„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 16. April 2013

Zwischen Expressivität und Referentialität

Amelie Sjölin, Schrift als Geste. Wort und Bild in Kinderarbeiten, Neuried 1996

1. Methode: jenseits von wahr oder falsch
2. Gesten, Spuren und Narben
3. Symbolisierungsweisen

Das Erlernen von Schreiben und Lesen stand Sjölin zufolge lange Zeit unter dem „Primat der Sprache“ und „ist auf eine weit zurückreichende und tiefliegende ausgrenzende Entgegensetzung von Wort und Bild zurückzuführen.“ (Vgl. Sjölin 1996, S.7f.) Dieser Entgegensetzung entsprechen weitere Dualismen wie etwa Konvention/ Natur, Geist/Körper oder kognitiv/sinnlich. (Vgl. Sjölin 1996, S.10) In der Pädagogik selbst liegt im Rahmen dieses Dualismus die Betonung mal auf dem „Primat der Form“ (Kunsterzieherbewegung, Reformpädagogik), mal auf dem – wie schon erwähnt – „Primat der Sprache“ (Linguistik, Kommunikatives Handeln etc.). (Vgl. Sjölin 1996, S.7, 17,19, 93) Insgesamt kann man wohl sagen, daß ab den sechziger und siebziger Jahren der linguistische und kommunikationstheoretische Ansatz in der deutschen Schreib- und Leselerndidaktik dominiert.

An dieser Stelle möchte ich auch auf Sjölins interessante Kritik an dem speziellen Dualismus in Leroi-Gourhans Analysen zum Graphismus hinweisen. Ich selbst hatte schon auf seine einseitige Darstellung der mündlichen Sprache als einen eindimensionalen, linearen Modus der Symbolisierung hingewiesen. (Vgl. meinen Post vom 01.03.2013). Ohne die Modulationen der Stimme und ihre raumergreifende und raumfüllende Voluminosität zu berücksichtigen, bezieht sich Leroi-Gourhan ausschließlich auf das zeitliche Nacheinander der Phoneme bei der Artikulation. So gelangt Leroi-Gourhan zu einem Dualismus von mehrdimensionalen und eindimensionalen Symbolisierungsweisen, in dem zunächst das gesprochene Wort dem mehrdimensionalen Graphismus und dann der lineare Graphismus dem gesprochenen Wort dient.

Sjölin führt diesen Dualismus nun auf Leroi-Gourhans Beschreibung der Anatomie des Menschen zurück, den er Sjölin zufolge von hierher auf den bildlichen und den linearen Graphismus überträgt: „Er beschreibt die Entwicklung der graphischen Symbolisierungsweisen als eine vom ‚strahlenförmigen Graphismus‘ zur ‚linearen‘ Schrift. Die Kategorien ‚strahlenförmig‘ versus ‚linear‘ erinnern an die Gegenüberstellung der beiden grundsätzlich verschiedenen Organisationsprinzipien tierischen Lebens: radiale und bilaterale Symmetrie.“ (Sjöin 1996, S.122) – So wie sich also in der biologischen Evolution irgendwann die Entwicklungslinien von radial symmetrischen und bilateral symmetrischen Körpern getrennt haben, haben sich in der Schriftentwicklung irgendwann strahlenförmige Symbolisierungsweisen von linearen Symbolisierungsweisen getrennt.

Ich halte Sjölins Kritik an Leroi-Gourhans spezifischem Dualismus zwischen Bild und Wort bzw. zwischen „Zeichnen/Malen einerseits und Schreiben andererseits“ (Sjölin 1996, S.10) für zutreffend. Das ändert aber nichts an der Plausibilität der von ihm beschriebenen Entwicklungslinien, die auch Sjölin nach wie vor für „hochaktuell“ hält. (Vgl. Sjöin 1996, S.120)

Zumal auch Sjölin einen Grundgedanken Leroi-Gourhans in ihre zentrale These mit aufnimmt: „Ich folge dem Gedanken, daß Schrift nicht abbildet. Sie bringt nicht einfach nur zu Papier, was schon vor dem und unabhängig vom Schreiben existiert hat. Sie schöpft, formt, modelliert und moduliert. Daraus folgt aber nicht, daß sie auf nichts außer auf sich verweist.“ (Sjöin 1996, S.44) – Leroi-Gourhan hat sich schon ganz ähnlich zum Graphismus in der Menschheitsgeschichte geäußert. Auch die ersten Kerben und Einritzungen in Knochen deuten auf einen inneren Drang unserer Vorfahren, sich auszudrücken. Leroi-Gourhan zufolge brachten sie in den regelmäßigen Ritzungen ein inneres, rhythmisches Körpergefühl zum Ausdruck. Sie bildeten nicht etwas in der äußeren Welt ab und waren deshalb ‚abstrakt‘.

Ich möchte diesen Sachverhalt etwas anders beschreiben: Die ersten graphischen Lebensäußerungen unserer Vorfahren waren nicht primär referentiell, sondern expressiv. Das läuft jetzt nicht etwa auf einen weiteren Dualismus hinaus, in dem wieder zwischen Bild als Abbildung und Schrift als Abstraktion unterschieden wird. Sjölin hebt vielmehr hervor, daß sie mit ihrem Buch „versucht, sowohl den lautsprachlichen Bezug als auch das Graphische nicht außerhalb, sondern in der Schrift wahrzunehmen.“ – Gleichzeitig wendet sie sich gegen Leroi-Gourhans Bestimmung eines historisch unterschiedlichen Dienstverhältnisses zwischen Graphismus und mündlichem Wort, also „von Repräsentationsmodellen, denen zufolge eine Symbolisierungsweise die andere abbildet.“ (Vgl. Sjölin 1996, S.55)

Wenn ich also behaupte, daß die ersten Lebensäußerungen unserer Vorfahren nicht referentiell, sondern expressiv waren, so schließt das eben nicht aus, daß die Expression selbst wiederum eine Referenz beinhaltet, allerdings nicht in Richtung auf einen Gegenstand in der äußeren Welt, sondern auf sich selbst. Das läßt sich an der Staffelung selbstreferentieller Bezüge von ‚Gesten‘, ‚Spuren‘ und ‚Narben‘ zeigen.

Gesten sind natürlich immer beides: Haltungen, in denen wir eine Stimmung bzw. eine Gesinnung zum Ausdruck bringen, wie eben auch Zeigegesten, die auf bestimmte Gegenstände in der äußeren Welt verweisen. Sjölin definiert folgendermaßen: „Die Geste, eine symbolisierende Bewegung des Körpers, setzt etwas in Szene. Sie berührt, animiert zu weiteren Gesten. Wer sie wahrnimmt, ist involviert. Schrift als Geste betrachten heißt, ihrer suggestiven Kraft gewahr zu werden.“ (Sjölin 1996, S.7)

Die Geste ist wesentlich mehr als ein bloßes konventionelles Zeichen. Sie bringt eine Anwesenheit zum Ausdruck. Darin liegt ihre suggestive Kraft, die selbst einfachen Zeigegesten innewohnt. Wenn jemand auf etwas zeigt, sind wir regelrecht gezwungen, hinzuschauen. Es bedarf einer großen Kraftanstrengung, der Aufforderung einer Zeigegeste nicht zu folgen. Es ist die in der Haltung des Körperleibs zum Ausdruck kommende Anwesenheit eines Subjekts, die diese suggestive Kraft auf uns ausübt. Die Referentialität der Zeigegeste, die motivierende Neugier auf den Gegenstand, ist weitaus geringer, als der Eindruck, den es auf uns macht, wenn jemand auf etwas zeigt.

Ein weiteres Thema durchzieht Sjölins Buch: Schrift als Spur. Gesten und Spuren haben vieles gemeinsam, aber sie haben auch einen entscheidenden Unterschied. In der Spur ist das Subjekt, das darin zum Ausdruck kommt, nicht mehr anwesend. Habermas macht diesen Unterschied nicht. Bei ihm sind auch die Gesten schon subjektlos, weil der Körper bei ihm nur ein Substrat bildet, in dem sich kein Subjekt mehr befindet, das die Gesten ausführt. (Vgl. meine Posts vom 13.01.2913 und vom 18.02.2013) Insofern ist die Frage einer Differenzierung zwischen Körpergesten und Schriftzeichen, in denen der bloße Körper seine Spuren hinterläßt, für Habermas belanglos.

Bei Sjölin ist das anders. Sie hält ausdrücklich fest, daß der Stift „die Geste auf das Papier“ zwar „überträgt“ (vgl. Sjölin 1996, S.9), aber der Körper selbst, und mit ihm das Symbolisierungssubjekt, wird nicht übertragen. Wir erkennen den Körper im „nahezu zweidimensionale(n) Gebilde“ insbesondere der Handschrift wieder, aber eben nur als ‚Spur‘: „So verstanden verweist Schrift auf die schreibende Person, auf ihr soziales und kulturelles Umfeld, auf ihre Beziehungen zu anderen Menschen und auf den Gegenstand des Schreibens.“ (Sjölin 1996, S.45)

Gerade als expressives Phänomen wird die Schrift so zu einem komplexen referentiellen Verweisungszusammenhang, in dem individuelle und soziale Bezüge sichtbar werden. „Schrift und Text“ werden zu einem „vielgestaltige(n) Netz von Spuren“ (Sjölin 1996, S.64). Auch deshalb ist es ein kulturalistischer Fehlschluß, wenn Stanislas Dehaene meint, daß das Lesenlernen auf Kosten der Fähigkeit, Spuren zu lesen, gehe. (Vgl. meinen Post vom 06.03.2011) Das Lesen von Schrift ist Spurenlesen, so sehr wie Schreiben bedeutet, Spuren zu hinterlassen! Auch die Spuren von Tieren in der Wildnis oder die Spuren eines Verbrechers am Tatort zeugen von einer Anwesenheit. Schreiben- und Lesenlernen bedeutet, mit verschiedenen Symbolisierungsformen von An- und Abwesenheit zu spielen: zu malen, zu zeichnen und eben auch zu schreiben.

Schreiben und Lesen bilden also erste Formen der Abwesenheit, die allerdings steigerungsfähig ist, so daß sich der Spurcharakter immer mehr verflüchtigt, bis sich schließlich vor dem „Bildschirm“ die „Aufgabe des Körpers auf die Bedienung von Tasten“ reduziert, so daß schließlich nur noch die Tasten selbst auf den Beitrag unserer Finger verweisen. (Vgl. Sjölin 1996, S.125) In der Welt digitaler Kommunikationsmedien würden wir deshalb „wohl weniger die Spur, die Unterlage und die Bewegung der Hand ins Auge fassen als vielmehr das spurlose Erscheinen und Verschwinden der Schrift, ihre Immaterialität und den ständig reduzierten Bewegungsumfang der menschlichen Hand.“ (Vgl. Sjölin 1996, S.116)

Zwar beinhaltet die Schrift als Spur die Abwesenheit des Körpers und mit diesem die Abwesenheit des in der Schrift sich ausdrückenden Symbolisierungssubjekts. Dennoch gibt es eine Schrift, die selbst wiederum ‚Spuren‘ hinterläßt, und zwar im Körper selbst, den sie auf diese Weise zurichtet und einer Gemeinschaft ‚einverleibt‘: „Die menschliche Kultur hat von Anfang an – mit Dietmar Kampers Worten – als ‚universelle Tätowierung‘ funktioniert. Die symbolische Ordnung setzt, wie er sagt, eine ‚Schrift des Körpers‘ durch, die der Betroffene nicht mehr abschütteln kann ... . Für Kamper sind Zeichen Narben. Er betont den Aspekt des Einschneidens, Ritzens, der Verwundung durch Schrift.“ (Sjölin 1996, S.49)

‚Narben‘ sind also ebenfalls ‚Spuren‘, so wie ‚Spuren‘ auch ‚Gesten‘ sind. Mit Gesten haben Narben gemeinsam, daß in ihnen der Körper anwesend ist. Aber Narben unterscheiden sich sowohl von Spuren wie von Gesten gleichermaßen dadurch, daß es entweder kein Symbolisierungssubjekt gibt, das sich in ihnen ausdrückt, etwa als Folge eines Unfalls, oder daß die Narben, wie im Falle einer Tätowierung, von einem anderen Symbolisierungssubjekt zugefügt werden. Es mag zwar mein Wille sein, wenn ich mich tätowieren lasse, aber es ist nicht meine Kunstfertigkeit, von der die Tätowierung zeugt.

Mit der ‚Tätowierung‘, der sinnfälligsten Unterwerfung des Körpers unter die Schrift, im Vergleich zu den anderen Zurichtungen wie den, den verschiedenen Werkzeugen und Medien geschuldeten, Schreib- und Lesehaltungen, nähern wir uns dem Thema der Kastration. Damit habe ich mich schon in meinen Posts vom 25.11. und 27.11.2012 zu Christina von Braun ausführlich befaßt.

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