„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 24. September 2012

Hans Blumenberg, Quellen, Ströme, Eisberge, hrsg.v. Ulrich von Bülow und Dorit Krusche, Berlin 2012

1. Bewußtseinsstrom versus Pulsschlag
2. Probleme des Gestaltenwandels
3. Die Einheit des Zeiterlebens
4. Im Strom oder auf dem Ufer
5. Unter der Oberfläche

Mit „Quellen, Ströme, Eisberge“ (2012) erscheint ein weiteres Buch von Blumenberg aus dem Nachlaß, zusammengestellt und herausgegeben von Ulrich von Bülow und Dorit Krusche, die verdienstvoller Weise auch erstmals einen Nachlaßband mit einem editorischen Nachwort versehen haben. (Vgl. Blumenberg 2012, S.271-292) Diesem Nachwort kann der Leser einiges Erhellendes zur Arbeitsweise von Blumenberg und auch zu seiner Metaphorologie entnehmen.

Das Buch selbst enthält einige längere und kürzere Texte zu den im Titel genannten Metaphern, die zwar einem systematischen Grundgedanken folgen, denen man aber anmerkt, daß ihnen die abschließende redaktionelle Bearbeitung des Autors fehlt. Als Leser sollte man sich deshalb die Passagen, die weiterführende Gedankengänge enthalten, wie Rosinen aus den vielen, oft allzu detaillierten Abschweifungen herauspicken; man sollte das Buch also eher quer- als durchlesen. Insgesamt scheint mir das ergiebigste Kapitel Blumenbergs Analyse der Metapher vom Bewußtseinsstrom zu sein. (Vgl. Blumenberg 2012, S.101-193)

In diesem Post möchte ich vor allem auf den Aspekt des Strömens eingehen, der Blumenberg zufolge beinhaltet, daß das Bewußtsein eine ununterbrochene Kontinuität des Zeiterlebens darstellt: „Man kann einen Fluß nicht in Portionen einteilen, ohne ihn aufhören zu lassen zu fließen ... Die Metapher des Bewußtseinsstromes impliziert, daß das Bewußtsein nur ein einziger Akt, seine Inhalte nur ein einziges Faktum sind.“ (Blumenberg 2012, S.187)

Diese Problematik, daß das Strömen des Flusses nicht unterbrochen werden darf, ohne daß er aufhört, ein Fluß zu sein, gilt aber nur für einen Fluß, der der Schwerkraft folgend abwärts fließt. Aber selbst dieser abwärts fließende Fluß bildet Blumenberg zufolge Wirbel, die die Tendenz haben, sich zu erhalten und Verzögerungen des Fließens zu bewirken: „Der Wirbel als Ursprungsform sich ordnender Welten, also sekundärer Rationalitäten, ist eine immer aus der Strommetapher abgeleitete Imagination.“ (Blumenberg 2012, S.152)

Die im fließenden Strömen entstehenden Wirbel sorgen demnach innerhalb der großen Kontinuität für kleinere Diskontinuitäten, für „Verzögerungen im Materiefluß“ (Blumenberg 2012, S.152), die z.B. im Rahmen des Stoffwechselprozesses mithilfe des „Fließgleichgewichts“ (Blumenberg 2012, S.153) eine „eidetische Konstanz des lebendigen Körpers“ ermöglichen (Blumenberg 2012, S.152). Also schon der kontinuierliche Strom beinhaltet unterschiedliche Rhythmen des langsameren und schnelleren Fließens, des linearen Vorwärtstreibens wie auch des verwirbelnden Rückwärtsdrängens.

Was also schon für das der Schwerkraft unterliegende Strömen nicht uneingeschränkt gilt – ununterbrochene Kontinuität nämlich –, gilt erst recht nicht für Ströme, die gegen die Schwerkraft gerichtet sind, weil sie pulsieren! Das bekannteste Beispiel dafür liefert der Blutkreislauf. Blumenberg verweist auf Melchior Palàgyi (1859-1924), einen ungarischen Philosophen, der sich mit der „Lebensrhythmik des Pulsschlages“ dezidiert gegen die Metapher des Strömens wendete. (Vgl. Blumenberg 2012, S.165f.) Wie nämlich Palàgyi und mit ihm Blumenberg gegen die Metapher des Bewußtseinsstroms einwenden, kann diese nicht veranschaulichen, wie es zu einzelnen, „diskret-intermittierenden“ Bewußtseinsakten kommt; also zu einzelnen Bewußtseinsakten, wie z.B. Gedanken oder Wahrnehmungen oder Wünsche. Willensfreiheit wäre in der großen, zusammenhängenden Kontinuität des Bewußtseinsstroms nicht möglich: „Aber Handlungen, Setzungen der Willkür, müssen Stücke sein, die sich solide absetzen gegen andere Bestandteile der Bewußtseinsgeschichte; nur so kann es moralische Qualifikation geben ...“ (Blumenberg 2012, S.186) Und: „Die Metapher des Bewußtseinsstromes impliziert, daß das Bewußtsein nur ein einziger Akt, seine Inhalte nur ein einziges Faktum sind.“ (Blumenberg 2012, S.187)

Wie schon die Möglichkeit von Wirbeln im Strom deutet hier auch der Pulsschlag auf eine rhythmische Dynamik hin, die den Bewußtseinsstrom in „Sequenzen“ unterteilt: „Es müssen Sequenzen gebildet werden, und nichts anderes als die Fähigkeit zur Bildung von Sequenzen ist das Bewußtsein. Dafür stellt es die Struktur der Zeit zur Verfügung; sie ist der Rahmen, in dem Sequenzen möglich sind und auch ihre Unvollständigkeit in Hinsicht auf das jeweils noch Kommende abgeschätzt werden kann.“ (Blumenberg 2012, S.156)

Um innerhalb des Bewußtseinsstroms Akte des Bewußtseins unterscheiden zu können, bedarf es also einer Sequentierung dieses Stroms. Und Blumenberg ergänzt sogar: nichts anderes ist das Bewußtsein „als die Fähigkeit zur Bildung von Sequenzen“! Es bedarf einer sequentierenden Struktur, und diese besteht wiederum in der Struktur der Zeit. Also ist auch Zeit selbst letztlich nichts anderes als Bewußtsein, was vor allem dessen rhythmisch pulsierende Dehnung in Richtung auf das „jeweils noch Kommende“ meint. In dieser intentionalen Dehnung, in verdichtenden und lockernden Akten (vgl. Blumenberg 2012, S.167), ‚treibt‘ uns der Bewußtseinspuls mehr, als daß er ‚strömt‘, auf unsere Ziele und Zwecke hin.

Woher kommt diese Sequentierung? Woran erinnert sie in ihrer Struktur? Wir haben es hier keineswegs mit einer gleichgültigen, mechanischen Uhrzeit zu tun, deren Sekunden und Minuten gezählt und gemessen werden können. Es geht vielmehr um „Verdichtung und Lockerung“ (Blumenberg 2012, S.167), um „Intensität“ (Blumenberg 2012, S.142). Wir haben es hier mit einem Zeiterleben zu tun, das ich in diesem Blog schon öfter als Narrativität beschrieben habe. (Vgl.u.a. meine Posts vom 13.07.201216.07.2012 und 17.07.2012) Michael Tomasello beschreibt das narrative Prinzip als extravagante Syntax (vgl. meinen Post vom 27.04.2010) und Helmuth Plessner beschreibt es als syntagmatische Gliederung (vgl. meine Posts vom 14.07. und 15.07.2010).

Immer geht es dabei um eine gliedernde Artikulation von ‚Sinn‘ bzw. von Bewußtseinsakten. Nur wenn die grammatische Gliederung von Sinnsequenzen und die rhythmische Gliederung organischer Lebensprozesse so ineinander greifen wie – mir fällt hier kein anderes Bild ein – ‚Zahnräder‘, also „diskret-intermittierend“ (Blumenberg 2012, S.166), können sich einzelne Wahrnehmungen und Erlebnisse zur sich ihrer selbst bewußten Gestalt einer Person fügen. Ganz ähnlich beschreibt auch Antonio Damasio die Pulse des Kernselbst als nicht mehr unterschreitbare, elementare Momente des sich aus ihnen zusammenfügenden autobiographischen Selbst. (Vgl. meinen Post vom 19.08.2012) Dieses Bewußtseinsleben geschieht tatsächlich nicht mehr als Strömen, das immer auch ein ozeanisches Verströmen, also Selbstauflösung wäre, sondern als sinnbildende und bedeutungsstiftende Narration.

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