„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 13. Juli 2012

Hans Blumenberg, Höhlenausgänge, Frankfurt a.M. 1989

  1. Zurück in die Höhlen?
  2. Aufgeklärter Nihilismus
  3. Vom ‚Wesen‘
  4. Phylogenese und Anthropologie
  5. Höhlen und Medien
  6. Verstehen von Höhlen
  7. Zur Legitimität der Lebenswelt
  8. Sinnesorgane und ihre Evidenz
  9. Kinästhetik und Intersubjektivität
  10. Pädagogik und Macht
  11. Methode und Selber denken
  12. Narrativität und Montageprinzip
Beim Lesen von Blumenbergs „Höhlenausgänge“ bin ich zu einigen Erweiterungen meines Rekursivitätsbegriffs gekommen, auf die ich hier eingehen will. Zunächstmal macht es Sinn, zwischen Rekursivität und Iteration zu unterscheiden. Blumenberg selbst spricht niemals von Rekursivität, sondern immer nur von Iteration. Iteration beinhaltet aber letztlich nur eine rein mechanische Wiederholung desselben ins Unendliche, wie wir es von zwischen mindestens zwei Spiegeln eingefangenen Reflexionen von Spiegelbildern kennen. Rekursivität beinhaltet hingegen eine Automatik, die durch Wenn-Dann-Regeln in Gang gesetzt wird. (Vgl. meinen Post zu Kittler vom 09.04.2012) Bei Computer-Algorithmen, die auf dieser Basis funktionieren, ist immer auch eine Beendigungsregel hinzugefügt, die bewirkt, daß sich diese Automatik nicht ins Unendliche fortsetzt. Eine bekannte rekursive Folge besteht z.B. in der Fibonacci-Folge, die eine Regel beinhaltet, nach der eine bestimmte Reihe von Zahlen erzeugt wird: 0, 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, … Diese Fibonacci-Folge kommt auch in der Natur vor, z.B. in Blütenständen, und hat dort immer eine spiralförmige Struktur.

Ich selbst spreche von Rekursivität, in Anlehnung an Tomasello (vgl. meinen Post vom 25.04.2010), immer im Zusammenhang mit der zwischenmenschlichen Kommunikation. Um den anderen Menschen ansprechen zu können, müssen wir ihn als jemanden verstehen, der wie wir mit Bewußtsein begabt ist. In der Ansprache entsteht ein gemeinsames Bewußtsein (geteilte bzw. gemeinsame Intentionalität), in der wir – rekursiv – in unserer eigenen Intentionalität die Intentionalität unseres Mitmenschen berücksichtigen. (Vgl. hierzu meinen Post vom 07.06.2012)

In diesem Zusammenhang könnte man ‚Rekursivität‘ auch mit ‚Umgang‘ übersetzen, ein Begriff, der bei Theodor Litt zum Grundbegriff seiner pädagogischen Anthropologie geworden ist. Franz Fischer, ein anderer aus der Pädagogik kommender Philosoph, spricht in diesem Zusammenhang vom ‚Umlauf‘. Gemeint ist immer dasselbe: die Entstehung eines gemeinsamen intentionalen Bewegungsraumes, in dem die eigenen Gedanken und Gefühle immer auf die Gedanken und Gefühle des Anderen bezogen werden.

Blumenberg spricht nun, wie erwähnt, an verschiedenen Stellen von Iteration, wo ich von Rekursivität sprechen würde; so spricht er z.B. von der „Iteration desselben Mythos in demselben“ und bezeichnet das als „romantische Ironie“. (Blumenberg 1989, S.188) Man kennt das z.B. als Einschlafgeschichte für kleine Kinder: „Es war einmal ein Mann, der hatte sieben Kinder, und die Kinder baten ihn vor dem Einschlafen, ihnen eine Geschichte zu erzählen. Und der Mann begann: Es war einmal ein Mann, der hatte sieben Kinder, und die Kinder baten ihn vor dem Einschlafen ...“ usw.

Blumenberg verweist auf die romantische Ironie als einem Mittel, den Höhlenbewohnern ihre Situation in der Höhle vor Augen zu führen: daß sie sich nämlich in einer Höhle befinden: „Wer den Unverstand aus der Lage der Gefangenen verstehen will ..., hat sich zu vergegenwärtigen, daß es im Wesen der Höhle liegt, bei ständigem Aufenthalt in ihr ‚das Ganze‘ zu sein, dem Unterschied von Innen und Außen, Enge und Weite keine Bedeutung zukommen zu lassen.“ (Blumenberg 1989, S.189) – Und: „Von drinnen nach draußen gibt es kein Begreifen.“ (Blumenberg 1989, S.765)

Diese Situation im sokratischen Dialog klären zu wollen, ist von vornherein aussichtslos. Die einzige Möglichkeit besteht im Erzählen einer Geschichte mit einer rekursiven Struktur: also eines Mythos in einem Mythos, eine Geschichte von Höhlenbewohnern in ihrer Höhle, die keine Ahnung davon haben, daß sie sich in einer Höhle befinden, die Höhlenbewohnern in ihrer Höhle erzählt wird, die keine Ahnung davon haben, daß sie sich in einer Höhle befinden. – Rekursivität fügt dem bislang einschichtigen Bewußtsein – mit Herbert Marcuse könnte man auch vom eindimensionalen Bewußtsein sprechen – eine weitere Schicht hinzu. Diese neue Bewußtseinsschicht erhöht den Freiheitsgrad, den Bewegungsspielraum unserer Intentionalität. Und das Verfahren des Aufstockens von Bewußtseinsschichten läßt sich theoretisch unendlich fortsetzen; allerdings ist unsere intellektuelle Kapazität begrenzt, und es bedarf weiterer narrativer Mittel, um weiter als bis zur vierten oder fünften Ordnung (Bewußtseinsschicht) vordringen zu können.

Grundsätzlich aber erzeugt dieses am Modell der Rekursivität orientierte Bewußtseinsmodell den Eindruck eines „Zwiebelschalenuniversums“: „Der Aufbau des Zwiebelschalenuniversums, dessen Witz nicht nur das Fehlen einer Kernsubstanz, sondern ebenso die Unerreichbarkeit der äußersten Schale wäre, liegt methodisch in der Reichweite der freien Variation als das Durchspielen von Fiktionen.“ (Blumenberg 1989, S.708) – Die „freie Variation als das Durchspielen von Fiktionen“ beinhaltet eben genau den Freiheitsgrad, der es uns Höhlenbewohnern ermöglicht, andere Höhlen, die die unsere umfassen oder sich ganz woanders im (Welt-)Raum befinden, zu denken.

Rekursivität bildet deshalb auch die Grundlage des finalen Höhlengleichnisses, von dem am Ende des Buches die Rede ist und das von der durch die drohende Unbewohnbarkeit der Erde erzwungenen Notwendigkeit der Rückkehr in die Höhle handelt: „So muß auch im finalen Höhlengleichnis eine Rückkehr in eine Höhle stattfinden, nachdem die der Geborgenheit in der Natur verlassen worden war ...“ (Blumenberg 1989, S.812) In dieser Höhle wird es dann einen maximal erhöhten Bedarf an Simulationen geben, die den künftigen Höhlenbewohnern das Leben unter der Erde einigermaßen erträglich machen. Mit Blick auf die jetzigen Medientechnologien fügt Blumenberg hinzu: „Es fällt nicht schwer, das ohne utopische Überanstrengung auszudenken, denn der ‚Weltschwund‘, der noch kein Untergang ist, womöglich dessen Zurückdrängung, ist schon Alltäglichkeit ...“ (Blumenberg 1989. S.804) – Ob Blumenberg mit ‚Zurück-drängung‘ ‚Ver-drängung‘ meint, führt er an dieser Stelle nicht weiter aus.

Aber noch an anderen Stellen ist von Rekursivität die Rede, wenn wir dabei an eine Erzeugungsregel denken, die das jeweils Folgende vom Vorangegangen bedingt sein läßt. So heißt es z.B. von der Innen-Außen-Differenz, daß wir es hier mit einem Verhältnis zu tun haben, das mit dem der „Spiegelungsidentität“ verwandt ist: „Es genügt nicht, seinesgleichen im Spiegel zu erkennen, um sich darin zu erkennen, und erst recht genügt es nicht, um daraus den Begriff eines anderen Ich zu gewinnen.“ (Vgl. Blumenberg 1989, S.666) – Damit geht Blumenberg über die Grenzen bloßer Iteration hinaus und dringt in den rekursiven Raum vor, in dem sich Intentionalitäten wechselweise erkennen und verstehen.

Beziehungsweise, so müßte man hier mit Plessner ergänzen, sich gegenseitig zu verstehen versuchen. Denn beim Verhältnis von ‚Innen‘ und ‚Außen‘ im rekursiven Raum geht es immer um das Problem der Expressivität, in dem die Dinge nie so zum Ausdruck kommen, wie sie gemeint sind. Blumenberg beschreibt diese Problematik anhand der Physiognomik als einer Methode, „Zugriff auf das Innere mittels des Äußeren“ nehmen zu wollen. (Vgl. Blumenberg 1989, S.666f.) Schon von Plessner her wissen wir, daß die Seele ein „Noli me tangere“ darstellt. (Vgl.u.a. meinen Post vom 16.11.2010) Der Versuch, das Innere gewaltsam auf das Äußere zurückzuführen, ist ein massiver Eingriff in die Seinsweise der Seele.

Einen weiteren rekursiven Zusammenhang finden wir zwischen der wissenschaftlichen Theorie und der Lebenswelt, den Kant auf die Formel von der „Erscheinung von der Erscheinung“ gebracht hatte: „Sie meint, daß die Differenz zwischen dem erscheinenden Gegenstand der alltäglichen Erfahrung und dem Gegenstand der wissenschaftlichen Theorie noch nicht das Reich der Erscheinung überschreitet, nur die Frage aufwirft, wie sich die lebensweltliche Erscheinung aus ihrem theoretisch erklärten Gegenstand herleitet. Aber auch dieser aus unbekannten Größen aufgebaute, in der Struktur nur erschließbare Gegenstand ist immer noch Erscheinung, obwohl der Wahrnehmung nur mittelbar zugänglich, dafür aber für alle Subjekte unabhängig von ihren subjektiven Gegebenheiten identisch. Was in der ‚Erscheinung von der Erscheinung‘ erscheint, ist dieses identische Objekt. Freilich ist es als identisches nur deshalb möglich, weil die Subjekte Bedingungen seiner Möglichkeit mitbringen, insofern sie identische Subjekte sind.“ (Blumenberg 1989, S.746)

Wenn ich Blumenberg an dieser Stelle richtig verstehe, haben wir es bei dem wissenschaftlich erklärten lebensweltlichen Gegenstand - als ‚Erscheinung‘ (theoretische Erklärung) des in der lebensweltlichen Wahrnehmung ‚erscheinenden‘ Gegenstands – mit einer intersubjektiv abgesicherten Transformation lebensweltlicher Vorgänge in Wissen (identische Objekte) zu tun. Diese Transformation überschreitet nicht das „Reich der Erscheinung“, fügt also nur der einen, lebensweltlichen Erscheinungsform, eine weitere, wissenschaftliche Erscheinungsform rekursiv hinzu, ohne die den lebensweltlichen Erscheinungen zugrundeliegenden Gegenstände wirklich erklären zu können.

Der Gegenstand wissenschaftlichen und lebensweltlichen Wissens bleibt eine black box („aus unbekannten Größen aufgebaut“), geht also nicht als solcher in die Strukturen und Funktionen wissenschaftlicher Erklärungsmodelle ein. Er kann immer nur „mittelbar“ aus den wissenschaftlichen Erklärungsstrukturen erschlossen werden. Diese Erklärungsstrukturen selbst bilden aber nun identische Objekte eines identischen Erkenntnissubjektes, der wissenschaftlichen Intersubjektivität.

Wenn ich Blumenbergs Darstellung an dieser Stelle richtig verstanden habe, bildet die Intersubjektivität wissenschaftlichen Wissens also eine rekursive Struktur, die nur noch lose mit den lebensweltlichen Wahrnehmungen und ihren Gegenständen verbunden ist. Wissenschaftliches Wissen stellt deshalb nur noch eine Erscheinung (theoretisches Wissen) von der Erscheinung (lebensweltliches Wissen) dar, also eine Erscheinung zweiter Ordnung, wie die Schatten in Platos Höhle. Eine ähnliche Analyse wissenschaftlichen Wissens hatte ich schon bei Meyer-Drawe diskutiert. (Vgl. meinen Post vom 19.01.2012) Weitgehend losgelöst also von lebensweltlichen Wahrnehmungsprozessen sichern die Wissenschaftler ihr Wissen vor allem intersubjektiv, also wiederum rekursiv ab, allerdings nicht im Sinne einer Ebenentranszendenz. Sie verbleiben vielmehr, um das Bild der Zwiebel zu gebrauchen, in ihrer ‚Schale‘, so daß wir es nur noch mit identischen Subjekten und identischen Objekten zu tun haben.

Wo diese intra-subjektive Identität in Gefahr gerät, also eine Ebenendifferenz auftritt, verliert das wissenschaftliche Wissen seine Gültigkeit, so daß alle möglichen Anstrengungen unternommen werden müssen, um dessen Identität wiederherzustellen. Ich bin mir, wie gesagt, nicht sicher, ob Blumenberg hier so verstanden werden kann, wie ich ihn auslege, denn das Zitat enthält doch recht viele, für mich dunkel bleibende Stellen.

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