. Wir bestaunten damals den jungen Dozenten wie ein Alien von einem fremden Planeten, weil wir es kaum fassen konnten, daß sich jemand ernsthaft mit solchen Spinnereien befaßte. Das war zu Beginn der achtziger Jahre, und es dauerte noch ein bißchen bis zur allgemeinen Computerisierung von Wissenschaft, Wirtschaft, Verwaltung und Freizeit. Es war uns damals noch nicht bewußt gewesen, daß wir es hier mit Algorithmen zu tun hatten, die die Grundlage für eine Software bildeten, die die Welt nachhaltig bis zur Unkenntlichkeit verändern würde.

Wenn Husserl also von einer naturwissenschaftlichen Sprechweise spricht, dann sind diese „Spielregeln“ innerhalb eines „technischen Verfahren(s)“ gemeint, das wie ein Karten- oder ein Schachspiel auf nichts verweist als auf sich selbst und dem erst von einem „ursprüngliche(n) Denken“ her „Sinn“ und „Wahrheit“ verliehen wird (vgl. Husserl 3/1996, S.49); also von einem Denken her, das noch um die Vogelartigkeit des Raben weiß und beides in naiven Worten zum Ausdruck bringt, bevor sie in Buchstaben und Verbindungszeichen aufgelöst werden.

Husserl verweist auf einen „tief verborgenen Sinn“ (Husserl 3/1996, S.82) in Descartes’ Gewißheits-‚Formel‘, dem cogito ergo sum! Wobei wir jetzt angesichts der vorangegangenen Erörterung nicht mehr irreführend von einer ‚Formel‘ sprechen dürfen: Der Satz, der Descartes zufolge die allergewisseste Gewißheit jenseits allen vernünftigen Zweifelns zum Ausdruck bringt (Husserl 3/1996, S.83), bildet nämlich tatsächlich einen echten, vollständigen Satz und keine abstrakte Formel! Descartes hat diese Gewißheit in Worte gefaßt und nicht in mathematische Zeichen. Denn das ‚ego‘ im ‚cogito‘ bildet als transzendentales Ego zugleich ein Satzsubjekt, das nach seinen Prädikaten verlangt, den cogitata, und ineins mit diesen cogitata nach einer Welt als der Totalität aller cogitata: „in derselben Evidenz“, wie das ‚ego‘ des Cogito, „ist auch sehr Mannigfaltiges beschlossen. Sum cogitans, diese Evidenzaussage lautet konkreter: ego cogito – cogitata qua cogitata.“ (Vgl. Husserl 3/1996, S.85)

Die Welt und ihre Inhalte bilden nun, schreibt Husserl, „unabtrennbare Bestände meiner cogitationes, eben als ihre cogitata“. (Vgl. Husserl 3/1996, S.85) Das heißt aber nichts anderes als: die fundamentalste Gewißheit, aus der alles andere hervorgeht, auch die Mathematik, hat eine S/P-Struktur. Die Sprache ist fundamentaler als die Mathematik, und erst von dieser Sprache her, von ihrer das menschliche Selbst- und Weltverhältnis organisierenden S/P-Struktur her, erhält die Mathematik mit ihren „technischen Verfahren“ ihren Sinn. Wer ‚Ich‘ sagt, muß auch ‚Welt‘ sagen; oder ‚Seele‘.

Soweit folge ich Husserl. Aber an dieser Stelle unterläuft Husserl ein Gedankenfehler, gegen den ich Einspruch erheben möchte. Was meint Husserl an dieser Stelle mit ‚Seele‘? Er bezeichnet damit das Verhältnis des transzendentalen Ego zu sich selbst, also zu seinen ‚inneren‘ Phänomen, während der Weltbezug sich auf alle äußeren Phänomene richtet. (Vgl. Husserl 3/1996, S.108f.) Die ‚Seele‘ bildet also das Gesamt aller cogitata bzw. Prädikate, die mich selbst ausmachen, und die ‚Welt‘ bildet das Gesamt aller cogitata bzw. Prädikate, die anderes bezeichnen als mich.

Mit dieser Unterscheidung will Husserl vermeiden, daß man das transzendentale Ego, also das Satzsubjekt im cogito, mit der Seele gleichsetzt. Das Ego setzt sich in der Selbstgewißheit des cogito eine Welt gegenüber, kann also selbst keine Welt bilden: „Das Ego ist nicht ein Residuum der Welt, sondern die absolut apodiktische Setzung, die nur durch die Epoché, nur durch die ‚Einklammerung‘ der gesamten Weltgeltung ermöglicht und als einzige ermöglicht wird.“ (Husserl 3/1996, S.87f.)

‚Einklammern der Weltgeltung‘ soll hier heißen, daß wir es hier nur mit einer Satzstruktur zu tun haben, nicht mit der realen Welt. In dieser realen Welt können wir nämlich an allem möglichen zweifeln. Nichts in der realen Welt ist dem radikalen Zweifel entzogen. Das Einzige, was ich mit apodiktischer Gewißheit nicht bezweifeln kann, bin ich selbst, der ich meinem Zweifel in meinen cogitationes Ausdruck verleihe. Und ineins mit diesen cogitationes bezweifel ich auch die Welt nicht, denn ohne cogitata – ohne ‚Welt‘ oder auch ohne Prädikate – keine cogitationes. Einfacher gesagt: kein Denken ohne Gedanken, kein Bewußtsein ohne Inhalt.

Wenn also das transzendentale Ego kein „Residuum der Welt“ bildet, weil es die Welt im Denkakt allererst konstituiert, so kann es auch nicht die ‚Seele‘ sein, die ja Husserl zufolge selbst nur den Gegenstand bzw. ein Prädikat des sich selbst denkenden Ichs bzw. Egos bildet.

Halten wir also fest: sowohl Seele als auch Welt bilden beides notwendige und unabtrennbare Bestände meiner cogitationes. Kaum beginnt Ego zu denken – cogito –, so ergibt sich damit ineins eine Welt von cogitata, und in logischer Zwangsläufigkeit mit dieser Welt auch eine Seele.

Jetzt kommen wir zu Husserls Gedankenfehler. Husserl stellt in apodiktischer Form fest, daß mit derselben Naivität, mit der das transzendentale Ego immer wieder mit der Seele verwechselt worden ist, seit Jahrhunderten niemand an „Schlüssen von dem Ego und seinem cogitativen Leben aus auf ein ‚Draußen‘ Anstoß nahm und eigentlich niemand sich die Frage stellte, ob hinsichtlich dieser egologischen Seinssphäre ein ‚Draußen‘ überhaupt einen Sinn haben könne ...“ (Vgl. Husserl 3/1996, S.88f.)

Daß Husserl die Scheidung zwischen Innen und Außen nicht als einen Bestandteil der S/P-Struktur der unbezweifelbaren Selbstgewißheit des transzendentalen Ego akzeptieren will, liegt wahrscheinlich daran, daß die reale Geltung der Welt in dieser Selbstgewißheit eingeklammert ist und diese Welt nur als syntaktische Notwendigkeit der S/P-Struktur des cogito zur Geltung kommt. Aber auf dieser Ebene eines fehlenden Realweltbezuges stellt die S/P-Struktur in ihrer Selbstbezüglichkeit – also ohne sie als Index auf die Realitätshaltigkeit von Welt zu verstehen – tatsächlich nur noch ein Sprachspiel dar, auf einer Ebene mit Schach. Sie würde sich von mathematischen Formeln nicht unterscheiden, und auf diesen Unterschied kommt es Husserl doch eigentlich an.

Denn daß mathematische Formeln keine S/P-Struktur beinhalten, macht noch keinen qualitativen Unterschied aus, sondern erst der mit der fehlenden S/P-Struktur einhergehende fehlende Realweltbezug. Und nur weil die S/P-Struktur einen solchen Realweltbezug indiziert, ist sie als Satzstruktur im ursprünglichen Sinne für das ganze menschliche Selbst- und Weltverhältnis so grundlegend.

Husserls Hinweis darauf, daß im Weltbezug der cogitationes der Unterschied zwischen der ‚Welt‘ und der ‚Seele‘, als Bezug des transzendentalen Egos zu sich selbst, mit einbeschlossen ist, beinhaltet das Zugeständnis einer Unterscheidung zwischen ‚inneren‘ und ‚äußeren‘ cogitata, so daß sich Husserl hier selbst widerspricht, wenn er den Schluß vom Ego auf ein „Draußen“ für nicht zulässig hält.

Jedes Selberdenken beruht also auf einer ständigen Neubesinnung an der Schwelle eines individuellen Selbst- und Weltverhältnisses auf der Basis einer vorwissenschaftlichen, ‚naiven‘ Sprechweise. Damit ist unsere Frage aus dem vorangegangen Post beantwortet: nicht nur ist Selberdenken jenseits der Mathematik möglich, sondern auch deren Beurteilung; und letzteres sogar nur jenseits der Mathematik.

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Samstag, 4. Mai 2013

Getreu die wirkliche Erfahrung zur Aussprache bringen!

Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Hamburg 3/1996 (1935/36)

1. „Jedermann, der diese Methode verstehen und zu üben vermag“
2. Gewißheit jenseits allen Zweifels
3. „Daten und Datenkomplexe“
4. Geschichte als Sedimentation
5. Zweite Naivität

Hatte ich mich schon bei Jürgen Habermas und seiner Bemerkung zu den „Peers“, zu denen man dazugehören müsse, wenn man kein Scharlatan sein wolle, gefragt, ob ich denn nun dazugehöre oder ob ich eher ein Scharlatan bin (vgl. meinen Post vom 16.02.2013), so geht es mir nun auch mit Husserls Bemerkung zur Mathematik als einer identische Wahrheiten garantierenden Methode: ihr müsse jedermann, „der diese Methode verstehen und zu üben vermag“, unbedingt zustimmen. Wer das nicht kann, so muß man im Umkehrschluß folgern, verbleibt im Bereich der „Relativität der subjektiven Auffassungen“. (Vgl. Husserl 3/1996, S.29) – Mit anderen Worten: im Bereich der Scharlatanerie.

Hiermit gestehe ich einmal mehr: ich kann’s nicht. (Vgl. meinen Post vom 17.04.2011) Aber was hat es eigentlich mit dieser Mathematik auf sich, die die Menschheit in zwei Teile spaltet: in die Könner und in die Nicht-Könner? Muß ich mich als einer, der sie nicht zu verstehen und zu üben vermag, auch des Urteils über sie enthalten, nach dem Motto, daß nur die Experten über ihr Fachgebiet urteilen dürfen? Denn ich bin ja nicht nur kein Experte, sondern noch nicht einmal ein Amateur.

Aber auch, wenn ich niemals den Anspruch erhoben habe, Mathematik zu ‚können‘, so war ich doch immer der Meinung, mich qua eigener Machtvollkommenheit als einen „Selbstdenker“ bezeichnen zu dürfen. Denn ganz im Sinne von Kants „sapere aude!“ nennt Husserl als wichtigste Voraussetzung des Selbstdenkens den „Willen zur Befreiung von allen Vorurteilen“. (Vgl. Husserl 3/1996, S.79) Sich keinen Autoritäten zu unterwerfen, ob nun staatlichen oder kirchlichen Machthabern oder auch nur den eigenen undurchdachten Meinungen, – das müßte doch auch jenseits der Mathematik möglich sein. Und vielleicht kann man sogar sagen, daß es nur jenseits der Mathematik möglich ist?

Dieser Frage will ich in diesem und in den nächsten Posts nachgehen, und dabei soll mir Husserls Buch „Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie“ (3/1996 (1935/36)) helfen; ein Buch, das ich schon lange in meinem Bücherregal stehen habe, das ich aber trotz wiederholter, immer wieder gescheiterter Versuche erst jetzt geschafft habe zu lesen. Es war immer schon eine mühsame Arbeit für mich, Husserls kunstvoll verklausulierte, über ganze Absätze sich erstreckende Schachtelsätze zu entziffern, so daß ich für ihn immer nur als Steinbruch für Ideenstücke und Gedankensplitter Verwendung hatte und nur wenige, kürzere Aufsätze von ihm ganz durchgelesen habe. Aber trotz aller Verschachtelungen: es handelt sich immer noch um Sätze mit Subjekten und Prädikaten und nicht um mathematische Formeln. Und für solche Sätze halte ich mich für zuständig.

Was genau also leisten Husserl zufolge die Geometrie und die späteren formalisierten Mathematiken wie etwa die Algebra? Ich erwähnte es schon: sie überwinden die „Relativität der subjektiven Auffassungen“ (Husserl 3/1996, S.29), die darin besteht, daß die vorwissenschaftliche Welt „in der alltäglichen sinnlichen Erfahrung“ nur „subjektiv-relativ“ gegeben ist: „Jeder von uns hat seine Erscheinungen, und jedem gelten sie als das wirklich Seiende. Dieser Diskrepanz unserer Seinsgeltungen sind wir im Verkehr miteinander längst inne geworden.“ (Husserl 3/1996, S.22)

Schon die noch eng an die sinnliche Anschauung anknüpfende Euklidische Geometrie abstrahiert nun von diesen subjektiv relativen Perspektiven und ihrem „Schwanken“ innerhalb der vagen Grenzen eines jeweils „bloß Typischen“ (vgl. Husserl 3/1996, S.24); und sie zwingt uns allen, ungeachtet unserer individuellen Verschiedenheiten, die „ideale Praxis eines ,reinen Denkens‘“ auf, „das sich ausschließlich im Reiche reiner Limesgestalten hält“. (Vgl. Husserl 3/1996, S.25)

Dieser geometrische Zwang zur Entperspektivierung ist der eigentliche Inhalt wissenschaftlicher ‚Intersubjektivität‘, und nicht etwa die als Kommunikationsgemeinschaft konzipierte science community, die auf ihre Perspektivenvielfalt pocht. Denn wenn die Mathematik mit etwas wirklich am wenigsten, nämlich gar nichts zu tun hat, so ist es die Perspektivenvielfalt. In der Mathematik sind alle Gegenstände eindeutig bestimmt und sind Teil eines wiederum eindeutig bestimmten Ganzen „aus reiner Rationalität, ein in seiner unbedingten Wahrheit einsehbares Ganzes von lauter unbedingten unmittelbar und mittelbar einsichtigen Wahrheiten“. (Vgl. Husserl 3/1996, S.20) – Unmittelbar und mittelbar einsichtig aber natürlich nur für diejenigen, die sich darauf – nämlich auf die Mathematik – verstehen.

Mit „Limesgestalten“ meint Husserl Gestalten, die nicht wie die empirisch-sinnlichen Gestalten lediglich vage innerhalb der Grenzen eines „Typischen“ schwanken. Es handelt sich um finale ‚Grenz‘-Gestalten, die die Grenze einer unendlichen Approximation „an die geometrische Idealgestalt“ vorgeben, die „als leitender Pol fungiert“. (Vgl. Husserl 3/1996, S.29) An diesem leitenden Pol orientiert sich die Erforschung sowohl der direkt mathematisierbaren wie auch der bloß indirekt mathematisierbaren Naturphänomene. Direkt mathematisierbar ist die Raumzeitgestalt von Körpern. Plessner hat dieser Raumzeitgestalt den Gesichtssinn zugeordnet, der der Geometrie zugrundeliegt. (Vgl. meinen Post vom 15.07.2010) Spätere Weiterentwicklungen der Geometrie verlassen auch diese Anschauungsebene und verlieren sich in einer „anschauungsfernen Symbolik“. (Vgl. Husserl 3/1996, S.23)

Als nicht direkt mathematisierbar bezeichnet Husserl pauschal alle Sinnesqualitäten, wobei er vom Gesichtssinn anders als Plessner nicht den „Sehstrahl“ thematisiert, sondern die Farben. Außerdem zählt er „Tastqualitäten“, „Gerüche“, „Wärmen“ und „Schweren“ auf. (Husserl 3/1996, S.31) Als nur indirekt mathematisierbar bezeichnet Husserl diese Sinnesqualitäten, weil sie ihm zufolge keine eigene „Weltform“ ergeben, wie die raumzeitlich dimensionierten Körper. (Vgl. Husserl 3/1996, S.36f.) Ich verstehe das so, daß es z.B. keine Geometrie der Gerüche gibt, im Sinne eines „einsehbare(n) Ganze(n) von lauter unbedingten unmittelbar und mittelbar einsichtigen Wahrheiten“. (Vgl. Husserl 3/1996, S.20)

Die „Limesgestalten“ der Geruchswelt sind also nicht in einem „analogem Sinne idealisierbar“. (Vgl. Husserl 3/1996, S.36) Obwohl aber die Sinnesqualitäten der Körperwelt anders als deren Raumzeitgestalt keine „mathematisierbare Weltform“ ergeben (vgl. ebenda), hängen sie doch untereinander und mit der direkt mathematisierbaren Raumzeitgestalt der Körper auf eine geregelte, gesetzesförmige Weise zusammen. Husserl sagt: sie sind untereinander und mit der direkt mathematisierbaren Raumzeitgestalt selbst verschwistert. (Vgl. Husserl 3/1996, S.35f.) Die Raumzeitgestalt bildet die direkt mathematisierbare Form, die Sinnesqualitäten bilden die indirekt mathematisierbare ‚Fülle‘ zu dieser Form, weshalb Husserl sie auch als „Füllen“ bezeichnet.

Husserl stellt sich diese „Verschwisterung“ so vor, daß die „faktischen“ raumzeitlichen „Gestalten“ im Sinne eines „Seinsstils“ „zwangsläufig“, also quasi-kausal mit „faktischen Füllen“ assoziiert (verschwistert) sind: „daß also diese Art allgemeiner Kausalität besteht, die nur abstrakt, aber nicht real trennbare Momente eines Konkretum verbindet.“ (Vgl. Husserl 3/1996, S.36) Solche „Momente eines Konkretum“ bilden die direkt berechenbare Raumzeitlichkeit und die nur indirekt berechenbaren sinnlichen Qualitäten.

Begriffe wie „Seinsstil“ und „allgemeine Kausalität“ – an anderer Stelle ist auch von einem „Kausalstil“ die Rede (vgl. Husserl 3/1996, S.54) – verweisen auf den lebensweltlichen Charakter der sinnlichen Anschauung. Hier kann von einer mechanischen, direkter Mathematisierung zugänglichen, reinen Körperwelt nicht die Rede sein. Die Regelmäßigkeit der Geschehnisse in der Lebenswelt beruht vielmehr auf „Gewohnheit“, auf einem „invarianten allgemeinen Stil, in dem diese anschauliche Welt im Strömen der totalen Erfahrung verharrt“. (Vgl. Husserl 3/1996, S.31) – Husserls Darstellung der sinnlichen Anschauung und ihrer Gesetze als Gewohnheitsbildung erinnert an Rupert Sheldrakes Kritik der Naturgesetze. (Vgl. meinen Post vom 01.02.2013)

Indirekt mathematisierbar ist diese Welt der Sinnesqualitäten nun insofern, als aufgrund der Verschwisterung zwischen ihnen untereinander und zwischen ihnen und der raumzeitlichen Form die Aussicht besteht, im Zuge einer vollständigen Mathematisierung der reinen Körperwelt auch die Sinneswelt mitzuerfassen. So wie die Limesgestalten der reinen Körper auf den Horizont eines „Ganze(n) von lauter unbedingten unmittelbar und mittelbar einsichtigen Wahrheiten“ verweisen (vgl. Husserl 3/1996, S.20), können auch die singulären Sinnesqualitäten als „unendliche Mannigfaltigkeit“ „horizonthaft antizipiert“ werden. (Vg. Husserl 3/1996, 36) Ich verstehe diese Aussage von Husserl im Sinne einer Statistik, für die das unberechenbare Einzelne in einer größeren Menge berechenbar wird.

Das Verhältnis zwischen der Welt direkt mathematisierbarer Körper und der Welt nicht-direkt mathematisierbarer Sinnesqualitäten stellt Husserl als eine „doppelseitige() Idealisierung der Welt“ dar: „Diese universale idealisierte Kausalität umgreift alle faktischen Gestalten und Füllen in ihrer idealisierten Unendlichkeit“. (Husserl 3/1996, S.41) – In dieser universalen Kausalität wird das „arithmetische Denken“ „zu einem freien systematischen, von aller anschaulichen Wirklichkeit völlig losgelösten apriorischen Denken über Zahlen überhaupt, Zahlenverhältnisse, Zahlgesetze“. (Vgl. Husserl 3/1996, S.47)

Damit ermöglicht es die reine Mathematik, von ihren von der sinnlichen Anschauungswelt losgelösten Formeln her auf sinnlich nicht gegebene, physikalische Wirklichkeiten zu ‚induzieren‘: „Vermöge der reinen Mathematik und praktischen Meßkunst kann man für alles dergleichen Extensionale an der Körperwelt eine völlig neuartige induktive Voraussicht schaffen, nämlich man kann von jeweils gegebenen und gemessenen Gestaltvorkommnissen aus unbekannte und direkter Messung nie zugängliche in zwingender Notwendigkeit ‚berechnen‘. So wird die weltentfremdete ideale Geometrie zur ‚angewandten‘ und so in einer gewissen Hinsicht zu einer allgemeinen Methode der Erkenntnis von Realitäten.“ (Husserl 3/1996, S.33)

Weil nämlich alle „Gestaltvorkommnisse“, direkt mathematisierbare wie indirekt mathematisierbare, miteinander verschwistert sind, muß dies auch für jene Wirklichkeiten gelten, die für uns nur indirekte Gestaltvorkommnisse sein können; indem wir nämlich deren Wirklichkeit über die direkt wahrnehmbaren Gestaltvorkommnisse ‚induzieren‘: durch exakte Messung und Berechnung!

Wir haben es hier tatsächlich mit einem invertierten Sinn von Induktion zu tun: „Auf Voraussicht, wir können dafür sagen, auf Induktion beruht alles Leben. In primitivster Weise induziert schon die Seinsgewißheit einer jeden schlichten Erfahrung. Die ‚gesehenen‘ Dinge sind immer schon mehr als was wir von ihnen ‚wirklich und eigentlich‘ sehen. Wahrnehmen ist wesensmäßig ein Selbsthaben ineins mit Vor-haben, Vor-meinen.“ (Husserl 3/1996, S.54f.)

Üblicherweise ist die alltägliche Induktion an unsere subjektiven, bloß relativen Erfahrungen gebunden, von denen aus wir auf allgemeinere, irrelative Wahrheiten schließen. Induktion basiert also auf Anschaulichkeit bzw. auf Anschauung. Nun aber haben wir es mit einer völlig neuartigen Induktion zu tun, die auf Berechnung basiert! Von ‚evidenten‘ – zumindestens für diejenigen, die in den mathematischen Methoden geübt sind –, aber wenig anschaulichen Formeln, schließen bzw. induzieren wir auf die Wirklichkeit von wiederum überhaupt nicht anschaulichen Vorkommnissen, bis hinein in die Atomphysik. (Vgl. Husserl 3/1996, S.57)

Bei aller Anwendbarkeit der „weltentfremdete(n) ideale(n) Geometrie“ auf den menschlichen Sinnen unzugängliche, physikalische Notwendigkeiten (vgl. Husserl 3/1996, S.33) konstatiert Husserl nun aber, daß diese „Arithmetisierung der Geometrie“ zu einer „Entleerung ihres Sinnes“ geführt habe (vgl. Husserl 3/1996, S.47). „Mathematik und mathematische Naturwissenschaft“ haben sich wie ein „Ideenkleid“ über die „‚objektiv wirkliche und wahre‘ Natur“ der „Lebenswelt“ gelegt: „Das Ideenkleid macht es, daß wir für wahres Sein nehmen, was eine Methode ist.“ (Husserl 3/1996, S.55)

Um dieses „wahre Sein“ in den Blick nehmen zu können, bedarf es Husserl zufolge einer anderen Sprache als der mathematisch-naturwissenschaftlichen: „Den Lesern, besonders den naturwissenschaftlichen, wird es empfindlich geworden sein und fast wie ein Dilettantismus erscheinen, daß von der naturwissenschaftlichen Sprechweise keinerlei Gebrauch gemacht worden ist. Sie ist bewußt vermieden worden. Es gehört selbst zu den großen Schwierigkeiten einer Denkweise, die überall die ‚ursprüngliche Anschauung‘ zur Geltung zu bringen sucht, also die vor- und außerwissenschaftliche Lebenswelt, welche alles aktuelle Leben, auch das wissenschaftliche Denkleben in sich faßt und als Quelle der kunstvollen Sinnbildungen nährt, – es gehört, sage ich, zu diesen Schwierigkeiten, die naive Sprechweise des Lebens wählen zu müssen, sie aber auch angemessen zu handhaben, wie es für die Evidenz der Nachweisungen erforderlich ist.“ (Husserl 3/1996, S.64)

Nun wäre wohl kaum jemand von Husserls Lesern auf die Idee gekommen, er bediene sich der „naiven Sprechweise des Lebens“. Kaum ein normaler Mensch würde von sich aus und ‚naiv‘ in diesen kunstvoll ausgefeilten Jargon verfallen. Inwiefern Husserls Sprechweise im Unterschied zur mathematisch-naturwissenschaftlichen der wirklichen Erfahrung getreu bleibt, werde ich im nächsten Post erörtern.

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