„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 9. September 2012

Entwicklungslogiken

1. Helmuth Plessner
2. Günter Dux
3. Burckhardt/Droysen
(Vgl hierzu auch meinen Post vom 21.04.2010)

In diesem und in den folgenden Posts möchte ich noch einmal an unseren ersten Post (vom 21.04.2010) in diesem Blog anschließen. Dabei geht es um die Differenzierung unterschiedlicher Entwicklungslogiken auf biologischer, kultureller und individueller Ebene, die in ihrem wechselseitigen Bezug den Menschen ausmachen. Ich möchte an dieser Stelle den Blick vor allem auf die kulturelle Entwicklungsebene richten, und ich beziehe mich dabei auf Konzeptionen von Helmuth Plessner, Günter Dux, Jacob Burckhardt und Johann Gustav Droysen.

In meinem Post vom 30.03.2011 beschreibe ich zwei konträre Thesen von Plessner zur Entwicklungslogik der Geschichte. In „Die Einheit der Sinne“ (1980/1923) vertritt er die Auffassung, daß es eine objektive Perspektive auf die Geschichte nicht geben kann. Die in Geschichtsbüchern aufbereitete, nach Jahreszahlen geordnete Geschichte stellt nur einen winzigen und noch nicht mal wesentlichen Bruchteil der tatsächlichen Vergangenheit dar: „Man vergißt unter dem Eindruck der Kontinuität geschriebener Geschichtsbücher und dessen, was man uns gesagt hat, immer wieder die einfache Tatsache, daß in Wirklichkeit es nie so aussehen kann, wie es in literarischer Fassung erscheint und daß ‚Geschichte‘ nicht die Aufzeichnung möglichst sämtlicher vergangener Weltvorgänge oder Menschenbegebenheiten ist, von denen ja nur ein verschwindender Bruchteil sich faktisch manifestiert.“ (Plessner 1980/1923, S.144f.)

An die Stelle dieser überwältigenden Fülle unaufbereiteter Vergangenheiten setzen wir unsere eigene Gegenwart und machen sie zum Kontinuität vorgaukelnden Muster für das, was wir von der Vergangenheit zur Kenntnis nehmen: „Wir neigen dazu, unsere eigene Lebenserinnerung zum Bruchteil aller jemals möglich gewesenen Lebenserinnerungen von Menschen zu machen und einen fast substantiellen Strom der Vergangenheit zu substituieren.“ (Plessner 1980/1923, S.148)

Plessner verweist auf den immanenten Konstruktivismus dieser Geschichtsschreibung: „... das Geschehene wird erst Geschichte durch Konstruktion aus den Überresten, durch Einfügungen von Motivationsketten in freier Sinngebung des überlieferten Stoffs.“ (Plessner 1980/1923, S.148) Tatsächlich aber, so Plessner, hat die Geschichte „keine vorgegebene Grundlage in einem intuitiv einheitlichen Ganzen.“ (Vgl. Plessner 1980/1923, S.147)  Das bedeutet letztlich, daß die menschliche Geschichte keiner Entwicklungslogik unterliegt. Angesichts der Überfülle geschichtlicher Begebenheiten ist eine gesetzmäßige Zuordnung zu Epochenbegriffen und eine gesetzmäßige Beschreibung der Übergänge von einer Epoche zur nächsten unmöglich.

Letztlich haben wir es aber bei der objektiven Perspektive auf die Geschichte nur mit einem an naturwissenschaftlicher Gesetzmäßigkeit orientierten Verständnis von Entwicklungslogik zu tun. Wenn es um den Menschen geht, geht es aber immer um Sinnphänomene bzw., mit Plessner gesprochen, um „Expressivität“. In „Die Stufen des Organischen“ (1975/1928) verknüpft Plessner die Frage nach seiner Geschichte nicht mit der Unmöglichkeit einer objektiven Geschichtsschreibung, sondern mit dem Bedürfnis des Menschen, vor sich selbst verständlich zu werden. Aufgrund seiner exzentrischen Positionalität kann der Mensch nur auf vermittelte Weise in seiner Mitte sein. Und eine Form dieser Vermittlung ist die menschliche Geschichte, die „nur die ausgeführte Weise (ist), in der er über sich nachsinnt und von sich weiß.“ (Vgl. Plessner 1975/1928), S.31) In seiner Geschichte ‚drückt‘ sich der Mensch ‚aus‘, sie gehört zur expressiven Struktur seines Handelns: „Durch seine Expressivität ist er also ein Wesen, das selbst bei kontinuierlich sich erhaltender Intention nach immer anderer Verwirklichung drängt und so eine Geschichte hinter sich zurückläßt.“ (Plessner 1975/1928), S.338)

Aber eine kontinuierlich sich erhaltende Intention stellt in Plessners Anthropologie eher einen Sonderfall dar. Tatsächlich geht Plessner von einer gebrochenen menschlichen Intentionalität aus. (Vgl. Plessner 1975/1928), S.336ff.) Und so wie sich der Intentionsstrahl in den Medien des Sprechens und Handelns bricht, so daß es zu einer prinzipiellen Differenz zwischen Sagen und Meinen und zwischen Denken und Handeln kommt, so setzt sich eben menschlicher Sinn auch in der Geschichte nur auf vermittelte Weise um, und wir können in der Geschichtsschreibung diesen Sinn den historischen Zeugnissen und Dokumenten deshalb auch auf wiederum nur vermittelte Weise entnehmen. Damit arbeiten Historiker zwar an einer Kontinuität der menschlichen Sinnbestimmung, aber diese Kontinuität ist ausschließlich hermeneutisch und nicht substantiell begründet.

Es ist die Aufgabe jeder folgenden Generation, sich nicht einfach nur in diese Kontinuität zu stellen, sondern sie auf neue Weise zu verstehen. Darin unterscheidet sich die Kulturgeschichte des Menschen von seiner biologischen Evolution. Als biologisches Wesen reproduziert und variiert der einzelne Mensch in seiner individuellen Gestalt den Gattungstypus. Insofern sich in seiner individuellen Gestalt der menschliche Gattungstyp verwirklicht, haben wir es mit einer zur Kulturgeschichte analogen Ausdrucksbewegung zu tun. (Vgl. meinen Post vom 29.10.2010) Aber dieser Gestaltenwandel wird nicht durch eine exzentrische Position des einzelnen Gattungsexemplars transzendiert. Das Wechselspiel biologischer, kultureller und biographischer Bedingungen wirkt sich auf den individuellen Phänotypus schicksalhaft aus. Das individuelle Sinnverstehen fügt dem weder etwas hinzu, noch ändert es daran etwas ab. Wir werden geboren; niemand bringt sich selbst zur Welt.

Somit gibt es keine logische Kontinuität zwischen der biologischen und der kulturellen Entwicklung. Die Biologie verfolgt in den Individuen lediglich biologische Zwecke, die in diesen Individuen verkörpert sind. Indem die Individuen ihr Leben leben und sich fortpflanzen, werden diese biologischen Zwecke verwirklicht. In der Menschheitsgeschichte aber bringen die Individuen den Sinn zum Ausdruck, den sie ihrem Leben geben, indem sie es führen. (Vgl. Plessner 1975/1928), S.310) Deshalb ist die Naturgeschichte zwar eine Voraussetzung der Kulturgeschichte; aber sie setzt sich in ihr nicht fort.

Dennoch beinhaltet die menschliche Kulturgeschichte keinen Konstruktivismus. Die konstitutive Gleichgewichtslosigkeit des Menschen (Fehlen einer natürlichen Mitte), die nicht minder konstitutive Gebrochenheit seiner Intentionalität – beides Momente seiner exzentrischen Positionalität – machen jedes planerische Konstruieren von individuellen Lebensläufen oder ganzen Gesellschaftsformationen zur bloßen Illusion.

Dennoch sind diese anthropologischen Voraussetzungen der Grund, warum der Mensch sein Leben ‚führen‘ muß. Indem er seinem intentionalen Streben einen Sinn gibt, der über das bloße Scheitern hinaus geht, geht er auch über biologisch-genetische wie auch über technologisch-konstruktivistische Bestimmungen von Zwecken und Mitteln hinaus. Das Leben zu ‚führen‘, bedeutet dann vor allem, sich in einer Mitte zu halten, die uns nicht natürlich gegeben ist und die wir auch nicht künstlich herstellen können.

Denn es gilt zwar einerseits, daß sich der Mensch als „exzentrische Lebensform“, „ins Nichts gestellt“, seinen „Boden“ erst schaffen muß. (Vgl. Plessner 1975/1928), S.316) – Andererseits gilt aber eben auch, daß dieses künstlich geschaffene „Zeugnis der inneren Evidenz“ nicht den eigenen „Zweifel an der Wahrhaftigkeit des eigenen Seins“ beseitigen kann: „Es hilft nicht über die keimhafte Spaltung hinweg, die das Selbstsein des Menschen, weil es exzentrisch ist, durchzieht, so daß niemand von sich selber weiß, ob er es noch ist, der weint und lacht, denkt und Entschlüsse faßt, oder dieses von ihm schon abgespaltene Selbst, der Andere in ihm, sein Gegenbild und vielleicht sein Gegenpol.“ (Plessner 1975/1928), S.298f.)

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