„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 17. Februar 2013

Jürgen Habermas, Nachmetaphysisches Denken II: Aufsätze und Repliken, Berlin 2012

(Versprachlichung des Sakralen. Anstelle eines Vorworts (S.7-18); I: Die Lebenswelt als Raum der Gründe: 1. Von den Weltbildern zur Lebenswelt (S.19-53), 2. Die Lebenswelt als Raum symbolisch verkörperter Gründe, (S.54-76) 3. Eine Hypothese zum gattungsgeschichtlichen Sinn des Ritus (S.77-95); II: Nachmetaphysisches Denken (S.96-237); III: Politik und Religion (S.238-327))

1.Nachtrag zur Interdisziplinarität
2. Zum ontologischen Primat der Lebenswelt
3. Gesten und Körperbewegungen
4. Mentalismus und Rekursivität
5. Und trotzdem: Bewußtsein!
6. „Kognitive Schübe“ in der Evolutionsgeschichte des Menschen
7. Pragmatischer Konstruktivismus
8. Wahrnehmungsglaube und Lebensweltglaube
9. Grammatik und Narrativität

Mein Post vom 20.01.2013 beinhaltet Habermas gegenüber den Vorwurf eines Konstruktivismus. Habermasens pragmatisches Konzept stellt die kulturelle Phylogenese als einen logisch rekonstruierbaren Lernprozeß dar, der auf der Hypothese beruht, daß der historische Epochenwechsel eine funktionale Rationalität beinhaltet. Immer wenn bislang gültige kulturelle Paradigmen im Evolutionsprozeß an ihre Grenzen kommen und ihre die Welt erklärende und die Lebenswelt reproduzierende Kraft verlieren, treten andere, den neuen Umständen angepaßtere Paradigmen an ihre Stelle. Ich habe in dem erwähnten Post auf den Anachronismus in der anthropologischen Verfassung verwiesen, der einer solchen Rekonstruierbarkeit der kulturellen Evolution als Lernprozeß entgegensteht.

Nun scheint es in Habermasens neuestem Buch an vielen Stellen so zu sein, daß er selbst eine entsprechende Revision seiner Kommunikationstheorie in Betracht zieht. Ich werde mich in diesem und den folgenden Posts vor allem auf den ersten Teil seines Buches beziehen, also auf „Die Lebenswelt als Raum der Gründe“ (Habermas 2012, S.19-95). Hier hebt Habermas deutlicher als in seiner „Theorie des kommunikativen Handelns“ (3/1985) den „Vollzugsmodus“ von Lebenswelt und Bewußtsein hervor. (Vgl. Habermas 2012, S.24, 35, 39) Damit greift Habermas auf eine Begrifflichkeit zurück, wie ich sie in diesem Blog anhand von Texten von Merleau-Ponty und Meyer-Drawe diskutiert habe. (Vgl. meine Posts vom 21.11., 06.1207.12.2011 und vom 10.01. und 12.01.2012)

Außerdem spricht Habermas nicht mehr nur von „unselbständigen“ Körperbewegungen (vgl. Habermas 3/1985, S.145; vgl. auch meinen Post vom 16.01.2013); vielmehr weist er in seinem neuesten Buch immer wieder auf die Unverzichtbarkeit und Unhintergehbarkeit des „organischen Leibes“ (Habermas 2012, S.25) bzw. der „organischen Lebensvollzüge“ hin, in die wir „als vergesellschaftete, in ihre sozialen Beziehungen und Praktiken verstrickte, und als handelnde, in die Welt eingreifende Subjekte“ „eingelassen“ sind (vgl. Habermas 2012, S.20).

Habermas bemüht einen weiteren Begriff, die Umgangserfahrung, die ich so bisher vor allem aus Texten von Theodor Litt kannte und die ebenfalls in das begriffliche Umfeld des ‚Vollzugs‘ gehört: „Im Alltag kategorisieren wir die Dinge, die uns in der Welt begegnen, nach den Ebenen des praktischen Umgangs. ... Nicht zufällig erinnert die alltagsnahe Ontologie, die wir noch bei Aristoteles finden, an dieses von Umgangserfahrungen geprägte ‚Bild‘ der ‚objektiven Welt‘.“ (Habermas 2012, S.26)

Theodor Litt hatte den Begriff des „Umgangs“ vom wissenschaftlichen Begriff der „Sache“ abgegrenzt. Wo der Begriff des Vollzugs vor allem die präsentische Erfahrung des Hier und Jetzt hervorhebt, auf das wir uns in der Reflexion immer nur zurückwenden können, als etwas, das, sobald wir es in den Blick nehmen, in der Vergangenheit liegt, hebt der Umgang das Ganze des Selbst- und Weltverhältnisses hervor, als einen Kreisprozeß, der die Subjekte und Objekte als eine Einheit umfaßt und sie noch nicht als Sachen voneinander getrennt hat.

Auch Habermas spricht in diesem Zusammenhang von einem „Kreisprozess“: „Zwischen der Lebenswelt, die kommunikatives Handeln ermöglicht, und einem fortlaufend getesteten lebensweltlichen Hintergrund, der im ungestörten Vollzug kommunikativen Handelns bestätigt, jedoch in der Folge von Problematisierungen und Lernvorgängen auch korrigiert wird, spielt sich ein Kreisprozess ein, in dem das verschwundene transzendentale Subjekt keine Lücke hinterlässt.() Während die kommunikativ Handelnden an der Reproduktion und der Revision ihrer Lebenswelt beteiligt sind, bleiben sie in diese lebensweltlichen Kontexte gleichwohl eingebettet.“ (Habermas 2012, S.45f.)

Obwohl Habermas Theodor Litt mit keinem Wort erwähnt, ist es in diesem Zusammenhang sicher nicht uninteressant, daß er in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts bei ihm in Bonn studiert hat.

Begriffe wie „Vollzug“ und „Umgang“ sperren sich gegenüber jedem Versuch ihrer rekonstruierenden Vereinnahmung. Wenn Habermas sie deshalb ins Zentrum seines Lebensweltbegriffs stellt, so ist diese Lebenswelt längst nicht mehr so funktional, wie sie es in seiner „Theorie des kommunikativen Handelns“ ist. Die in sie ‚eingebetteten‘ Akteure können sich ihrer nicht mehr so einfach bedienen, wie er es dort darstellt. Habermas spricht der Lebenswelt innerhalb der gemeinsamen objektiven Welt sogar ein „‚ontologische(s) Primat‘ vor dem jeweils aktuellen Hintergrundbewusstsein des einzelnen Angehörigen“ zu, „denn die performativ gegenwärtigen Lebensvollzüge – also Erlebnisse, interpersonale Beziehungen, Überzeugungen – setzen den organischen Leib, die intersubjektiv geteilten Praktiken und die Überlieferungen voraus, in denen sich die erlebenden, handelnden und sprechenden Subjekte ‚immer schon‘ vorfinden.“ (Habermas 2012, S.25)

Mit dem „ontologischen Primat“ wird die Lebenswelt keineswegs ontologisiert, wie ich es in meinen Posts (vom 04.12. bis 09.12.2011) zu Meyer-Drawe zum Vorwurf gemacht habe. Hier geht es Habermas lediglich um die Unverfügbarkeit der Lebenswelt, der Habermas in dem gerade zitierten Satz interessanterweise neben den intersubjektiven Praktiken und den Überlieferungen, auch den organischen Leib zuordnet. Damit wird dem Körper etwas von der Unverfügbarkeit der Lebenswelt zugesprochen, so daß wir es nicht mehr nur mit einem Körper, sondern mit einem Körperleib zu tun haben.

Es sieht also alles nach einer Revision des Habermasschen Re-Konstruktivismus in der „Theorie des kommunikativen Handelns“ aus. So ist es aber dann doch nicht. Habermas macht lediglich einige Zugeständnisse an eine Welt, die den Erwartungen der Aufklärung, als deren Erbe er sich sieht, nicht genügt. (Vgl. Habermas 2012,S.9) An dieser Stelle möchte ich nur auf das re-konstruktivistische Interesse an einer Lebenswelt, die ständig zu zerbrechen droht, verweisen.

Ich selbst habe den Lebensweltbegriff immer in der Nachfolge von Hans Blumenberg verwendet. Blumenbergs Interesse an der Lebenswelt ist kein funktionales, sondern ein emanzipatorisches: die Lebenswelt hindert uns am Selber-Denken, also müssen wir nach Wegen suchen, wie wir den lebensweltlichen Zugriffen auf unsere individuelle Urteilskraft entkommen können. Blumenberg spricht deshalb von der Notwendigkeit einer „Autodestruktion der Lebenswelt“. (Vgl. meinen Post vom 08.08.2010) Blumenberg zufolge ist es nötig, daß sich die Lebenswelt selbst zerstört, weil wir ihr aus eigener Kraft nicht entkommen können.

Habermasens Interesse ist ganz anders gelagert. Statt von einer unüberwindlichen Lebenswelt geht er von einer brüchigen Lebenswelt aus: „Wie man die Furcht, im lockeren Geröll den Halt zu verlieren, erlebt; was man beim Erröten über einen peinlichen Fehler spürt; wie es sich anfühlt, wenn man sich auf die Loyalität eines alten Freundes plötzlich nicht mehr verlassen kann; wie es ist, wenn eine lange praktizierte Hintergrundannahme überraschenderweise ins Wanken gerät – alles das ‚kennt‘ man. Denn in solchen Situationen gestörter Lebensvollzüge wird eine Schicht impliziten Wissens aufgedeckt, ob es sich um ein habitualisiertes Können handelt, um eine Befindlichkeit, um eine verlässliche soziale Beziehung oder eine unerschütterliche Überzeugung.“ (Habermas 2012, S.22f.)

Diese Beschreibungen des Gefühls, den Boden unter den Füßen zu verlieren, erinnern nicht von ungefähr an Plessners „Lachen und Weinen“ (vgl. meine Posts vom 31.12.2010 und vom 01.01.2011) und an Nishitanis „Niesen“ (vgl.u.a. meinen Post vom 01.01.2011) Im „Erröten über einen peinlichen Fehler“ haben wir den Körperleib in voller Aktion!

Anders als Blumenberg gilt Habermasens größte Sorge also dem Erhalt einer brüchigen, jederzeit gefährdeten Lebenswelt. Ihm geht es nicht um ihre Zerstörung, sondern um ihre Reparatur, zu der uns ein ganzer Werkzeugkasten an Gründen zur Verfügung steht: „Gründe verschaffen orientierungsbedürftigen Personen Aufklärung über intransparente oder rätselhafte Umstände, die stören, weil sie in den Horizont eines wie immer auch nur vage – oder, wie sich herausstellen kann, falsch – verstandenen Ganzen ein Loch aufreißen. Gründe stellen das durch Unverständnis gestörte epistemische Verhältnis zu einer vertrauten Welt wieder her. Sie reparieren selbst dann eine aufgescheuchte lebensweltliche Naivität, wenn sie unser Weltverständnis revolutionieren.“ (Habermas 2012, S.55)

Habermas sieht in der über den Körperleib vermittelten Brüchigkeit der Lebenswelt, im Erröten, im Lachen und Weinen, im Niesen, keine Chance, sich über die Lebenswelt zu erheben. Unsere erste Naivität, die Lebenswelt, läßt sich nicht in eine zweite Naivität transformieren, die der individuellen Urteilskraft eine Chance gibt. (Zur zweiten Naivität vgl.u.a. meine Posts vom 17.11.2010 und vom 24.01.2011) Seine Option besteht darin, die erste Naivität, also die Lebenswelt wiederherzustellen.

Es kommt also nicht wirklich zu einer Revision der Theorie des kommunikativen Handelns. Vielmehr sichert Habermas seine Theorie jetzt nur an einer anderen Front ab. Hatte sich Habermas mit dem ersten Band zum „Nachmetaphysischen Denken“ noch gegen „Tendenzen einer Rückkehr zur Metaphysik“ gewandt (vgl. Habermas 2012, S.8), so hat er es mit dem zweiten Band jetzt mit der „Globalisierung der Wirtschaft und der digitalen Kommunikation“ und mit „weltweit religiösen Bewegungen und Fundamentalismen von unverminderter Vitalität“ zu tun. (Vgl. Habermas 2012, S.9)

Weil der „ungläubige“ Habermas (vgl. Habermas 2012, S.75) hier das Erbe der europäischen Aufklärung bedroht sieht, macht er sich Sorgen um die „Bindungsenergien“ (Habermas 2012, S.9) einer säkularisierten Gesellschaft. Deshalb wendet er sich den lebensweltlichen „Vollzügen“ und dem „Umgang“ zu, um zu sehen, wie sich deren Bindungsenergien bewahren und erneuern lassen. Wir haben es also mit dem Paradox eines re-konstruktivistischen Interesses an der Wiederherstellung einer ersten Naivität zu tun, das Günther Anders mit dem Bild eines bereits gebackenen und geschnittenen Brotes beschrieben hat, das wir nicht ein zweites Mal backen und schneiden können. (Vgl. meinen Post vom 24.01.2011) Aus diesem Paradox befreit uns nur der Übergang auf eine neue Ebene, eine zweite Naivität, in der sich Naivität und Kritik die Balance halten.

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