„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 2. April 2013

Hanno Charisius/Richard Friebe/Sascha Karberg, Biohacking. Gentechnik aus der Garage, München 2013

1. Faustkeil = Hammer = Atomkraftwerk?
2. Hinzukommendes Selbst oder Zugang zum Selbst?
3. Keine ‚Zurück‘-Taste
4. Bürgerwissenschaft

Wie schon im letzten Post angemerkt sind es zwei Stellen, die mich besonders beeindruckt haben. Neben der Differenzierung zwischen Biologen und Ingenieuren handelt es sich dabei um die Darstellungen der Autoren zur Bürgerwissenschaft (citizen science). (Vgl. Charisius/Friebe/Karberg 2013, S.12, 111-129, 260ff.) Denn schließlich geht es ja nicht nur um die Verantwortung der Biohacker ihren Mitbürgern gegenüber, sondern in einem noch fundamentaleren Sinne um die öffentliche Verantwortung der Wissenschaft selbst. Welcher Öffentlichkeit gegenüber sollte sich die Wissenschaft aber verantwortlich zeigen, wenn diese Öffentlichkeit überhaupt nicht beurteilen kann, was in der Wissenschaft passiert und ihr die Experten auch noch einreden, daß ihr die Kompetenz fehlt?

Die ‚wissenschaftlichen‘ Interessen sind leider inzwischen längst nicht mehr so rein wissenschaftlich, wie sie der Öffentlichkeit gegenüber dargestellt werden.  Die Notwendigkeit, sich Gelder von außerhalb einzuwerben, oft genug von Wirtschaftsunternehmen, und die Abhängigkeit von staatlichen Zuschüssen, die oft genug nach parteipolitischen Interessen vergeben werden, hinter denen wiederum diverse gesellschaftliche Lobbygruppen stehen, haben dazu geführt, daß wissenschaftliche Studien zu den gleichen Themen zu den unterschiedlichsten Ergebnissen führen, mit denen dann Politik gemacht wird.

Das klassische Beispiel ist die Nutzung der Atomenergie. Bürgerinitiativen haben sich in einer jahrzehntelangen, generationenübergreifenden Arbeit das nötige Expertenwissen selbst angeeignet und so den von den jeweiligen Bundesregierungen und von der Atomwirtschaft bezahlten ‚Experten‘ eine eigene Expertise entgegengesetzt. Deshalb haben die Autoren von „Biohacking“ völlig recht, wenn sie schreiben: „Missbrauch von Technologie war bislang die Domäne schlecht oder gar nicht demokratisch kontrollierter herrschender Eliten.“ (Charisius/Friebe/Karberg 2013, S.189)

Hinzu kommt, daß die Wissenschaft selbst über lange Zeit hinweg keine Sache etablierter Universitäten und Akademien gewesen ist, sondern von Bürgerforschern vorangetrieben worden ist. Die betreffende Stelle möchte ich hier gerne in aller Ausführlichkeit zitieren:
„Sie (die BIY-Bio-Aktivisten – DZ) haben ihre evolutionären Vorläufer nicht nur in den Computerhackern der vorigen Generation, sondern auch in den Amateur- und Gentleman-Forschern vergangener Jahrhunderte, zu denen so illustre Persönlichkeiten wie Leibniz, Goethe und Mendel zählten. Sie stehen in der noch viel älteren Tradition der Pflanzen- und Tierzüchter seit Anbeginn der Landwirtschaft, sind verwandt mit den Hobby-Astronomen, die in den vergangenen Jahrzehnten wichtige Entdeckungen machten, mit den unzähligen Käfer- und Schmetterlingssammlern, Vogelbeobachtern und den Freizeit-Botanikern mit ihren Herbarien. Sie haben ihre Vorläufer auch unter jenen Eltern, die nicht akzeptieren wollten, dass ihre Kinder früh an seltenen, zu wenig erforschten Krankheiten sterben, und sich in der wissenschaftlichen Literatur selbst auf die Suche nach Therapiemöglichkeiten machten. Vor allem aber haben sie viel gemein mit all jenen, die noch nie akzeptieren konnten und wollten, dass Expertenwissen und Hochtechnologie nur in den Händen von politischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Eliten gut aufgehoben sein sollen, mit jenen, die Zugang forderten, Zugang durchsetzten. Sie haben einiges gemein sowohl mit Bildungsreformern wie Johann Comenius und Wilhelm von Humboldt, als auch mit jenen, die heute versuchen, die Energieproduktion zu dezentralisieren und zu demokratisieren.“ (Charisius/Friebe/Karberg 2013, S.12)
Über zwei Namensnennungen habe ich mich besonders gefreut: Goethe und Humboldt. Über die Nennung von Goethe habe ich mich gefreut, weil gerade er eine besonders kritische Position zur Mainstream-Wissenschaft eingenommen und hervorgehoben hatte, daß die moralische Verantwortung des Menschen seine Handlungsfreiheit einschränkt: nicht alles, was wir tun können, sollte auch umgesetzt werden. Wenn wir in Bereiche vordringen, die außerhalb der menschlichen Sinnesorgane liegen, können wir die Folgen unserer Eingriffe in diesen Bereichen nicht mehr kontrollieren.

Und über die Nennung von Wilhelm (nicht Alexander) von Humboldt habe ich mich gefreut, weil gerade mit seinem Namen in unserem Bildungssystem so viel Mißbrauch getrieben wird. Er muß für alle unausgegorenen Bildungsreformen der letzten zweihundert Jahre Pate stehen und hat doch eigentlich nichts anderes gewollt, als dem heranwachsenden jungen Menschen das Grundgerüst zum selbständigen Denken zu vermitteln. An die Stelle der Schulen und Universitäten, wie sie Humboldt sich gedacht hatte – mit open access! –, sind Zertifizierungsanstalten getreten, die den Zugang zu den verschiedenen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen beschränken.

Der Vorschlag der Autoren, offene Labore einzurichten, „in denen Laien mit Profis zusammenarbeiten und sich austauschen können“ (Charisius/Friebe/Karberg 2013, S.260), liegt voll und ganz in der Richtung einer Universität, die den Humboldtschen Vorstellungen einer Einheit von Forschung und Lehre genügt. Eine solche Universität würde sich nicht mehr über die Größe und den Preis ihrer Apparate definieren. (Vgl. Charisius/Friebe/Karberg 2013, S.122) Sie würde vielmehr zur „stetig steigende(n) Kompetenz der Laien“, zu einer „in die Breite gehende(n) spezifische(n) Bildung und Fähigkeit zur Meinungsbildung angesichts anstehender wissenschafts- und biopolitischer Entscheidungen“ beitragen. (Vgl. Charisius/Friebe/Karberg 2013, S.262)

Die Do-It-Yourself-Mentalität sollte kompatibel sein mit einer Selber-Denken-Mentalität. Denn ich gestehe, daß mir unbehaglich bei dem Gedanken ist, daß eine Einstellung, nach der alles, was getan werden kann, auch getan wird, und sei es einfach nur, um zu sehen, ob es auch funktioniert, zum Hobby für jedermann ausgeweitet wird.

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