„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 20. Januar 2013

Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. Bd.1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Frankfurt a.M. 3/1985 & Bd.2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt a.M. 3/1985

1. Individuell oder singulär?
2. Grundbegriffe und Grenzbegriffe
3. Gemeinschaft als Kommunikationsgemeinschaft
4. Systemisch Unbewußtes
5. Kolonialisierung der Lebenswelten
6. Interdisziplinarität in den Grenzen eines methodologischen Dualismus
7. Transzendenz als Ebenendifferenz
8. Rollen versus Masken
9. Entwicklungsdynamiken als Lernprozeß

Habermasen Entwicklungskonzept ist eng mit dem Lernbegriff verknüpft. (Vgl.Bd.1: S.103) Demnach bilden kulturelle Entwicklungsprozesse zugleich auch Lernprozesse. Es muß sich also auch im Kulturenvergleich eine Zunahme an Rationalität dingfest machen lassen: „Wenn die Rationalität von Weltbildern in der formalpragmatisch bestimmten Dimension Geschlossenheit/Offenheit beurteilt werden kann, rechnen wir mit systematischen Veränderungen von Weltbildstrukturen, die nicht allein psychologisch, ökonomisch oder soziologisch, also mit Hilfe externer Faktoren erklärt, sondern auch auf einen intern nachkonstruierbaren Wissenszuwachs zurückgeführt werden können.“ (Bd.1: S.102f.)

Diese kognitive Orientierung an einem rekonstruierbaren Wissenszuwachs hat wiederum mit Habermasens Bestimmung des Lernbegriffs zu tun: „Das Konzept der Begründung ist mit dem des Lernens verwoben. Auch für Lernprozesse spielt die Argumentation eine wichtige Rolle.“ (Bd.1: S.39) – Wenn wir Lernen vor allem als rekonstruierbaren Begründungs- bzw. Argumentationsprozeß fassen, dann fallen dabei nicht nur alle intuitiven Momente des Lernens unter den Tisch. Wir könnten dann auch Tomasellos Differenzierung zwischen einem individuellen und einem kulturellen Lernen vergessen, da individuelles Lernen nicht an argumentativer Rechtfertigung gegenüber einem sozialen bzw. kulturellen Kontext orientiert ist, sondern ausschließlich am eigenen Bedürfnis.

Günter Dux wirft deshalb Habermasens Entwicklungskonzept vor, lediglich auf eine „‚logische Rekonstruktion‘ des historischen Verlaufsprozesses“ hinauszuwollen. Diese logische Rekonstruierbarkeit basiert Dux zufolge auf der Annahme, daß „epochale Änderungen“ auf funktionale Notwendigkeiten zurückzuführen seien. Wenn Kulturen in ihrer Entwicklung an einen Punkt kommen, wo „Integrations- und Steuerungsprobleme“ mit den bisherigen Mitteln nicht mehr zu „bewältigen“ sind, müssen sie ein höheres Integrationsniveau anstreben. (Vgl. Dux 2005/2000, S.345) Was dieser Funktionalismus übersieht, läßt sich leicht an einem Vergleich unserer technischen Zivilisation mit dem Schicksal der Osterinsel zeigen. Die Osterinsel war offensichtlich nicht in der Lage, auf den durch das Abholzen der Wälder drohenden Ressourcenverlust mit dem Übergang in eine  neue kulturelle Epoche mit nachhaltiger Waldbewirtschaftung zu reagieren. So dauerte sie ‚nur‘ 700 Jahre und ging dann zugrunde.

Wenn wir nun aus unserer Perspektive über diese Lernunfähigkeit der Osterinselbewohner bedauernd mit den Schultern zucken wollten, um dann zu unserem eigenen Lebensalltag überzugehen, weil es uns ja noch gibt und unsere Kultur deshalb offensichtlich erfolgreicher ist, wäre das nur ein weiterer Beleg für den ‚blinden Fleck‘ jeder Lebenswelt: sich selbst nicht in den Blick nehmen zu können. Weder gibt es die technische Zivilisation schon 700 Jahre, noch sind ihre Aussichten, auch nur weitere 100 Jahre so weitermachen zu können, in irgendeiner Weise realistisch. Und leider ist auch unsere Fähigkeit, den Kurs vom jetzigen Raubbau weg hin zur Nachhaltigkeit umzuändern, eher zweifelhaft. Der von Habermas vertretene Funktionalismus bildet also eher kein besonders wirkmächtiges historisches Grundgesetz.

Dux hält Habermasens logischem Funktionalismus entgegen: „In einer methodisch ergiebigen Weise läßt sich das Bewußtsein, an die Evolution anschließen zu müssen, ... nur nutzen, wenn man den Rekonstruktionsprozeß aus der Ontogenese herausführt und sich dabei an das empirisch gesicherte Wissen hält.“ (Dux 2005/2000, S.255, vgl. auch S.149, Anm.49) – Allerdings beinhaltet auch Duxens Annahme einer empirischen Rekonstruierbarkeit des „historischen Verlaufsprozesses“ eine Vernachlässigung intuitiver, anachronistischer und chaotischer Momente der Menschheitsentwicklung, die, wie ich meine, grundsätzlich gegen jede Form ihrer rational absicherbaren Rekonstruierbarkeit spricht. (Vgl. meinen Post vom 10.09.2012) Schon Darwin hatte seine sogenannte ‚Evolutions‘-Theorie – er selbst verwendete den Begriff der ‚Evolution‘ nicht – als einen Zufallsprozeß dargestellt, deren Verlauf im Nachhinein zwar beschrieben, aber nicht erklärt werden kann. Wo aber etwas nicht erklärt werden kann, kann auch von Rekonstruktion nicht mehr die Rede sein. Gerade wegen der Nicht-Erklärbarkeit konkreter Evolutionsprozesse wurde Darwins ‚Evolutionstheorie‘ lange Zeit nicht als wissenschaftliche Theorie anerkannt. (Vgl. Philipp Sarasin: „Darwin und Foucault“ (2009))

Da es mir in diesem Blog immer auch um die Autonomie der individuellen Urteilskraft geht, die ich auch gerne gegen Intelligenzkonzepte richte, die den Menschen ein unterschiedliches Intelligenzniveau zusprechen – ich selbst gehe davon aus, daß der Verstand bei allen Menschen gleichwertig ist und sich nicht quantifizieren läßt –, möchte ich hier noch auf zwei besondere Stellen bei Jürgen Habermas und Günter Dux eingehen.

Im Rahmen seiner Erörterungen zur kulturellen Phylogenese kommt Habermas zu einer Feststellung, die meine These stützt: „Wir müssen davon ausgehen, daß erwachsene Mitglieder primitiver Stammesgesellschaften grundsätzlich dieselben formalen Operationen erwerben können wie Angehörige moderner Gesellschaften, wenngleich die höherstufigen Kompetenzen dort weniger häufig auftreten und selektiver, d.h. in engeren Lebensbereichen angewendet werden.“ (Bd.1: S.74f.)

Zwar ist hier nur von formalen Kompetenzen die Rede, im Sinne des von mir abgelehnten Intelligenzkonzepts; Habermas berücksichtigt hier nicht das Konzept einer zweiten Naivität, in der intuitive und rationale Momente wechselseitig aufeinander bezogen sind. (Zur zweiten Naivität vgl.u.a. meine Posts vom 14.12.201024.01.2011 und vom 24.07.2011) Aber das Beispiel, das er bringt, geht doch in diese Richtung und leuchtet unmittelbar ein. Dabei geht es um die Frage, wie Regen entsteht. Der ‚Wilde‘ glaubt an Regengötter und ihre Priester, wir glauben an wissenschaftliche Modelle und die Meteorologen: „Er (der ‚Wilde‘ – DZ) ist zu diesem Glauben nicht aufgrund eigener Beobachtungen und Folgerungen gelangt, sondern hat ihn in derselben Weise übernommen wie das übrige kulturelle Erbe, nämlich dadurch, daß er in seine Kultur hineingeboren wurde. Wir denken beide in Denkmustern, die uns von den Gesellschaften bereitgestellt wurden, in denen wir leben. Es wäre unsinnig zu sagen, der Wilde denke über den Regen mystisch, wir dagegen wissenschaftlich.“ (Bd.1: S.74f. (Anm.74))

Man müßte noch ergänzen, daß es ebenso unsinnig wäre, zu behaupten, der ‚Wilde‘ wäre weniger ‚intelligent‘ als die Angehörigen technischer Zivilisationen. Dem widerspricht nun Günter Dux mit dem Hinweis auf ein Experiment, in dem erwachsene Mitglieder ‚primitiver‘ Kulturen die gleichen Wassermengen beim Umfüllen in schmalere oder breitere Behälter als unterschiedlich groß einschätzen, so daß sie sich – ähnlichen Experimenten von Piaget zufolge – auf dem Niveau von Vorschulkindern befinden. (Vgl. Dux 2005/2000, S.368ff.) Das Versagen beim „Urteil der Volumenkonstanz“ macht Dux deshalb an einer kulturellen „Differenz in der Urteilskompetenz“ fest, und er betont, daß „es schlicht ein Gebot wissenschaftlicher Redlichkeit ist, daß die Beweislast der Erklärung von denen übernommen wird, die hartnäckig behaupten, es gebe keine Differenz in der Urteilskompetenz.“ (Vgl. Dux 2005/2000, S.370)

Hier stehen offensichtlich Vertreter der These, daß der Unterschied beim Urteil zur Volumenkonstanz ein Problem der „Performanz“ sei, Vertretern der These, die auch Dux vertritt, gegenüber, daß der Unterschied auf die „Kompetenz“ zurückzuführen sei. (Vgl. ebenda) Der Begriff der „Performanz“ soll dabei auf die Lebensumstände der Probanden verweisen, in denen das Umschütten von flüssigen oder körnigen Substanzen wie Wasser oder Zucker in unterschiedliche Behälter keine Rolle spielt und sich deshalb ein entsprechendes rationales Know-how nicht hat herausbilden können.

Dux hält dem entgegen, daß die Probanden, wenn sie über die entsprechenden formal-operationalen Kompetenzen verfügten, sie auch anwenden würden, unabhängig von den kulturellen Performanzbedingungen. In einer Fußnote hält er fest, „daß die unbesehene Akzeptanz, die diese Theorie bei J. Habermas gefunden hat, verwundert. Ebenso verwundert die Annahme, daß ‚primitive und archaische Kulturen‘ eine formal-operationale Kompetenz ausgebildet hätten. Das Gegenteil gilt in der kulturvergleichenden Forschung inzwischen als ausgemacht.“ (S.370f., Anm.62)

Ich kann die Experimente, auf die Dux sich bezieht, nicht beurteilen. Was Piagets Experimente, die den von Dux angesprochenen Experimenten zugrundeliegen, betrifft, sind diese in ihrer Aussagekraft inzwischen jedenfalls erheblich relativiert worden. Die von Piaget postulierten Unterschiede zwischen Kindern und Erwachsenen im Bereich logischer Denkfähigkeiten sind im Vergleich zum Erwachsenenverstand wesentlich geringer, als von Piaget angenommen. (Vgl. Oerter/Montada: „Entwicklungspsychologie“ (6/2008), S.448, 457, 478)

Wenn Dux den Vertretern der Performanzthese vorwirft, daß sie nicht erklären könnten, wieso die erwachsenen Probanden nicht zum Urteil der Volumenkonstanz fähig waren, könnte man ihn mit Habermas zurückfragen, wie er zwischen dem Glauben an Regengöttern und Meteorologen unterscheiden will. Denn wissenschaftliche Modelle wie Klima und Wetter sind den Laien heutzutage ähnlich unzugänglich wie die magischen Praktiken der Priester bei ‚Primitiven‘. Allein die den Wettermodellen zugrundeliegenden mathematischen Berechnungen und Algorithmen sind prinzipiell nur wenigen Experten zugänglich. Was übrigens auch wieder nichts aussagt über deren ‚Intelligenz‘. Überhaupt ist auch die Mathematik kein Garant für Objektivität; man denke nur an die zehndimensionale Superstring-Theorie oder die elfdimensionale M-Theorie. Bei solchen wissenschaftlich nicht überprüfbaren, allein von mathematischen Modellen getragenen ‚Theorien‘ ist man nicht mehr weit weg vom Schamanismus klassischer Prägung.

Aber Fragen mit Gegenfragen zu parieren, führt nicht weiter. Ich möchte an dieser Stelle lediglich nochmal darauf verweisen, daß der Anachronismus in der anthropologischen Verfassung des Menschen – in jedem von uns als Angehörigen technologisch fortgeschrittenster, global ausgebreiteter Zivilisationen befinden sich gleichermaßen Anteile aus dem Neolithikum und noch weiter zurückreichende Gemeinsamkeiten mit unseren Primatenverwandten, die sich nach wie vor auf unser Denken und Handeln auswirken – nahelegt, die sogenannten formal-operativen Kompetenzen nicht überzubewerten. Wenn es um den menschlichen Verstand geht, um die individuelle Urteilskompetenz, sollten wir nicht nur ausschließlich auf die abstraktiven Fähigkeiten achten, sondern immer auch die leiblichen Aspekte, das embodiment, mit einbeziehen.

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