„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 22. Februar 2013

Jürgen Habermas, Nachmetaphysisches Denken II: Aufsätze und Repliken, Berlin 2012

(Versprachlichung des Sakralen. Anstelle eines Vorworts (S.7-18); I: Die Lebenswelt als Raum der Gründe: 1. Von den Weltbildern zur Lebenswelt (S.19-53), 2. Die Lebenswelt als Raum symbolisch verkörperter Gründe, (S.54-76) 3. Eine Hypothese zum gattungsgeschichtlichen Sinn des Ritus (S.77-95); II: Nachmetaphysisches Denken (S.96-237); III: Politik und Religion (S.238-327))

1. Nachtrag zur Interdisziplinarität
2. Zum ontologischen Primat der Lebenswelt
3. Gesten und Körperbewegungen
4. Mentalismus und Rekursivität
5. Und trotzdem: Bewußtsein!
6. „Kognitive Schübe“ in der Evolutionsgeschichte des Menschen
7. Pragmatischer Konstruktivismus
8. Wahrnehmungsglaube und Lebensweltglaube
9. Grammatik und Narrativität

Die Ausgangsproblematiken, von denen aus Jürgen Habermas und Helmuth Plessner ihre jeweiligen Anthropologien ‚konstruieren‘, sind äußerst verschieden. Plessner eröffnet mit dem „Körperleib“ eine individuell-subjektive Perspektive auf die Welt, die darin besteht, daß der Mensch, an der Grenze von Innen und Außen stehend, sich finden muß, um sein Leben führen zu können. Die Gegenüberstellung von ‚Körper‘ und ‚Leib‘, von Außen und Innen eröffnet einen inneren Bewußtseinsraum, dessen Hauptbedürfnis darin besteht, sich auszudrücken.

Der nach außen gerichtete Intentionsstrahl bricht sich an den verschiedenen Medien des Sagens und Handelns und wendet sich so auf sich selbst zurück, um sich dessen, was wir meinen bzw. wollen, aufs Neue zu vergewissern. Denn Sagen und Meinen, Handeln und Wollen, kommen aufgrund der Doppelaspektivität von Innen und Außen prinzipiell nicht zur Deckung. (Vgl. meinen Post vom 26.10. und vom 29.10.2010)

Es gibt bei Plessner also keinen Handlungsdruck, sondern einen Existenzdruck bzw. einen Präsentationsdruck. Bevor wir sprechend und handelnd unsere Zwecke und Ziele verfolgen und einholen können, müssen wir uns vor uns selbst und anderen wie uns selbst verständlich werden. Anders bei Habermas. Sein pragmatischer Konstruktivismus geht von vornherein von einem Handlungsdruck aus, der die Menschen dazu zwingt, zu kooperieren. Die intersubjektive Perspektive auf die Welt hat bei Habermas das Primat, von dem her eine egozentrische Perspektive sich erst absetzen läßt, „da sich die Selbstverhältnisse, die die Rede von einem ‚Ich‘ gestatten, erst auf der erreichten sprachlichen Kommunikationsstufe herausbilden. Das ‚Ich‘ ist eine soziale Konstruktion ...“ (Vgl. Habermas 2012, S.62, Anm.Nr.8)

Deshalb konzipiert Habermas die Lebenswelt nicht als ein kollektives Unterbewußtes, das seine Motive unter Umgehung des Bewußtseins zum individuellen Handeln beiträgt, sondern als einen „Raum der Gründe“ (Habermas 2012,  S.24, 55, 57 (Anm.Nr.3), 74). Wenn es deshalb bei Habermas so etwas wie eine Differenz gibt, so nicht auf der Ebene der Semantik – Habermas spricht von „bedeutungsidentisch verwendete(n) Symbole(n)“ (vgl. Habermas 2012, S.68) –, sondern nur auf der Ebene der Pragmatik: „Der Inhalt eines Sprechakts selbst stellt für den Adressaten einen Grund dar und lässt sich nicht auf eine Intention, die ein Sprecher einem Hörer zu erkennen geben möchte, reduzieren. ... Im Raum der Gründe erschöpft sich das Gesagte nicht im Gemeinten.“ (Habermas 2012, 57, Anm.Nr.3)

Hier gerät Habermas aber wieder in einen inneren Widerspruch (vgl. hierzu meine Posts vom 15.01. und vom 16.01.2013), denn entweder ist die Lebenswelt selbst schon der Raum der Gründe, wie es der Titel des ersten Teils seines Buches, „Die Lebenswelt als Raum der Gründe“, vorwegnimmt, oder der „Raum der Gründe“ muß selbst noch einmal als etwas Eigenes von dieser Lebenswelt unterschieden werden, wie es folgende Feststellung von Habermas impliziert: „Der Raum der Gründe ist in einen nichtverbalisierbaren oder vorprädikativen Sinnhorizont eingebettet.“ (Habermas 2012, S.74) – Wäre der Raum der Gründe nur in diesen lebensweltlichen Sinnhorizont eingebettet, gäbe es kein begriffliches Problem mit einer gleichzeitig irrationalen („nichtverbalisierbaren oder vorprädikativen“) und rationalen Funktion der Lebenswelt. Der rationale Teil wäre eben mit dem in die Lebenswelt bloß eingebetteten, aber von ihr unterscheidbaren „Raum der Gründe“ verknüpft.

Habermas schwankt immer wieder zwischen diesen verschiedenen Versuchen, die Lebenswelt zu bestimmen, hin und her. Mal soll die Lebenswelt als „Wissensvorrat“ dienen, den die Kommunikationspartner wechselseitig nach Bedarf aktualisieren, d.h. in dem jeweiligen Situationszusammenhang verwenden können, um ihre Handlungen zu koordinieren; ein andermal aber ‚fungiert‘ diese Lebenswelt in der Form eines Unterbewußten. Denn wenn sich im „Raum der Gründe“ das Gesagte nicht im Gemeinten erschöpft, bleibt das Ungesagte auf unkontrollierbare Weise virulent. Der betreffende Satz wäre nur dann widerspruchfrei, wenn da statt das ‚Gesagte‘, das ‚Behauptete‘ stünde, also: „Im Raum der Gründe erschöpft sich das Behauptete nicht im Gemeinten.“

Denn nur dort, wo ich einem Gesprächspartner gegenüber behaupte, daß sich mein Gesagtes im von mir Gemeinten ‚erschöpft‘, also daß sich beides ohne Differenz deckt, müßte ich auf dessen Nachfrage hin nachträglich das im Gesagten ungesagt bleibende Gemeinte in Form von Gründen einholen. Und diese Prozedur bliebe prinzipiell unendlich, es sei denn, sie ‚erschöpft‘ sich in der Bereitschaft des Gesprächpartners, die bereits angeführten Gründe als ausreichend zu akzeptieren.

Habermas selbst kommt diesem Zusammenhang von Gesagtem, Gemeintem und Behauptetem recht nahe, wenn er vom „interne(n) Zusammenhang des semantischen Gehalts mit einem Potential von Gründen“ spricht. (Vgl. Habermas 2012, S.58) Hier ist eine Differenz angedeutet, die die Differenz der Lebenswelt selbst ist. Der in der Lebenswelt ‚gespeicherte‘ semantische Gehalt bildet ein argumentatives Potential, auf das wir, wenn wir argumentieren bzw. Behauptungen aufstellen, zurückgreifen können, wenn wir unsere Behauptungen belegen müssen. Der semantische Gehalt wird in Gründe umgeformt und wird so teilweise explizit.

Gründe sind nämlich nur dann Gründe, wenn sie im Gespräch als Gründe angeführt werden. ‚Als‘ Gründe können sie nicht ungesagt bleiben, in einem wie auch immer verborgenen ‚Raum von Gründen‘. Sie können auch nicht, wie Habermas schreibt, „im Hintergrund“ „operieren“. (Vgl. Habermas 2012, S.56) Das würde nämlich nur bedeuten, daß sie entweder von einem von (mindestens) zwei Gesprächspartnern absichtlich verschwiegen würden oder daß sich alle anwesenden Gesprächspartner über ihre eigentlichen Motive täuschen und gerade etwas ganz anderes tun, als sie denken.

‚Motive‘ und ‚Gründe‘ sind nicht dasselbe. Unausgesprochene ‚Gründe‘ sind bloß Motive. Motive, die ausgesprochen werden, sind Gründe. Insofern wir niemals alle unsere Motive kennen können – siehe Plessner –, bestimmen sie uns unbewußt. Nur insofern wir sie aussprechen können, bestimmen nicht die Motive uns, sondern wir die Motive. Erst jetzt können sie als Gründe verhandelt und bewertet werden.

Aufgrund seines pragmatischen Re-Konstruktivismus befinden sich die Menschen bei Habermas immer schon in einer Welt, in der sie sich orientieren müssen, und „Gründe verschaffen orientierungsbedürftigen Personen Aufklärung über intransparente oder rätselhafte Umstände, die stören, weil sie in den Horizont eines wie immer auch nur vage – oder, wie sich herausstellen kann, falsch – verstandenen Ganzen ein Loch aufreißen.“ (Vgl. Habermas 2012, S.55)

Anstatt sich also überhaupt erst eines Selbst- und Weltverhältnisses vergewissern zu müssen, wie bei Plessner, muß bei Habermas das immer schon vorhandene Selbst- und Weltverhältnis, die Lebenswelt, vor allem repariert und ausgebessert werden: „Gründe stellen das durch Unverständnis gestörte epistemische Verhältnis zu einer vertrauten Welt wieder her. Sie reparieren selbst dann eine aufgescheuchte lebensweltliche Naivität, wenn sie unser Weltverständnis revolutionieren.“ (Habermas 202, S.55; vgl. hierzu auch meinen Post vom 17.02.2013)

Störungen der fungierenden Lebenswelt bieten bei Habermas also nicht die individuelle Chance einer Selbstvergewisserung, sondern stellen nur die gesellschaftliche Aufgabe einer Reparatur dieser Lebenswelt. Um keinen Zweifel an dieser pragmatischen Funktion von Gründen zu lassen, bezeichnet Habermas sie auch schon mal als „Gleitmittel ungestörter Kooperation.“ (Vgl. Habermas 2012, S.56) – Als solche sorgen sie für die Bedeutungsidentität von Welt (vgl. Habermas 2012, S.48, 89) und Symbolen (vgl. Habermas 2012, S.68).

Zur Problematik der Bedeutungsidentität versus einer Bedeutungsdifferenz vergleiche auch meinen Post vom 07.07.2011.

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