„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 4. Februar 2013

Rupert Sheldrake, Der Wissenschaftswahn. Warum der Materialismus ausgedient hat, München 2012

1. Prolog
2. Evolution auf der Basis morphischer Resonanz
3. Der ‚Geist‘ in der Naturwissenschaft
4. Ganzheiten wie z.B. eine Welle
5. Die Metapher des Gravitationsfeldes
6. „Brauchen wir wirklich ein Gehirn?“
7. Rekursivität und Doppelblindverfahren
8. Eine zeitliche Anatomie des Körperleibs

In den Texten von Helmuth Plessner, mit denen ich mich auseinandergesetzt habe, geht es bei der Bestimmung des Gestaltbegriffs im wesentlichen um eine Klärung seiner räumlichen Prozeßstruktur. (Vgl. meine Posts vom 21.06., 13.07.21.10. und vom 29.10.2010) Der Prozeßcharakter war dabei vor allem der subjektiven Wahrnehmung geschuldet, während die Gestalt selbst vor allem dem ‚Ding‘ zugesprochen und als etwas für sich Beharrendes und Bewegungsloses beschrieben wurde. Prozeßhaft war also nur das subjektive Erleben: ich muß einen Gegenstand in die Hand nehmen, um ihn zu begreifen, ihn vor meinen Augen drehen und wenden, um zu verstehen, daß er nicht nur eine Vorderseite, sondern auch eine Rückseite hat. Ich muß ihn in seine Teile zerlegen, um zu verstehen, daß er nicht nur eine Oberfläche hat, sondern auch eine Tiefe, daß er nicht nur Außenhorizonte hat, sondern auch Innenhorizonte.

In „Die Stufen des Organischen“ (1975/1928) bekommen dann aber die Dinge selbst eine eigene Prozeßstruktur (vgl. meinen Post vom 29.10.2010). Bei seinen Beschreibungen der Organismen als lebendigen ‚Ganzheiten‘ (im Unterschied zu ihrer bloß räumlichen Gestalt) kommt Plessner auf ihren Entwicklungsprozeß, auf ihre Ontogenese zu sprechen, in dem bzw. in der sich die Gestalt des Individuums wandelt, ohne daß es seine Identität verliert. Obwohl jetzt also der Gestaltbegriff eine zeitliche Dynamik erhält, verdeckt Plessner aber die damit einhergehenden Konsequenzen für den Gestaltbegriff, weil er jetzt einen neuen Begriff dafür einführt. Wenn eine Gestalt, die sich in der Zeit durchhält, obwohl sie sich, wie z.B. bei den Insekten, bis zur Unkenntlichkeit verwandelt, nun keine Gestalt mehr ist, sondern ein Ganzes bzw. eine Ganzheit, – verlassen wir dann nicht die empirische Ebene und werden nun meta-physisch?

Sheldrake kann uns aus dieser metaphysischen Verlegenheit befreien, da seine morphogenetischen Felder eine zeitliche Dynamik schon auf der empirischen Ebene von Dingphänomenen voraussetzen. Denn auch die kleinsten, scheinbar härtesten, weil ‚unteilbaren‘ Materieteilchen, die Atome, bilden letztlich Energiefelder: „Gemäß der Quantenphysik ist jedes Grundelement der Materie ‚ein geordnetes System strömender Schwingungsenergie‘.()“ (Sheldrake 2012, S.163)

Strömende Schwingungsenergie ist aber schlicht eine Welle, die auf verblüffend einfache Weise ‚anschaulich‘ macht, daß wir es auch bei materiellen Objekten nicht mit statischen Dingen, sondern mit Ereignissen, mit Prozessen zu tun haben, die sich in der Zeit erstrecken: und zwar sowohl in die Zukunft wie in die Vergangenheit hinein. Eine Welle kann nicht als „Augenblickserscheinung“ (Sheldrake 2012, S.163) im Koordinatensystem von Raum und Zeit eindeutig bestimmt werden: „Eine Welle ist naturgemäß etwas in Raum und Zeit Ausgebreitetes, kann also nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt einem bestimmten Punkt im Raum zugeordnet werden.“ (Sheldrake 2012, S.31)

Wenn wir uns an einen einzelnen Hier-und-Jetzt-Punkt halten wollten, hätten wir es nicht mehr mit einer Welle zu tun. Erst ihr rückwärts- und vorwärtsgerichteter Verlauf läßt ihre ‚Gestalt‘, ihren Wellencharakter sichtbar werden. Kurz: wenn wir eine Welle wahrnehmen wollen, müssen wir uns ihre Vergangenheit vergegenwärtigen und ihre Zukunft antizipieren. Erst dann haben wir eine Welle vor Augen. Anders also als bei einem dinglichen Gegenstand – wie etwa eine Kaffeetasse, die wir in der Hand hin und her drehen –, müssen wir einen zeitlichen Gegenstand in der Zeit vor- und zurückdehnen, ihm eine „Dauer“ (Sheldrake 2012, S.163) verleihen, wenn wir uns seiner ‚Gestalt‘ vergewissern wollen.

Wenn Gestaltwahrnehmung also auch auf der Ebene der Materie immer auch eine zeitliche Erstreckung schon der unbelebten Materie selbst beinhaltet, dann wird das Phänomen des Gestaltwandels auf der Ebene der Organismen etwas weniger rätselhaft. Man kann ‚im Prinzip‘ davon ausgehen, daß der Gestaltwandel von Organismen nach ähnlichen Prinzipien organisiert ist wie die Gestalterhaltung von materiellen Dingen.

Das kann Sheldrake auf besonders beeindruckende Weise am Beispiel der Proteinfaltung zeigen. (Vgl. Sheldrake 2012, S.191ff.) Bei Proteinen befinden wir uns immer noch auf der Ebene von Molekülen, also im Grenzbereich von belebter und unbelebter Materie: „Eiweiß- oder Proteinmoleküle bestehen aus sogenannten Polypeptidketten, mehr oder weniger langen Verkettungen von Aminosäuren, die sich ineinander verdrehen und zu komplexen dreidimensionalen Gebilden falten ... Ein bestimmter Typ von Proteinmolekülen faltet sich zu einer ganz charakteristischen Struktur ein.“ (Sheldrake 2012, S.191)

Das Wesentliche daran ist, daß die chemischen Formeln, die wir im Schulunterricht gelernt haben, lineare Gebilde darstellen und nicht von ungefähr mathematischen Formeln ähneln. In dieser Form kommen Moleküle aber ‚in der Natur‘ nicht vor. In der Natur bilden Moleküle räumliche Gebilde, also Gestalten. Sie erstrecken sich auf eine ganz spezifische Weise ‚im Raum‘. Anders gesagt: sie falten sich.

Nun kann sich aber jedes Molekül – bzw. in diesem Fall: jedes Protein – auf ganz verschiedene Weise falten, ohne daß sich seine chemische Formel ändert. Jede chemische Formel kann also in ganz unterschiedlichen molekularen Gestalten realisiert werden. Das ‚Ziel‘ jedes Faltungsprozesses ist ein stabiler Endzustand, in dem das Protein möglichst wenig Energie aufwenden muß, um seine Gestalt zu erhalten: „Dieser stabile Endpunkt ist eine minimal-energetische Struktur am Grund eines Potenzialtopfs, doch damit ist noch nicht gesagt, dass es sich um die einzige Struktur dieser Art handelt – es könnte Hunderte oder Tausende solcher minimal-energetischer Strukturen geben. ... In der Literatur zur Proteinfaltung begegnet uns das als ‚Problem des multiplen Minimums‘.()“ (Vgl. Sheldrake 2012, S.192)

Da in der Entwicklung eines Organismus ständig Proteinketten synthetisiert werden, müssen bei der Synthese jedes einzelnen Proteinmoleküls – rein theoretisch – tausende von minimal-energetischen Strukturen durchgespielt werden, was Sheldrake zufolge insgesamt länger dauern würde „als das Weltall alt ist“. (Vgl. Sheldrake 2012, S.196) – Nebenbei bemerkt: hier zeigt sich, daß das Buch schlecht lektoriert worden ist. Der betreffenden Textstelle zufolge wäre das Weltall nicht älter als 109 Jahre.

Es ist jedenfalls offensichtlich, daß bei der „Synthese und Faltung“ von Proteinketten „längst nicht alle Konformationen durchgespielt werden. Uns scheint es eher so zu sein, daß die Peptidkette auf lokale Interaktionen hin eine relativ kleine Anzahl möglicher Wege der niedrigsten Energie nimmt, um vielleicht über charakteristische Zwischenstadien zur Konformation der niedrigsten Energie zu finden.()“ (Vgl. Sheldrake 2012, S.193)

Sheldrake zufolge bildet die Proteinfaltung also keinen Zufallsprozeß nach dem Muster von aufeinanderstoßenden Billardkugeln, sondern sie wird von morphogenetischen Feldern organisiert, die ein Gedächtnis haben. Sie ‚erinnern‘ sich daran, auf welche Weise sich Proteinketten früher gebildet haben und halten sich an die einmal eingeschlagene Bahn. (Vgl. Sheldrake 2012, S.194) Sie haben sich daran ‚gewöhnt‘, sich auf diese Weise zu falten.

Letztlich beinhaltet die Dynamisierung der Gestaltwahrnehmung also auch eine hermeneutische Dimension: so wie Gestaltprozesse nur in erinnernder und antizipierender Weise realisiert werden, funktioniert eben auch das Sinnverstehen. Gestaltprozesse sind immer auch Sinnprozesse. Auch hier entfällt wieder ein Stück Metaphysik. Materielle Prozesse gleichen Bewußtseinsprozessen.

Download

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen