„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 18. Februar 2013

Jürgen Habermas, Nachmetaphysisches Denken II: Aufsätze und Repliken, Berlin 2012

(Versprachlichung des Sakralen. Anstelle eines Vorworts (S.7-18); I: Die Lebenswelt als Raum der Gründe: 1. Von den Weltbildern zur Lebenswelt (S.19-53), 2. Die Lebenswelt als Raum symbolisch verkörperter Gründe, (S.54-76) 3. Eine Hypothese zum gattungsgeschichtlichen Sinn des Ritus (S.77-95); II: Nachmetaphysisches Denken (S.96-237); III: Politik und Religion (S.238-327))

1. Nachtrag zur Interdisziplinarität
2. Zum ontologischen Primat der Lebenswelt
3. Gesten und Körperbewegungen
4. Mentalismus und Rekursivität
5. Und trotzdem: Bewußtsein!
6. „Kognitive Schübe“ in der Evolutionsgeschichte des Menschen
7. Pragmatischer Konstruktivismus
8. Wahrnehmungsglaube und Lebensweltglaube
9. Grammatik und Narrativität

Im gestrigen Post hatte ich schon angemerkt, daß Habermas den Körper im Vergleich zu seiner „Theorie des kommunikativen Handelns“ (3/1985), wo er ihn nur in Form „unselbständiger Handlungen“ zur Kenntnis nimmt (vgl. Habermas 3/1985, Bd.1, S.145), als „organischen Leib“ (Habermas 2012, S.25) bzw. als „organische Lebensvollzüge“ (Habermas 2012, S.20) aufwertet, weil er ihn am „ontologischen Primat“ (ebenda) der Lebenswelt teilhaben läßt. Tatsächlich aber ändert sich an Habermasens Bewertung der Körperfunktionen nichts.

Dort, wo der Körper eine Ausdrucksfunktion hat, spricht Habermas in einer paradoxen Formulierung von „nichtintentionalen Ausdrucksbewegungen“. (Vgl. Habermas 2012, S.63) Wie können Ausdrucksbewegungen nichtintentional sein? Nur aufgrund einer künstlichen Trennung zwischen Körperbewegungen und Gesten!

Habermas läßt bei den Gesten nur die äußere Wahrnehmung dieser Gesten zu, eben als Körperbewegungen, die einen quasi-mechanischen Effekt auf unser Bewußtsein haben: „Das materielle Element, der Laut oder die Körperbewegung, löst wie ein Katalysator die Verschränkung der sozialkognitiven mit der im engeren Sinne kognitiven Leistung aus: Die Geste ist das öffentliche Element, in dessen Wahrnehmung sich die Intentionen der Beteiligten treffen. Angeregt durch die übereinstimmende Wahrnehmung dieses Katalysators, werden die jeweiligen Einstellungen der Beteiligten auf etwas in der Welt über die gegenseitige Perspektivenübernahme so vergemeinschaftet, dass shared intentions, also geteilte Wahrnehmungen und Absichten entstehen können.“ (Habermas 2012, S.60f.)

Habermas vermeidet geradezu peinlich, die Körperlichkeit der Gesten zu thematisieren. Gesten erfüllen ihren Zweck nur als „öffentliches Element“, das wir von außen wahrnehmen, ohne innere Beteiligung und ohne Anteil des Körpers. Dessen ‚Beteiligung‘ wird auf eine Katalysatorenfunktion eingeschränkt, d.h. er bleibt an der von ihm ausgelösten kommunikativen Verständigung völlig unbeteiligt. Genau das macht ja den Charakter eines Katalysators aus, daß er Prozesse in Gang setzt, ohne sich selbst zu verändern.

Nachdem Habermas also die Körperbewegungen nur im ‚öffentlichen‘ Raum ‚reziproker‘ Wahrnehmungsperspektiven thematisiert und zugleich rekursive Bewußtseinsleistungen als unnötig „anspruchsvolle Reflexionstufe(n)“ abwertet (vgl. Habermas 2012, S.65), wundert er sich schließlich, wie Tomasello den „mentalen Fähigkeiten in der Ordnung der Erklärung Vorrang vor der Kommunikation“ geben kann, wenn sich doch „die Verschränkung von interpersonaler Beziehung und Intentionalität (im Sinne der objektivierenden Einstellung zur Welt) nicht ohne das Dazwischentreten einer Geste erklären lässt“. (Vgl. Habermas 2012, Anm.Nr.10)

Er selbst hat die naheliegendste Erklärung durch die Verbindung rekursiver Annahmen mit den von innen empfundenen Körperwahrnehmungen (Körperleib) von vornherein ausgeschlossen! Nichts ist natürlicher, als die eigenen Körperbewegungen von innen heraus zu erleben; sind wir doch über die Körperhaltung in unserem Leib anwesend, und keine Körperbewegung ist uns äußerlich. Von hierher die Körperbewegungen anderer wie mich empathisch mitzuempfinden und rekursiv auf eine komplexe Verschränkung wechselseitigen Wissens über unsere inneren Zustände zu schließen, bildet keineswegs eine anspruchvolle Reflexionsstufe.

Viel anspruchvoller ist hingegen Habermasens Alternative, die darin besteht, den Gesten über ihre Konventionalisierung einen „selbständigen“, d.h. von Körperbewegungen unabhängigen „Status“ „als Bedeutungsträger oder Speicher intersubjektiven Wissens“ zuzusprechen. Als gäbe es einen ‚eigenständigen‘, von individuellen Körpern unabhängigen, gesellschaftlichen Bedeutungsraum, der keiner eigenen materiellen Basis bedarf, eben einen luftleeren, körperlosen Raum. Jetzt müssen Gesten tatsächlich „zwischen“ zwei Bewußtseine „treten“, damit diese miteinander interagieren können, denn über ihre Körper haben sie keinen Kontakt. Ihr Bewußtsein bildet zwei voneinander getrennte Inseln, von denen aus sie sich gegenseitig aus der Ferne beobachten und einander – mittels Gesten – zuwinken, wobei sie auf ihrer jeweiligen Insel mühsam die Signale des fernen Anderen zu dechiffrieren versuchen.

Habermas schreibt einen wundervollen Satz: „Das Bewusstsein verschränkt sich von Haus aus mit Selbstbewusstsein.“ (Habermas 2012, S.36) – Ohne es zu wissen, entspricht seine Formulierung exakt dem Plessnerschen Körperleib, dem ‚Haus‘, von dem aus und in dem sich Bewußtsein mit Selbstbewußtsein verschränkt.

Und Habermas schreibt einen äußerst häßlichen Satz: „Die erste Geste, die für Ego und Alter eine identische Bedeutung stiftet, befreit das subjektive Bewusstsein aus seinem egozentrischen Gehäuse.“ (Habermas 2012, S.68) – Hier besteht das ‚Gehäuse‘, der ‚Kerker‘ im Körper, ohne Leibaspekt, und von ihm wird die Geste abgespalten, als vollziehe sie sich irgendwo anders, nur eben nicht am Körper selbst.

Denn die materielle Basis für die Inter-Subjektivität ist nicht erst der öffentliche, konventionalisierte Raum, in dem sich die ‚Geister‘ frei schwebend begegnen. Die materielle Basis für die Inter-Subjektivität ist der Körperleib selbst. (Vgl. meinen Post vom 17.07.2012) Sie besteht in der von Plessner beschriebenen Gegenüberstellung von Körper und Gehirn und in der Perspektivenvielfalt unserer Sinnesorgane. Wir sehen uns und unsere Gesten gleichzeitig von innen und von außen, und wir empfinden die Körperhaltungen der anderen wie uns in unserem Körperleib nach. Deshalb ist Habermasens Satz vom Bewußtsein, das sich von Haus aus mit Selbstbewußtsein verschränkt, so richtig. Und deshalb ist das Wort vom „egozentrischen Gehäuse“ so falsch.

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