„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 14. Januar 2013

Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. Bd.1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Frankfurt a.M. 3/1985 & Bd.2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt a.M. 3/1985

1. Individuell oder singulär?
2. Grundbegriffe und Grenzbegriffe
3. Gemeinschaft als Kommunikationsgemeinschaft
4. Systemisch Unbewußtes
5. Kolonialisierung der Lebenswelten
6. Interdisziplinarität in den Grenzen eines methodologischen Dualismus
7. Transzendenz als Ebenendifferenz
8. Rollen versus Masken
9. Entwicklungsdynamiken als Lernprozeß

Habermas spricht in seiner „Theorie des kommunikativen Handelns“ immer wieder von Grundbegriffen. Diese unterscheiden sich von einfachen Begriffen dadurch, daß mit ihnen „Grundeinstellungen gegenüber Welten“ verbunden sind. (Vgl.Bd.S.80) Als ‚Welten‘ bezeichnet Habermas „Objektbereiche“ wie z.B. „Natur und Kultur“ (vgl.Bd.1:S.80) oder auch die „strukturellen Komponenten“ der Lebenswelt: Kultur, Gesellschaft und Persönlichkeit (vgl.Bd.2: S.214 u.ö.). Grundeinstellungen gegenüber Natur und Kultur wären dann beobachtende und sinnverstehende Einstellungen; gegenüber Kultur, Gesellschaft und Persönlichkeit wären wertende, normative und expressive Einstellungen möglich. An anderer Stelle bezeichnet Habermas „Sprechen und Handeln“ als Grundbegriffe der Lebenswelt (vgl.Bd.1: S.159) und dann wieder die Lebenswelt selbst als Grundbegriff (vgl.Bd.2: S.222). Wieder an anderer Stelle werden Grundbegriffe als „Deutung“ von „Welt“ beschrieben. (Vgl.Bd.1: S.75)

Ich möchte alle diese in der „Theorie des kommunikativen Handelns“ verstreuten Hinweise auf Habermasens Gebrauch des Wortes „Grundbegriff“ dahingehend zusammenfassen, daß Grundbegriffe Phänomenbereiche konstituieren. Sie stehen in derem Zentrum und halten komplexe Phänomene inhaltlich zusammen, wie etwa die ‚Natur‘ alle natürlichen, nicht vom Menschen beeinflußten oder gemachten Phänomene und die ‚Kultur‘ alle künstlichen, vom Menschen beeinflußten und gemachten Phänomene. Und indem wir die Phänomene entweder der Natur oder der Kultur zuordnen, nehmen wir ihnen gegenüber zugleich eine ‚Haltung‘ bzw. eine Grundeinstellung ein.

Wenn nun also die Lebenswelt bei Habermas einen Grundbegriff darstellt, so umfaßt sie einen Bereich von Sinnphänomenen; sie bildet einen „Wissensvorrat“ (Bd.1: S.150), der dem kommunikativen Handeln von „Aktoren“ zur Verfügung steht. Die das gemeinsame Handeln miteinander abstimmenden Aktoren bedienen sich dieses Wissensvorrates als einer „Quelle“, aus der sie diejenigen Informationen entnehmen, die sie brauchen, um zu gemeinsamen „Situationsdefinitionen“ zu gelangen. (Vgl.Bd.1: S.107) Die Lebenswelt bildet ein unproblematisches, „vorinterpretiertes“ Hintergrundwissen, aus dem sich die „Interaktionsteilnehmer“ nach Belieben bedienen. (Vgl.Bd.1: S.150)

Die Lebenswelt ist also kein problematisches Unterbewußtes, das sich dem rationalen Zugriff entzieht. Sie ist durch und durch funktional, ein „Komplementärbegriff“ des kommunikativen Handelns. (Vgl.Bd.2: S.198)

An Habermasens Kennzeichnung der Lebenswelt als Grundbegriff kann ich nun zeigen, inwiefern ich in diesem Blog immer von der Lebenswelt gesprochen habe. Mit Bezug auf Blumenberg und Husserl war – und ist – für mich die Lebenswelt kein Grund-Begriff, sondern ein Grenz-Begriff; ganz ähnlich wie ich auch Plessners Körperleib immer als einen Grenzbegriff bezeichnet habe. Ihre Grenzbegrifflichkeit ergibt sich aus ihrer dynamischen Eigenschaft, sich jedem beobachtenden und rationalen Zugriff zu entziehen und zugleich scheinbar rationale Operationen zu motivieren oder zu stören. Die Lebenswelt bildet also ein Unterbewußtsein und ist entsprechend körperlich situiert bzw. eingebettet.

Bezeichnenderweise verwendet Habermas den Begriff der Grenze vor allem im Zusammenhang des systemtheoretischen, kybernetischen Vokabulars: er spricht von „grenzerhaltenden“ Systemen, womit gemeint ist, daß Organismen und Systeme „gegen eine überkomplexe Umwelt ihre Grenze aufrechterhalten“, also sich am Leben erhalten. (Vgl.Bd.:2: S.338f.) Hier zieht sich die Grenze nicht mitten durch den Phänomenbereich hindurch, wie beim Plessnerschen Körperleib die Ambivalenz von Innen und Außen, sondern sie ist nach außen, zur Umwelt hin verschoben. Diese Grenze bildet also zwar eine Oberfläche, aber keine ‚Haut‘ im körperleiblichen Sinne.

Die innere Grenze des Körperleibs, die Doppeldeutigkeit von Innen und Außen verwandelt einen Organismus oder ein ‚System‘ in einen beseelten Organismus. Die Homöostase verwandelt sich in eine Homöodynamik. Eine solche Homöodynamik beinhaltet auch die Lebenswelt. Ihre Ambivalenz besteht aber in ihrem unkontrollierbaren, intuitiven Anteil an rationalen Sinnbildungsprozessen. Sie ist eben nicht einfach rational zugänglich. Was Plessner über die Seele als „noli me tangere“ schreibt, gilt auch für die Lebenswelt, nur daß sie vor allem aus intersubjektiven Prozessen besteht: dem kollektiven Unbewußten. Ähnlich wie die Seele sich zeigen will und doch vor dem Gesehen-werden zurückschreckt, ‚zeigt‘ sich die Lebenswelt, indem sie Motive zu unserem Handeln beisteuert; und sie verschleiert sie zugleich. Denn wüßten wir um die Herkunft dieser Motive, verlören sie sofort ihre Macht.

Wir haben es bei der Lebenswelt nicht wirklich mit einem Phänomenbereich zu tun; eher schon mit der Rückseite des Spiegels.

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