„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 3. März 2013

André Leroi-Gourhan, Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, Frankfurt a.M. 1980 (1964/65)

1. Graphismen
2. Menschheitskriterien
3. Rhythmus und Lebenswelt
4. Parallelen und Differenzen zum Körperleib
5. Parallelelen zur ‚Seele‘
6. Ein-Finger-Kommunikation

Es ist erstaunlich, daß Leroi-Gourhan das rhythmische Schlagen als Menschheitskriterium aufführt. (Vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.384) Anscheinend gehört zu solchen ausdauernden, rhythmischen Wiederholungen eine spezifische konzentrierte Aufmerksamkeit, wie sie so nur der Mensch an den Tag legt: „Von Anfang an stehen die Fertigungstechniken in einem rhythmischen Rahmen, der gleichermaßen muskulären, auditiven und visuellen Charakter hat und aus der Wiederholung von Schlagbewegungen hervorgeht.“ (Leroi-Gourhan 1980, S.384)

Eine ganze Reihe von motorischen und sensitiven Funktionen werden also über den Rhythmus zum Ganzen eines Produktionsprozesses zusammengefügt. Aber nicht nur eine Vielzahl organischer Funktionen fügen sich über den Rhythmus zu einer Handlung, sondern der menschliche Organismus selbst wird über Rhythmen in einen größeren natürlichen und gesellschaftlichen Zusammenhang eingefügt: „... bis in unsere Zeit und in allen Kulturen haben diese Bewegungen einen wesentlichen Teil der Techniken ausgemacht. Zum rhythmischen Rahmen des Ganges tritt beim Menschen also noch die rhythmische Bewegung des Armes hinzu; während die Rhythmik des Ganges für die raum-zeitliche Integration sorgt und am Ursprung der Bewegung im sozialen Bereich steht, öffnet die rhythmische Bewegung der Arme einen anderen Weg; die Integration des Individuums in ein Dispositiv der Schöpfung nicht mehr von Raum und Zeit, sondern von Formen.“ (Leroi-Gourhan 1980, S.384)

Hier deutet sich schon die Ambivalenz rhythmischer Integrationsprozesse an: die „Rhythmik des Ganges“ ist nicht nur eng mit der Menschwerdung, dem aufrechten Gang, verbunden. Im gleichen Rhythmus sich fortbewegende Menschengruppen verschmelzen darüberhinaus zu einem Kollektivkörper: „Die Wissenschaft der muskulären Konditionierung wird empirisch zu Zwecken politischer Uniformität schon seit den Anfängen der Stadt praktiziert, auf ihr beruhen die Bewegung von Mengen und das Verhalten von Massen, die ‚wie ein Mann‘ marschieren.“ (Leroi-Gourhan 1980, S.357)

Das Vorgeben eines Zeittaktes als eine Form der gesellschaftlichen Verfügung über den menschlichen Körper beschreibt auch von Braun am Beispiel der „Räderwerkuhr“ in „Der Preis des Geldes“. (Vgl. von Braun 2/2012, S.177ff.) Die individuellen Lebensrhythmen werden auf diese Weise den Rhythmen von Maschinen angeglichen: „Derzeit sind die Individuen getränkt und bestimmt von einer Rhythmizität, die das Stadium einer praktisch totalen Maschinisierung (eher als das einer Humanisierung) erreicht hat.“ (Leroi-Gourhan 1980, S.385)

Leroi-Gourhan beobachtet allerdings auch eine Gegenbewegung zu dieser Maschinisierung des Menschen, die darin besteht, die „Figuration“ – wie er die symbolischen Formgebungen nennt, mit denen der Mensch seinem Leben einen individuellen ‚Stil‘ bzw. einen individuellen ‚Sinn‘ zu geben versucht – auf ‚Augenhöhe‘ mit den jeweils neuesten Technologien zu bringen. Auf diese Individualisierung sogar von Maschinen zu verzichten, würde darauf hinauslaufen, so Leroi-Gourhan, „den Sinn des menschlichen Abenteuers überhaupt in Frage zu stellen.“ (Vgl. Leroi-Gourhan 1980, S.386)

Die Ambivalenz rhythmischer Methoden der Lebensführung und der Menschenführung besteht also darin, daß sie gleichermaßen in den Dienst der individuellen Emanzipation wie in den Dienst eines vergemeinschaftenden Funktionalismus gestellt werden können. Die Lebenswelt, von der in diesem Blog immer die Rede ist, verschmilzt in den organischen Rhythmen der Tageszeiten und der Jahreszeiten, der Nahrungsaufnahme, der Feiertage und des Alltags etc. unmittelbar mit unserer körperlichen Physiologie. Allerdings können diese Rhythmen aus dem Gleichgewicht gebracht werden, und genau hier setzt die Möglichkeit einer „individuellen Befreiung“ (Leroi-Gourhan 1980, S.352) aus diesen alltäglichen Rhythmen an.

Solche Befreiungstechniken verortet Leroi-Gourhan z.B. in der Kunst und in bestimmten Meditationstechniken, mit deren Hilfe nicht nur soziale Institutionen, sondern eben auch Individuen Einfluß auf ihre „psychisch-physiologische() Konditionierung“ (Leroi-Gourhan 1980, S.352) nehmen können: „Dagegen wird man zugeben müssen, daß die Brüche im rhythmischen Gleichgewicht eine bedeutende Rolle spielen, wenn man sich vor Augen hält, daß ein beträchtlicher Teil der nicht-habituellen motorischen oder sprachlichen Äußerungen dort auftritt, wo in einer geistigen Grenzüberschreitung nach einem zweiten Zustand gesucht wird. Bei den außergewöhnlichen Ritualen, ekstatischen Offenbarungen und Besessenheitspraktiken, in deren Verlauf sich die Subjekte Tänzen oder Gesängen hingeben, die mit einem übernatürlichen Potential geladen sind, besteht eines der universell verwendeten Mittel darin, den Handelnden aus seinem alltäglichen Rhythmus herauszureißen, indem man die Routine des physiologischen Apparates durch Fasten und Schlafentzug zerbricht.“ (Leroi-Gourhan 1980, S.352f.)

Ich hatte in diesem Blog schon mehrfach auf Nishitanis „Niesen“ verwiesen („Was ist Religion?“ (2/1986), S.93ff.; vgl.u.a. meinen Post vom 01.01.2011), das unsere organischen Rhythmen brutal unterbricht. Auch das von Plessner beschriebene Lachen und Weinen (ebenda), die beide ihre eigenen Rhythmen haben, befreien uns aus der unter Umständen beklemmenden, einengenden „Routine des physiologischen Apparates“.

Die Suche nach einem „zweiten Zustand“, auf die Leroi-Gourhan hinweist (vgl. Leroi Gourhan 1980, S.353f.), wie sie ihm zufolge die „großen Mystikschulen Indiens, Chinas, des Islams und des Westens“ kennzeichnet (vgl. Leroi Gourhan 1980, S.354), ähnelt dem, was ich in diesem Blog immer als „zweite Naivität“ bezeichnet habe (vgl.u.a. meine Posts vom 17.11.2010 und vom 24.01.2011). Sie befreit uns aus der Abhängigkeit von der lebensweltlichen ersten Naivität und eröffnet einen neuen Spielraum des Handelns.

Leroi-Gourhan ergänzt also das Thema der Lebenswelt mit einem eigenständigen Beitrag, der sowohl über die Blumenbergsche Version einer Autodestruktion der Lebenswelt (vgl. meinen Post vom 08.08.2010) wie auch über die Habermassche Version ihrer ständigen Reparaturbedürftigkeit (vgl. meine Posts vom 17.02. und vom 22.02.2013) hinausgeht, weil er nicht nur den organischen Reproduktionsmechanismus der Lebenswelt beschreibt, sondern auch die Mittel, sie individuell neu zu organisieren: „Rhythmisches Stampfen, Drehen, Choreographie, Verbeugungen, periodische Kniefälle und Prozessionen, sämtlich Techniken der Integration in außergewöhnliche Operationsketten, gehörten auf der ganzen Welt und zu allen Zeiten zum festen Bestand religiöser und profaner Äußerungen. Gestützt auf die Musik, gewinnen sie im Verhältnis zu den Manifestationen, die wir im letzten Abschnitt behandelt haben, den Charakter eines wahrhaften Herausreißens aus der alltäglichen Lebenswelt.“ (Leroi-Gourhan S.357)

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