„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 18. November 2012

Kulturelle ‚Explosion‘

(Christina von Braun, Der Preis des Geldes. Eine Kulturgeschichte, Berlin 2/2012)

In den meisten modernen (wissenschaftlichen) und in einigen mythologischen Erzählungen ist es das gesprochene Wort, mit dem die Mensch-‚Werdung‘ beginnt. Die Sprache selbst ist dabei oft auf transzendentale Weise dem evolutionären Prozeß entzogen. Das Mensch-Sein setzt unmittelbar mit dem ersten gesprochenen Wort ein, und auch die ganze Sprache ist zugleich mit diesem gesprochenen Wort vollständig da. So dachte es sich z.B. der Sprachphilosoph Wilhelm von Humboldt.

Wenn überhaupt ein Werdensprozeß mit dem Einsetzen der Sprache thematisiert wird, so wird er als ‚explosionsartig‘ vorgestellt. Kaum konnten sich die Menschen sprachlich – und das hieß zunächst einmal über lange Zeit hinweg nichts anderes als ‚mündlich‘ – miteinander verständigen, so konnten sie auch schon ihr Wissen tradieren und es so – man ahnt es schon – ‚explosionsartig‘ vermehren. Kulturelle Evolution unterschied sich also von biologischer Evolution vor allem durch die Geschwindigkeit. Was dabei aber aus dem Blick geriet, waren die Differenz zwischen mündlichen und schriftlichen Kulturen und die Ähnlichkeiten zwischen mündlichen Kulturen und biologischer Evolution.

Was nämlich eigentlich vor allem auffallen müßte, ist die immens lange, zehntausende oder sogar hunderttausende Jahre umfassende Mündlichkeit, wie sie Hans Blumenberg in „Arbeit am Mythos“ beschreibt. Ein Zeitraum, in dem sich die menschlichen Kulturen ähnlich langsam veränderten wie die menschliche Biologie. So langsam jedenfalls, daß ihre Mitglieder nichts von irgendeiner Veränderung bemerkten und eine solche auch gar nicht anstrebten. Ein Bewußtsein von Veränderung konnte sich erst mit der Entstehung der Schrift vor etwa 5.000 Jahren bilden. Und erst mit der Schrift entstand auch ein neues Bedürfnis: das Bedürfnis nach Veränderung; der Unwille, das Leben der Vorfahren immer nur wiederholen zu können. Von jetzt an beschleunigte sich die kulturelle Entwicklung tatsächlich explosionsartig. (Vgl. meine Posts zu Jan Assmann vom 05.02.2011 und vom 10.02.2011)

Ich will mich jetzt gar nicht auf eine Diskussion darüber einlassen, was zuerst kam: das Seßhaftwerden und die ersten Städtegründungen oder die Schrift. Ohne zumindestens Vorformen der Schrift hätte es keine Buchhaltung und deshalb auch keine Städtegründungen gegeben. Auffällig ist dabei vor allem eines: Kaum gab es Städte, da gab es auch schon professionelle Mahner und Warner, die einem das Stadtleben vermiesen wollten. Es gab Einzelgänger und Aussteiger, die sich aus dem Stadtleben zurückzogen in irgendwelche Höhlen oder Wüsten und gesundes, einfaches, vor allem ‚heiliges‘ Leben propagierten. Bruce Chatwin führt das Wort ‚Heide‘ (pagan) auf das Seßhaftwerden zurück. Der Sündenfall, der Abfall vom rechten Glauben fällt also mit dem Stadtleben zusammen.

Was aber ist so falsch am Stadtleben? An dieser Stelle ist es nun doch nötig, sich zu entscheiden, was es denn jetzt genau ist, das zur kulturellen ‚Explosion‘ führt: die Stadt oder die Schrift. Mit Assmann im Hintergrund liegen wir schon mal nicht ganz falsch, wenn wir auf die Schrift tippen. Aber Assmanns Begründung mit der durch die Schrift ermöglichten Innovationsdynamik, bleibt doch noch an der Oberfläche des Problems. An dieser Stelle gräbt von Braun tiefer. Was die ‚Schrift‘ und das mit der Schriftlichkeit zusammenhängende ‚Geld‘ im Wesentlichen ausmacht, ist die Abwesenheit alles dessen, worauf sich Schrift und Geld beziehen, also z.B. in der Buchhaltung die Ware. Die Buchhaltung zählt zwar auf, was da ist, – aber wann hat man das letzte Mal nachgesehen?

Wer sich auf die Schrift – und mit ihr auf das Geld – einläßt, akzeptiert, daß sie für das steht, was nicht da ist. Man begeht gewissermaßen ein Opfer: man schaut nicht mehr auf den Gegenstand selbst, sondern auf das Wort, das ihn bezeichnet, bzw. auf das Geld, das ihn bewertet. Eine Abwesenheit setzt sich an die Stelle einer Anwesenheit, ein Nichts an die Stelle des Etwas. Wenn wir an Husserls Konzept der „Selbsthabe“ denken, die sich im ‚Haben‘ der ‚Welt‘ erfüllt, so liegt der Schluß nahe, daß das enorme Auswirkungen auf die Psychodynamik hat. (Vgl. meinen Post vom 05.01.2011)

Von Braun kann nun zeigen, wie in der Kulturgeschichte diese vielen kleinen Opfer durch einen großen Tod begleitet werden: durch die Opferung bzw. Tötung des eigenen Selbst: „Erst aus dieser ursprünglichen Idee, dass das Geld nicht nur ein Substitut für das Tieropfer, sondern letztlich selbst ein symbolisches Menschenopfer ist, begreift man, warum einem reinen Zeichen soviel Glauben geschenkt werden kann.“ (Braun 2/2012, S.48)

Weil wir etwas von uns selbst opfern, wenn wir Geld statt des Gegenstandes annehmen, glauben wir nun an dieses Geld, in das wir uns ‚investiert‘ haben. Man muß wohl hinzufügen: wir glauben um so mehr an dieses Geld, um so mehr es wert ist, also um so mehr wir von uns selbst in dieses Geld hinein geopfert bzw. investiert haben. Da wir aber unser Selbst in ein Nichts, in eine Abwesenheit, in ein leeres Versprechen auf mögliche Erfüllung investiert haben, ‚explodiert‘ die Entwicklung der auf diesem Versprechen basierenden Kulturen. Nicht also aus einem Bedürfnis nach Innovation heraus, sondern aus ‚Angst‘, sich sonst im Nichts zu verlieren: „Worum es hier geht ist Angst: die Angst vor der völligen Entleibung, die in einer Art von Panikreaktion nach der Multiplikation der Gewinne verlangt. Da aber das Geld immer weniger einem ‚realen‘ Wert entspricht und das Nichts sich auch nicht durch Vermehrung in eine ‚Realität‘ verwandeln lässt, die die Nerven beruhigt, wächst die Angst und führt zu Maßlosigkeit. Statt von ‚Gier‘ sollten wir also von der Unmöglichkeit der Befriedigung sprechen.“ (Braun 2/2012, S.73)

Genau das aber ist die Botschaft der Asketen und Heiligen, der ‚Unheilspropheten‘, die mit den ersten Städtegründungen auftraten und die verschiedenen Zivilisationen und Hochkulturen bis heute begleiten. Es ist nicht das erste gesprochene Wort, das den Menschen aus dem Paradies vertrieben hat, sondern die Schrift! An den Anfängen der Schriftlichkeit ging den Menschen etwas Entscheidendes verloren, was noch heute die Analphabeten dunkel ahnen, wenn sie sich nur zögernd und unter großen Ängsten alphabetisieren lassen. – Die neurophysiologische Perspektive auf die angeblich begrenzte Plastizität des Gehirns sieht den mit der Alphabetisierung einhergehenden Verlust übrigens lediglich darin, daß wir angeblich keine Spuren mehr lesen zu können. (Vgl. meinen Post vom 05.03.2011)

Die Ängste der Analphabeten ähneln den Lernblockaden vieler Schüler im Mathematikunterricht. Ich selbst habe es erst spät zu schätzen gelernt, was die Mathematik einem denkenden Menschen bedeuten kann. Als Schüler habe ich die Mathematik gehaßt. Als ich vor kurzem Gelegenheit hatte, beim Mathematikunterricht zu hospitieren, glaubte ich plötzlich, zu verstehen, woher diese Abneigung kam. Mathematik beinhaltet die Notwendigkeit, ‚um die Ecke‘ zu denken. Sich selbst aufhebende und gleichzeitig sich verstärkende Negationen sind ein allgegenwärtiges Prinzip in Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division. Als mathematischer Laie hat man bald das Gefühl, daß sich einem dabei das Gehirn verknotet.

Der Analphabet lebt in einer anschaulichen Welt. Er ist zufrieden mit dem, was er mit den Händen greifen kann. Um Schreiben und Lesen zu lernen, muß er das, was er in den Händen hält, aus der Hand legen und sich von seiner Welt abwenden. Er betritt stattdessen eine Welt, in der er nie mehr mit dem zufrieden sein wird, was er hat. Es ist eine Welt der ständigen Beschleunigung, in der am Ende, wie z.B. in der Börse, Sekundenbruchteile über Reichtum und Armut entscheiden. Von Braun vergleicht den Geisteszustand eines Traders mit dem von Mystikern: „‚Wo sieht man Gott?‘, fragt Meister Eckehart. Seine Antwort: ‚Wo nicht Gestern noch Morgen ist, wo ein Heute ist und ein Jetzt, da sieht man Gott.‘() Eine ähnliche Erfahrung der vollkommenen Versenkung in das Jetzt macht heute jeder Trader, wenn er vor seinem Computer sitzt und in Bruchteilen von Sekunden Entscheidungen treffen muss.“ (Braun 2/2012, S.53)

Von Braun bewegt sich hier auf einer Ebene, in der die Unsichtbarkeit von Daten-Bits mit der Usichtbarkeit Gottes verglichen wird. Somit kann man sagen, daß das Christentum eine psychische Disposition grundgelegt hat, die so etwas wie die Börse erst möglich machte. Dennoch hat es der Trader im Unterschied zum Mystiker mit lauter Negationen (Abwesenheiten) zu tun, während es dem Mystiker um eine Therapie genau dieser nihilistischen Grundhaltung geht. In den mystischen Erfahrungen gehen die Meditierenden zwar durch das Nichts hindurch, aber am Ende ihrer Erleuchtungen sehen sie in dem Fluß wieder einen Fluß. Nach all den Negationen des Flusses bildet für den Mystiker die Bestätigung des einfachen Phänomens als das, was es ist, die größte Erleuchtung.

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3 Kommentare:

  1. Hallo Freiwirtschaftler,
    lange nichts von Ihnen gehört! Hier nochmal meine letzte Frage vom 02.09.2012:
    „Ihr Hinweis darauf, daß es ‚prinzipiell das Beste für alle bedeutet, wenn jeder Einzelne nur das Beste für sich anstrebt‘, – beruht das nicht auf der liberalistischen These von der ‚unsichtbaren Hand‘, die im (statistischen) Hintergrund dafür sorgt, daß der verbreitete Egoismus dem Wohle aller dient? Das führt meiner Ansicht nach aber letztlich dazu, daß sich keiner mehr Gedanken über ‚richtig‘ und ‚falsch‘ zu machen braucht, so wie ja auch Nietzsche die Unterscheidung zwischen ‚gut‘ und ‚böse‘ für obsolet erklärt hatte. Zu dieser Unterscheidung fähig zu sein, halte ich aber nach wie vor für eine der größten geistigen Errungenschaften des Menschen.“
    Da ich ein hartnäckiger Mensch bin, dachte ich, ich stelle die Frage einfach nochmal.
    Viele Grüße,
    Zöllner

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  2. Heute, unter der Herrschaft der Monopole, widerstreitet die Betätigung des Eigennutzes oft genug dem gemeinen Wohl. Daher die gut gemeinten Ratschläge der Moralisten und Ethiker, den Eigennutz zu bekämpfen. Sie haben nicht begriffen, dass der Eigennutz an und für sich durchaus am Platze ist, und dass es nur einige rein technische Mängel unserer Wirtschaft sind, derentwegen der Eigennutz so häufig zu Ungerechtigkeiten führt. In einer monopolbefreiten Wirtschaft hingegen, in der es nur eine Art des Einkommens, den Lohn, geben wird, laufen Eigennutz und Gemeinnutz dauernd parallel. Je mehr die Einzelnen dann, ihrem Eigennutz gehorchend, arbeiten, umso besser werden sie den Interessen der Allgemeinheit dienen.

    Der heutige endlose Widerstreit zwischen Eigennutz und Gemeinnutzen ist eine ganz zwangsläufige Folge des herrschenden Geldstreik- und Bodenmonopols (Anmerkung: Das war Adam Smith noch nicht gewusst). Eine von diesen beiden Monopolen befreite Wirtschaft entzieht diesem Widerstreit für immer die Grundlage, weil in ihr der Mensch aus Eigennutz stets so handeln wird, wie es das Gemeininteresse erfordert. Die seit Jahrtausenden von Religionsgründern, Religionslehrern, Philosophen, Moralisten usw. aufrecht erhaltene Lehre von der Sündhaftigkeit der menschlichen Natur wegen ihrer Eigennützigkeit findet damit ein für allemal ihr Ende. Es ist keineswegs notwendig, dass wir, diesen Lehren folgend, uns durch Äonen hindurch abmühen, um uns selbst zu überwinden, um eines Tages vielleicht doch noch gemeinnützig zu werden - sondern wir können schon jetzt, heute, in dieser Stunde, die Verbrüderung der bisherigen Widersacher Eigennutz und Gemeinnutz vollziehen. Es ist dazu nicht erforderlich, dass wir den Menschen reformieren, es genügt vielmehr, wenn wir das fehlerhafte Menschenwerk, unser Geldwesen und Bodenrecht, ändern.

    Die Lösung der Sozialen Frage

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  3. Hallo Stefan Wehmeier,

    Ich habe Deine Antwort auf meine Rückfrage und auch den Text zum Link aufmerksam gelesen. Dabei sind mir verschiedene Dinge aufgefallen. Ich werde mich jetzt aber nur auf Deinen Kommentar beschränken und nicht auch noch auf den Text zum Link im Detail eingehen. Zunächst allgemein: der ‚Ton‘-Fall Deines Schreibstils steckt voller Gewißheiten, die mir abgehen. Ich war noch nie gut darin, Gewißheiten zu verkünden oder mir von anderen zugemutete Gewißheiten zu glauben. Natürlich argumentiere auch ich mit Setzungen, die ich in Gewißheitsform zum Ausdruck bringe. Aber damit sind eigentlich vor allem nur Denkangebote gemeint, verbunden mit dem Appell, daß meine Leser selber weiterdenken mögen. Und sie sollen bitte auch selber beurteilen, ob sie etwas damit anfangen können oder nicht. Ich möchte gerne mit Leuten diskutieren bzw. für Leser schreiben, die mitdenken und sich nicht von mir oder anderen das Denken abnehmen lassen.

    Außerdem ist mir aufgefallen, daß Du immer nur von der Wirtschaft und vom Geld schreibst, aber nie vom Menschen. Der Mensch scheint Dich nicht zu interessieren. Und was die Wirtschaft betrifft, scheint sie ja für Dich so weit auch in Ordnung zu sein, ob nun staatskapitalistisch oder privatkapitalistisch. Es bedarf nur der Korrektur einiger „technischer Mängel“. Das grundsätzliche Mensch-Welt-Verhältnis, das in ihr zum Ausdruck kommt, nämlich das dauernde Wirtschaftswachstum, scheint für Dich nicht das Problem zu sein. Es geht Dir nur darum, das Ausbeutungsverhältnis zu beenden. Es soll halt keiner mehr Knecht oder Sklave sein. Wenn aber jeder sein eigener Unternehmer ist, dann ist eigentlich schon alles in Ordnung. Das bißchen Raubbau an der Natur erledigt sich dann wohl von selbst? Wahrscheinlich hast Du sogar Recht. Denn dann erledigt sich wirklich alles von selbst, und am Ende wird es den Menschen einmal gegeben haben.

    Auch das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft ist kein Problem mehr, wenn wir alle Unternehmer sind und unseren ‚Lohn‘ bzw. Profit selbst bestimmen können. Denn in der „monopolbefreiten Wirtschaft“ „laufen Eigennutz und Gemeinnutz dauernd parallel“, und alle werden dissensfrei „den Interessen der Allgemeinheit dienen“. Selber denken ist dann wirklich nicht mehr nötig, denn „Eigennutz“ und „Gemeininteresse“ stimmen wohl praktisch von selbst überein. Zumindestens solange es den Menschen noch geben wird. Also bis zum großen Desaster. Aber das ist dann wohl auch nur noch ein technisches Problem?

    Die „Selbstüberwindung“ können wir jedenfalls ad acta legen. Das war dann mal. Einfach nur man selbst sein, das ist denn die große „Verbrüderung“ aller. Das fällt bei mir allerdings unter das Stichwort „Schwarmintelligenz“. Jeder wurschtelt vor sich hin und alle zusammen sind darin perfekt aufeinander abgestimmt. Ich habe aber den Verdacht – wie gesagt nur den Verdacht, denn vor der Gewißheit gruselt es mich –, daß da irgendetwas nicht stimmt.

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