„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 8. Februar 2013

Rupert Sheldrake, Der Wissenschaftswahn. Warum der Materialismus ausgedient hat, München 2012

1. Prolog
2. Evolution auf der Basis morphischer Resonanz
3. Der ‚Geist‘ in der Naturwissenschaft
4. Ganzheiten wie z.B. eine Welle
5. Die Metapher des Gravitationsfeldes
6. „Brauchen wir wirklich ein Gehirn?“
7. Rekursivität und Doppelblindverfahren
8. Eine zeitliche Anatomie des Körperleibs

Am Schluß meines Posts vom 01.02.2013 hatte ich angemerkt, daß Sheldrakes Konzept der morphogenetischen Felder bei der Beschreibung der anthropologischen Verfassung des Menschen versagt. Sein Konzept kann weder den Anachronismus der menschlichen Existenz noch – ineins damit – den kontingenten, diskontinuierlichen Prozeß der Menschheitsgeschichte erklären. In meinem gestrigen Post habe ich auch nach der Möglichkeit der individuellen Urteilskraft gefragt, worauf meiner Ansicht nach Sheldrake keine Antwort hat. Zwar spricht er von der Kreativität des Universums (vgl. Sheldrake 2012, S.146, 444 u.ö.), aber die individuelle Kreativität des Menschen wird nicht thematisiert.

Sheldrake hat durchaus eine eigene Version von der exzentrischen Positionalität, wie sie Plessner vertritt. Sie besteht in der „Feldtheorie des Geistes“, die den „Widerspruch zwischen Materialismus und Dualismus“ hinter sich läßt: „Felder können sich in materiellen Dingen und außerhalb befinden ... In diesem Kapitel vertrete ich die Ansicht, dass das Feld des Geistes im Gehirn ist, aber weit über das Gehirn hinausreicht.“ (Sheldrake 2012, S.281) – Aber das „raumzeithafte Nirgendwo-Nirgendwann“ der exzentrischen Positionalität, das Plessner gleichwohl am Körperleib festmacht (vgl. Plessner 1975/1928), S.292, und meinen Post vom 26.10.2010), droht bei Sheldrake gelegentlich in eine vollständige Entkörperlichung zu münden: „Wenn Geist körperlos ist, muss das auch für den Geist des Naturwissenschaftlers gelten, und dann ist Naturwissenschaft so etwas wie ein Blick auf die Realität von nirgendwoher.“ (Sheldrake 2012, S.384) – Das ist zwar als eine Kritik an die Naturwissenschaft formuliert, läßt sich aber auch auf Sheldrakes Vermutungen zur Unsterblichkeit beziehen. (Vgl. Sheldrake 2012, S.277 und 445)

Dennoch hat Sheldrake auch eine eigene Version des Körperleibs, die sich von Plessners räumlicher Differenzierung mit ihrer Doppelaspektivität von Innen und Außen darin unterscheidet, daß er die Gegenüberstellung von Körper und Geist als eine „Beziehung in der Zeit“ (Sheldrake 2012, S.163) definiert: „Die Zeit und nicht der Raum ist das Kernelement ihrer Beziehung.“ (Sheldrake 2012, S.164)

Dabei faßt Sheldrake das Bewußtsein wie Meyer-Drawe/Merleau-Ponty (vgl. meine Posts vom 07.12.2011 und vom 10.01.2012) als eine Form des Vollzugs. Er bewegt sich hier zwar in der Begrifflichkeit der Subjekt-Objekt-Differenzierung, aber der Sache nach läuft es auf dasselbe hinaus, wenn er schreibt: „Alles Aktuelle ist ein Augenblick der Erfahrung. Wenn er verklingt und ein vergangener Augenblick wird, tritt ein neuer Jetzt-Augenblick an seine Stelle, ein neues Subjekt der Erfahrung. Der eben vergangene Augenblick wird ein in der Vergangenheit liegendes Objekt für ein neues Subjekt – aber auch für andere Subjekte. Whitehead fasste das sehr knapp zusammen in den Satz: ‚Eben Subjekt, jetzt Objekt.‘() Erfahrung ist immer ‚jetzt‘, und Materie ist immer ‚vorbei‘.“ (Sheldrake 2012, S.164)

Die zeitliche Gegenüberstellung von Körper und Geist besteht darin, daß der Körper als Materie eine andere Kausalität beinhaltet als der von Sheldrake als ‚Feld‘ bestimmte Geist. Die Kausalität der Materie liegt in der Vergangenheit, wie der Stoß des Queues, der das in der Zeit nachfolgende Geschehen unter den Billardkugeln bestimmt. Während die Bewegungen der Kugeln auf dem Tisch ablaufen, lehnt der Spieler gelassen am Tisch und schaut dem von ihm ‚angestoßenen‘ Ereignissen zu.

Der Geist aber befindet sich an den verschiedenen Endpunkten des Geschehens auf dem Billardtisch, den Taschen, in denen die Kugeln nach dem Plan des Spielers verschwinden sollen. Diese ‚Taschen‘ bestimmen letztlich das finale Schicksal der Kugeln und wirken keinen ‚Stoß‘, sondern einen ‚Zug‘ auf die Kugeln aus. Sie wirken von der Zukunft auf die Kugeln zurück, eine nach hinten gerichtete Kausalität. Hier beißt die ‚Schlange‘ der Zeit sich selbst in den Schwanz.

Was bei den Billardkugeln äußerlich ist, der Stoß des Queues (französisch für ‚Schlange‘) und die Berechnungen des Spielers, ist im zeitlich bestimmten Körperleib vereint: „Mit der Gegenwart verbunden ist die Vergangenheit wie in der herkömmlichen Physik durch Kausalität, die Gegenwart mit der Vergangenheit jedoch durch das Fühlen oder, wie Whitehead es nennt, durch prehension, was so viel wie Erfassen oder Begreifen bedeutet. Nach Whitheads Auffassung ist jedes aktuelle Geschehen zweifach bedingt: durch in der Vergangenheit liegende physikalische Ursachen und durch das selbstschöpferische, sich selbst erneuernde Subjekt, das seine eigene Vergangenheit auswählt und auch unter möglichen Zukunftsversionen eine Wahl trifft.“ (Sheldrake 2012, S.164)

Die ‚zweifache Bedingung‘ aller physischen Prozesse bildet eine zeitliche Version der Plessnerschen Doppelaspektivität von Innen und Außen: gleichzeitig vergangen und zukünftig zu sein. Genau das ist auch ein Charakteristikum des Merleau-Pontyschen Vollzugs: „Selbst die allerkleinsten Prozesse, etwa Quantenereignisse, sind physikalischer und geistiger Natur und zeitlicher Ausdehnung. ... Es besteht demnach zwischen dem geistigen und dem physikalischen Pol eines Ereignisses eine Zeit-Polarität: physikalische Kausalität von der Vergangenheit zur Gegenwart und mentale Kausalität von der Gegenwart zur Vergangenheit.“ (Sheldrake 2012, S.164f.)

Aber es ist bezeichnend, daß Sheldrake sich generell auf physikalische Prozesse bezieht, die er dann auch mit dem menschlichen Bewußtsein verknüpft. Die Differenz des menschlichen Bewußtseins kommt bei ihm nicht in den Blick. Kreativität wird nicht individuell bestimmt. Es bleibt dabei: Sheldrake erklärt uns die Welt, nicht den Menschen. In all den physikalischen Prozessen bleibt sein Schicksal unverstanden.

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