„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 15. Juni 2012

Schatten und Symbole

Ich hatte schon in meinem Post vom 07.07.2011 auf fünf verschiedene semantische Dimensionen verwiesen, auf Expression, Artikulation, Referenz, Bedeutung und Sinn. In meinem Post vom 23.08.2011 hatte ich noch auf eine weitere Form der Informationsübertragung verwiesen, die aus der Semantik herausfällt: auf das Signal. In Blumenbergs „Höhlenausgänge“ (1989) bin ich nun auf noch eine semantische Differenzierung gestoßen, die ich bislang nur im Rahmen meiner Unterscheidung zwischen phänomenalen und narrativen Gegenständen berücksichtigt hatte. (Vgl. meinen Post vom 25.10.2011) Dabei geht es um das „Symbol“ und seine „lebensweltliche Integration“. (Vgl. Blumenberg 1989, S.163ff.)


Im Verlauf seiner Kommentare zu Platos Höhlengleichnis verläßt Blumenberg die Ebene der Erkenntnisbeziehung zwischen Schatten und Ideen, in der die Schatten nur schwächliche Abbilder der Ideen darstellen, und er fragt sich, ob nicht die Schatten im Bewußtsein der Höhlenbewohner längst eine ganz andere Bedeutung erhalten haben könnten. Im Bewußtsein der Höhlenbewohner besteht das von Plato aufgeworfene Problem der Realitätsferne der Schatten überhaupt nicht. Die Frage nach ihrer „Herkunft“, also nach ihrem Bezug auf die Ideen, stellt sich ihnen nicht. Vielmehr sind die Schatten in die Lebenswelt der Höhlenbewohner vollständig integriert.

Die Höhlenbewohner haben zwar auch eine Erkenntnisbeziehung zu diesen Schatten, aber nicht eine der Abbildlichkeit zu einer ihnen völlig unbekannten Außenwelt, von der sie noch nicht einmal wissen, daß es sie überhaupt geben könnte. Sie verständigen sich vielmehr, so Blumenberg, über die zeichenhafte Bedeutung der Schatten, die auf lebensweltliche Rituale der Höhlenbewohner verweisen. Die Schatten sind zu „bloße(n) Zeichen für die Auslösung und Terminierung von Verhaltensweisen“ geworden, – zu „Symbolen“: „Das Symbol verschließt sich gegen seine Herkunft, auch und gerade gegen die als Abbild. Es heraldisiert sich bis zur formalen Unkenntlichkeit, um ganz seiner Verweisung zu dienen: Verweisung auf das, was es selbst nicht ist, nicht sein darf und nicht sein kann.“ (Blumenberg 1989, S.164)

Wir haben es also mit jenem Aspekt einer Semantik zu tun, die als Referenz auf Gegenstände verweist. So wie Namen und Bezeichnungen auf äußere, physische Gegenstände verweisen, verweisen Symbole auf innere, lebensweltliche ‚Gegenstände‘, womit vor allem das ‚Verhalten‘ gemeint ist: „Ein Symbol beeinflußt das Verhalten gerade kraft des Einverständnisses, sich mit ihm als ‚Gegenstand‘ nicht einzulassen.“ (Blumenberg 1989, S.165)

In beiden Verweisungsformen, nach außen wie nach innen, steht das verweisende Zeichen oder Symbol in keinem Abbildverhältnis zum Gegenstand, was die spezifische Differenz der Referenz ausmacht. So wenig wie der Wegweiser in der äußeren Welt schon der Ort selbst ist, auf den er verweist, sondern ganz in seiner Funktion, auf ihn hinzuweisen, aufgeht, ist das Symbol, „als Verweisung auf das, was es selbst nicht ist, nicht sein darf und nicht sein kann“ (Blumenberg 1989, S.164), schon die Sache selbst. Das Symbol – etwa eine Fahne – weckt eben nicht aufgrund seiner Materialität unser Interesse, sondern als Verweis auf eine Zugehörigkeit, die uns entweder einschließt oder ausschließt. Der Stoff der Fahne ist weder ein Vaterland noch ein Verein.

Die Höhlenbewohner verständigen sich also eigentlich gar nicht über die Wirklichkeit der Schatten als scheinbarer Außenwelt, sondern über deren lebensweltliche Funktion. Es geht ihnen – folgt man Blumenbergs Vorschlag – nicht um Fragen der ‚Passung‘, der Abbildlichkeit ihrer Erkenntnisse mit der Realität, sondern um den subjektiven Bezug ihrer Aussagen zur Welt als Lebenswelt. Kurz gesagt: auch die Höhlenbewohner leben in einer Welt, und in dieser Welt haben die Schatten vor allem eine symbolische Bedeutung, in der ihre Abbildlichkeit, ihr Bezug zur Wirklichkeit bzw. zu den ‚Ideen‘ überhaupt keine Rolle spielt.

Wir können also innerhalb der Referenz als einer semantischen Dimension noch einmal unterscheiden zwischen Verweisen auf äußere Gegenstände und Verweisen auf innere Gegenstände. Und die ‚Realität‘ der Schatten innerhalb der Lebenswelt der Höhlenbewohner ist von keiner geringeren Qualität als die der Gegenstände der Außenwelt.

Und schließlich steckt darin auch noch eine andere, über die referentielle hinausgehende Differenz: die des Bewußtseins zu seinen Gegenständen. Auch mit seinen inneren Gegenständen ist das Bewußtsein nicht identisch. Denn unsere innere Welt umfaßt als zentrale narrative Struktur insbesondere das Gedächtnis. Und unsere Erinnerungen haben wir nur begrenzt unter Kontrolle. Aufgrund dieser entscheidenden Differenz des Bewußtseins zur Innen- wie zur Außenwelt sind semantische Dimensionen deshalb immer auch Dimensionen einer Differenz.

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Samstag, 9. Juni 2012

Rekursivität bei Pratchett, in der Psychoanalyse und als Redewendung

In einem meiner Posts zu Schrott/Jacobs (vom 25.07.2011) war schon mal die Rede davon gewesen, daß die rein logisch unendliche Rekursivität (ich weiß, daß du weißt, daß ich weiß ...) beim Menschen intellektuelle Grenzen hat: er kommt gerade mal bis zur fünften Stufe und übertrifft damit immerhin die Schimpansen, die nur bis zur zweiten oder dritten Stufe kommen. Um zu veranschaulichen, was es mit der Rekursivität im Lebensalltag auf sich hat, habe ich auch schon mal einen Post geschrieben. (Vgl. meinen Post vom 21.02.2012) Dem möchte ich in diesem Post noch einige weitere Beispiele hinzufügen.

Daß der Mensch generell nur bis zur fünften rekursiven Stufe des wechselseitigen Wissens voneinander gelangt, gilt, wie man bei Terry Pratchett nachlesen kann, nicht für den Patrizier von Ankh-Morpork, der das rekursive Spiel anscheinend tatsächlich bis ins Unendliche treiben kann. Bei einem heimlichen Besuch in einer verfeindeten Stadt gibt sich der Patrizier als Gaukler aus und jongliert vor den mißtrauischen Wächtern der Stadt mit vier Melonen und drei Messern, die dann, also die Melonen, am Ende säuberlich zerlegt auf dem Boden landen, während die drei Messer vor den Sandalen der Wächter im Boden stecken bleiben. Die Wächter sind angemessen beeindruckt und lassen den Patrizier mitsamt seiner Gauklertruppe weiterziehen. Als ihn einer der verkleideten Gaukler fragt, wie er das mit dem Jonglieren gemacht hat, antwortet der Patrizier:

„Soll das heißen, du kannst es nicht, Feldwebel?“
„Nein, Herr!“
„Seltsam. Eigentlich ist gar nicht viel dabei. Man weiß, wo sich die Objekte befinden und wohin sie fliegen. Man muß nur dafür sorgen, daß sie die richtigen Positionen in Raum und Zeit einnehmen.“ Und er fügt hinzu:
„Glaub mir, Feldwebel: Im Vergleich zu Ankh-Morpork ist es kaum der Rede wert, einige fliegende Gegenstände unter Kontrolle zu halten.“

Der Vergleich, den der Patrizier hier zwischen dem Jonglieren mit Gegenständen und dem unter Kontrolle Halten einer ganzen Stadt zieht, beinhaltet die Notwendigkeit, immer zu wissen, was die Bürger von Ankh-Morpork und ihre Interessensvertreter gerade wollen, was sie voneinander glauben, was jeder gerade will, was sie voneinander glauben, was die jeweils anderen von einem selbst wissen, was man gerade will, und was sie darüber hinaus glauben, vom Patrizier zu wissen, was er über sie weiß, wobei sie nie genau wissen, was er gerade will. Und da der Patrizier bei dieser Gelegenheit auch seine erstaunlichen Fähigkeiten beim Hütchenspiel mit drei ausgehöhlten Melonenhälften und einem Hühnerei demonstriert hatte, ergänzt er: „Und in der Politik, Feldwebel, ist es immer wichtig zu wissen, wo sich das Huhn befindet.“ („Fliegende Fetzen“ (1997/1999), S.317) – Wobei das Huhn möglicherweise derjenige ist, der den anderen das Ei unter die Melonenhälften ‚legt‘, hinter dem dann alle her sind.

Ein anderes Beispiel für Rekursivität bieten Pratchetts Tiffany-Aching-Romane. In „Kleine freie Männer“ besteht Tiffany gefährliche Abenteuer im Feenreich. Dabei geht es um Tiffanys Fähigkeit, zwischen verschiedenen Bewußtseinsebenen zu wechseln, was als erster, zweiter und dritter Blick beschrieben wird. Verbildlicht wird das mit einem einigen Kapiteln vorangestellten mal geöffneten, mal geschlossenen Auge. Es geht also um Einschlafen und Aufwachen und wie dabei jeweils die Realitätsebene gewechselt wird. Wenn Tiffany einschläft, verliert sie die Kontrolle über ihre Blicke, und die Feenkönigin übernimmt die Kontrolle. Wenn Tiffany ‚aufwacht‘, ist sie in der Lage, die wahre Situation, also die ‚Realität‘, zu durchschauen und sich der Feenkönigin zu widersetzen. Das Feenreich steht also für das Einschlafen und für das Schließen der Augen und dafür, das Aufwachen zu verhindern.

Dabei ist es wichtig, daß der erste und der zweite Blick (und wahrscheinlich auch der dritte Blick) sich wechselseitig kontrollieren. Es ist oft der erste Blick, der die Wirklichkeit so wahrnimmt, wie sie wirklich ist, und erst der zweite Blick fügt Täuschungen hinzu, Selbsttäuschungen oder auch Manipulationen durch andere wie z.B. der Feenkönigin. Aber es ist der zweite Blick, der Tiffany den Weg in das Feenreich öffnet, weil der erste Blick für die Realitäten des Feenreiches blind ist. Und der dritte Blick wiederum wartet wachsam im Hintergrund auf seine Gelegenheit, wenn die anderen Blickebenen versagen, wiederum aufgrund der Macht der Feenkönigin, und eröffnet einen weiteren Freiraum des Sehens. Und wiederum im Innersten von Tiffany befindet sich ein letzter Raum, ein Versteck, in das sie sich zurückzieht, als die Feenkönigin alle anderen Bewußtseinebenen besetzt hält, um von dort aus einen letzten, diesmal siegreichen Gegenangriff zu starten.

Dabei eröffnet Pratchett übrigens einen Blick in die Tiefen der Erdgeschichte: Tiffanys letztes Versteck ist das Land, dem sie ihre hexischen Gaben verdankt. Wir haben es also mit einem Blick in evolutionäre Zeiträume zu tun; insofern Tiffany von dort letzte, unüberwindliche Kräfte zuströmen, handelt es sich dabei um eine weitere rekursive Perspektive.

Ganz ähnlich wie Tiffany hat auch Sam Vimes, der Kommandeur der Stadtwache von Ankh-Morpork, einen inneren Wächter, eine ‚innere‘ Polizei, die auf den Polizisten aufpaßt, damit er seine Macht nicht mißbraucht. Und als einmal eine Schwarmintelligenz auf das Bewußtsein von Sam Vimes zuzugreifen versucht, flieht dieser innere Wächter durch die ‚Straßen‘ und ‚Häuser‘ seiner inneren ‚Stadt‘, alles wiederum Beispiele für das rekursive Spiel, das auch der Patrizier so meisterhaft beherrscht.

Ein anderes Beispiel für Rekursivität bildet die Psychoanalyse: der Patient, der auf seiner Couch liegt, und der Arzt, der ‚hinter‘ ihm auf seinem Stuhl sitzt. Immer wenn der Patient den Arzt anspricht, antwortet dieser mit einer Gegenfrage: „Was meinen Sie damit?“, oder er trägt zu den Selbstberichten des Patienten Floskeln bei, wie: „Wie fühlten Sie sich dabei?, „Was ging da in Ihnen vor?“ etc. Mit diesen ‚Rückmeldungen‘, die niemals irgendeinen Kommentar oder eine Bewertung oder eine Schlußfolgerung enthalten, also völlig inhaltsleer sind, schickt er den Patienten wieder auf die rekursive Reise ins Innere seiner selbst, um aus den Brunnentiefen auch noch das Letzte herauszuholen, was immer sich dort unten befinden mag. Auch dies ist ein potentiell unendliches rekursives Spiel in das eigene Bewußtsein hinein.

Ein weiteres Beispiel ist die Redewendung eines bekannten Kabarettisten: „Ich weiß nicht, ob Sie es schon wußten ...“, um dann gleich eine seine Geschichten zum Besten zu geben, egal, ob wir es nun schon wußten oder auch nur wissen wollen oder nicht.

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Freitag, 8. Juni 2012

Michael Tomasello, Warum wir kooperieren, Berlin 2010 (2008)

(I: Warum wir kooperieren; 1. Zum Helfen geboren (und erzogen) (S.19-48); 2. Von sozialer Interaktion zu sozialen Institutionen (S.49-81; 3. wo sich Biologie und Kultur treffen (S.82) // II: Forum; Joan B. Silk (S.87-94); Carol S. Dweck (S.95-101); Brian Skyrms (S.102-107); Elizabeth S. Spelke (S.108-123))

1. Methode
2. Rekursivität und institutionelle Realitäten
3. Rekursivität und Roboter
4. Mutualität versus Altruismus?

Tomasellos Bestimmung der anthropologischen Differenz, die er am „einzigartige(n) ‚Wir‘-Gefühl der Menschen“, am „Sinn für geteilte Intentionalität“ festmacht (vgl. Tomasello 2010, S.53), wirft die Frage nach dem Verhältnis von individueller und kollektiver ‚Intelligenz‘ auf. Ich selbst spreche in diesem Zusammenhang immer lieber von ‚Bedürfnissen‘ als von ‚Intelligenz‘. (Vgl. meinen Post vom 01.01.2011) Auch Tomasello stellt die Frage nach dem individuellen und sozialen Umgang des Menschen mit seinen Bedürfnissen: „Alle lebensfähigen Organismen müssen eine egoistische Ader haben und sich um ihr eigenes Wohlergehen und Überleben sorgen, andernfalls würden sie nicht viele Nachkommen hinterlassen. Menschliche Hilfsbereitschaft und unser Wille zur Kooperation bauen sozusagen auf diesem grundlegenden Eigeninteresse auf.“ (Tomasello 2010, S.20)

Die mit den grundlegenden Bedürfnissen verknüpfte Überlebensfrage ist also nicht gleichgültig für die Frage nach der anthropologischen Differenz, also nach der Menschlichkeit des Menschen. Das hat schon ein anderer, großer Philosoph vor zweieinhalb Jahrhunderten so gesehen: Rousseau. (Vgl. meinen Post vom 17.03.2012) Tomasello verweist kurz auf Rousseau, indem er ihn mit Hobbes vergleicht und eine Opposition zwischen beiden aufmacht, in der Rousseau für die kooperative Natur des Menschen steht und Hobbes für die egoistische Natur des Menschen. (Vgl. Tomasello 2010, S.19 und 46) Auch Joan B. Silk schreibt im Forum: „Die stag hunt ist ein Rousseausches Ideal, in der Natur jedoch möglicherweise nicht sehr verbreitet.“ (S.90)

Aber Rousseau baut seine Anthropologie nicht etwa auf der kooperativen Natur des ‚Wilden‘ auf, sondern auf seiner ursprünglich solitären Lebensweise. Unter den Bedingungen dieser Lebensweise ist er gut, weil er sich alle seine Bedürfnisse selbst befriedigen kann und eben nicht kooperieren muß. Er ist in seiner Bedürfnisbefriedigung nicht abhängig von der Hilfeleistung anderer. Die „stag hunt“, von der Silk spricht, also die Hirschjagd, beinhaltet, daß man zum Erlegen einer Beute von dieser Größenordnung die Mithilfe von anderen Jägern und Treibern braucht. Ein Mensch alleine könnte nur Hasen jagen. Mit dieser Metapher soll letztlich verdeutlicht werden, daß die herausragenden kulturellen und technischen Leistungen aus der Zusammenarbeit vieler intelligenter Menschen hervorgegangen sind. Anders als noch bei Rousseau ist dabei immer auch impliziert, daß ein Mensch für sich alleine letztlich nur vegetieren kann, also irgendwie kein richtiger Mensch ist.

Von dieser stag hunt ist im ersten Teil von Rousseaus Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit der Menschen, wo es um die ursprüngliche Güte des Menschen im Naturzustand geht, überhaupt nicht die Rede. Erst im zweiten Teil, in dem der Mensch den Naturzustand verläßt, spricht Rousseau vom stag hunt, als erstem Schritt des Wilden in die Abhängigkeit von anderen Menschen. Rousseaus Ansicht nach kommt die Menschlichkeit des Menschen gerade in der städtischen Zivilisation immer zu kurz. Gerade unter den Bedingungen der Arbeitsteilung, die Rousseau nicht als Kooperation, sondern als Abhängigkeit und Konkurrenz verstand, wird der Mensch ständig daran gehindert, seine eigenen, individuellen Potentiale gemäß seinen eigenen, individuellen Bedürfnissen zu entfalten.

Tomasellos Rousseaumißverständnis führt uns also mitten in die Problematik des Verhältnisses von Mutualität und Altruismus. Und gerade dieses Rousseaumißverständnis zeigt auch, daß Tomasello bei der begrifflichen Differenzierung zwischen Mutualität und Altruismus Schwächen zeigt. Dabei geht es ihm vor allem um die Frage, welche von diesen beiden die individuellen und sozialen Bedürfnisse des Menschen organisierenden Sozialformen die grundlegendere ist. Wenn man von Tomasellos eingangs zitierter Darstellung der „egoistischen Ader“ als einem „grundlegenden Eigeninteresse“ ausgeht, ist die Antwort eigentlich recht einfach. Vor diesem Hintergrund wäre Altruismus etwas äußerst Künstliches, zu dessen Möglichkeitsbedingungen eine entsprechend starke kulturelle Nötigung gehören würde. Entsprechend hält auch Tomasello fest, daß er den „menschliche(n) Altruismus“ für „keine universelle Eigenschaft“ hält und „daß Menschen in verschiedenen Bereichen und unter spezifischen Bedingungen mehr oder weniger altruistisch handeln.“ (Vgl. Tomasello 2010, S.20) – Demnach geht Tomasello davon aus, daß sich ein Altruismus nur unter entsprechend günstigen Umweltbedingungen ausprägen kann. Altruismus ist „kein genereller Wesenszug“. (Vgl. Tomasello 2010, S.31)

So hält Tomasello dann auch grundsätzlich fest: „Ich glaube nicht, daß Altruismus die Grundlage für die Fähigkeit und Tendenz der Menschen ist, gemeinsam zu leben und in institutionell definierten kulturellen Gruppen zu funktionieren. Der Altruismus spielt hierbei nur eine Nebenrolle. Viel entscheidender ist der Mutualismus, durch den wir alle von unseren gemeinsamen Handlungen profitieren. ... Mutualismus ist also möglicherweise der Ausgangspunkt für den menschlichen Altruismus und die Entstehung einer Art geschützten Raums, in dem die Menschen beginnen konnten, sich in dieser Richtung zu entwickeln.“ (Tomasello 2010, S.49f.)

So einfach zunächst, – und dann doch wieder nicht. Denn an anderer Stelle macht Tomasello wiederum den Altruismus zur grundlegenden Sozialform. Dort heißt es, daß es „drei Hauptarten des Altruismus in Abhängigkeit von der beteiligten ‚Ware‘“ gebe (vgl. Tomasello 2010, S.20): „Gegenstände, Dienstleistungen und Informationen.() Im Hinblick auf Gegenstände wie Nahrungsmittel bedeutet Altruismus, großzügig zu sein und zu teilen; wer im Hinblick auf Dienstleistungen altruistisch ist und beispielsweise einen außer Reichweite befindlichen Gegenstand herbeiholt, ist hilfsbereit; und die dritte Kategorie umfaßt das altruistische Teilen von Informationen und Einstellungen (einschließlich Klatsch und Tratsch). Es ist wichtig, zwischen diesen drei Typen des Altruismus zu unterscheiden, weil sich die jeweiligen Kosten und Erträge unterscheiden und möglicherweise verschiedene Evolutionsgeschichten haben.“ (Tomasello 2010, S.20f.)

Bei den genannten drei „Typen des Altruismus“ handelt es sich um „Helfen“ (vgl. Tomasello 2010, S.21-26), „Informieren“ (vgl. Tomasello 2010, S.26-31) und „Teilen“ (vgl. Tomasello 2010, S.31-35) Die drei Typen bilden zugleich die Ursprünge der menschlichen Kommunikation. Wenn aber der Mutualismus fundamentaler ist als der Altruismus und wir mit den Menschenaffen zwar nicht den Altruismus, aber sehr wohl den Mutualismus gemeinsam haben, und wenn dann aber nur das Informieren ein Alleinstellungsmerkmal des Menschen ist (vgl. Tomasello 2010, S.30f.), wir also die anderen beiden Typen des Altruismus mit den Menschenaffen ebenfalls gemeinsam haben, wie kann dann Mutualismus vom Altruismus so verschieden sein, daß Tomasello dem einen, eben dem Mutualismus, eine auch die Menschenaffen umfassende Universalität zuspricht, und dem anderen, dem Altruismus, sogar eine lediglich den Menschen und seine Motive einbeziehende Universalität abspricht?

Auch andere Textstellen widersprechen Tomasellos Versuchen, den Altruismus auf diese Weise dem Mutualismus nachzuordnen. So heißt es z.B. über die Hilfsbereitschaft von kleinen Kindern im Alter von 14 bis 18 Monaten: „Kinder helfen ... auf erstaunlich vielfältige Art und Weise. In unserer Studie halfen sie einem Erwachsenen, vier unterschiedliche Arten von Problemen zu lösen: Sie holten außer Reichweite befindliche Gegenstände herbei, beseitigten Hindernisse, korrigierten einen Fehler des Erwachsenen und wählten die korrekte Vorgehensweise für die Lösung einer Aufgabe.“ (Tomasello 2010, S.21f.) – Und alles das taten sie, ohne dafür eine Gegenleistung zu erwarten, also nicht aus mutualistischen Motiven!

Ganz im Gegenteil führte der Versuch, die Kinder für ihre Hilfsbereitschaft zu belohnen, dazu, daß sie nun weniger oder sogar gar nicht mehr hilfsbereit waren. (Vgl. Tomasello 2010, S.22f.)  Um hilfsbereit zu sein, zahlten sie sogar einen Preis, indem sie z.B. ein spannendes Spiel unterbrachen, nur um einem Erwachsenen zu helfen. Wurden sie aber dafür belohnt, ‚externalisierten‘ sie ihre Hilfsbereitschaft und erwarteten von nun an immer eine Gegenleistung. (Vgl. Tomasello 2010, S.23) Tomasello hält ausdrücklich fest, daß dieser bei Kleinkindern beobachtete Altruismus nicht etwa kulturell bedingt, sondern ausschließlich intrinsisch motiviert war, und: „Konkrete Belohnungen leisten also nicht nur keinen unterstützenden Beitrag zur Entwicklung der Hilfsbereitschaft von Kindern, sondern könnten diese sogar untergraben.“ (S.23f.)

Erst im späteren Lebensalter werden kulturelle Erfahrungen wichtiger für die spezifische Ausprägung dieses ursprünglichen Altruismus. Und erst dann ist der Altruismus auch nicht mehr universell, wie eben im Kleinkindalter, sondern kulturell verschieden.

Alles das zeigt, daß Tomasellos Versuch, zwischen Mutualismus und Altruismus zu unterscheiden, in sich widersprüchlich und insgesamt verworren ist. Mir scheint nach der Lektüre seines Buches, daß es zwei Möglichkeiten gibt, zwischen Mutualismus und Altruismus zu differenzieren: zum einen könnte man von den Interessen und Bedürfnissen der Individuen ausgehen, zum anderen von den Interessen und Bedürfnissen der Gesellschaft. Von den Individuen ausgehend bestünde der Mutualismus in einem auf Gegenseitigkeit beruhenden Interessenausgleich. Dem entspräche die goldene Regel: wie du mir, so ich dir! Und Altruismus wäre dann ein auf Empathie (Mitleid) beruhendes Bedürfnis, Notleidenden zu helfen. Dem entspräche das christliche Gebot der Nächstenliebe. Als extrinsische und intrinsische Motivationsformen schließen sie sich gegenseitig aus. Ich kann nicht gleichzeitig einem Notleidenden helfen wollen und mich dafür bezahlen lassen.

Was die Interessen der Gesellschaft betrifft, ginge es beim Mutualismus vor allem darum, ihn so mit dem Altruismus zu verbinden, daß der individuelle Interessenausgleich reguliert und gesteuert werden kann: es ginge also um Kontrolle. Hier bestünde der ‚Altruismus‘ vor allem darin, daß sich die Individuen Normen auch dort unterwerfen, wo sie der unmittelbaren Verwirklichung ihrer eigenen Interessen im Wege stehen. Tomasello spricht in diesem Zusammenhang von „Regeln als supraindividuelle(n) Einheiten“. (Vgl. Tomasello 2010, S.42) Das Wort „supraindividuell“ verweist auf die Konstitution eines die Individuen übergreifenden, selbst aber wiederum individuellen „Wir-Gefühls“ einer Gruppe.

Wenn sich Individuen für diese Regeln auch dort einsetzen, wo sie ihren eigenen Interessen aktuell entgegenstehen, handeln sie altruistisch, im Dienste eines von sozialen Institutionen gesteuerten, gruppeninternen Mutualismus. Auch dazu sind schon Kleinkinder – im Unterschied zu Menschenaffen – in der Lage: „Daß schon Kleinkinder Normen durchsetzen, scheint in diesem Licht noch viel mysteriöser. Was wir hierfür brauchen, ist die Anerkennung einer schon bei Kleinkindern vorhandenen geteilten Intentionalität, durch die sie Teil einer größeren ‚Wir‘-Intentionalität werden. Ohne diese zusätzliche ‚Wir‘-Identität und Rationalität läßt sich nicht erklären, warum Kinder die aktive Durchsetzung sozialer Normen als Unbeteiligte auf sich nehmen – insbesondere solcher Normen, die nicht auf Kooperation basieren, sondern willkürlich erlassen werden.()“ (Tomasello 2010, S.43)

Im Rahmen dieser Gruppenidentität schließen sich also Mutualismus und Altruismus nicht nur nicht gegenseitig aus, sondern sie gehören untrennbar zusammen. Der Altruismus ist auf die Einhaltung des Mutualismus in der Gruppe gerichtet, und der Mutualismus besteht in der Befriedigung der sozialen Bedürfnisse der Gruppenmitglieder. Mit anderen Worten: Menschen sind aus zwei grundverschiedenen Motiven altruistisch; aus individuellen, also aus Mitleid, und aus sozialen, also aufgrund von Gruppensolidarität.

Es macht also wenig Sinn, zwischen Mutualismus und Altruismus in dem Sinne zu unterscheiden, daß das eine ein universelles Phänomen ist und das andere nicht. Beides sind gleichzeitig universelle und individuelle Phänomene und zeigen immer beide Seiten einer individuellen Interessen- und Bedürfnisorientierung, zu der eben auch der Altruismus als einer Form von Empathie gehört, und eines gesellschaftlichen Formations- und Steuerungsinteresses, zu dem die Erziehung und der öffentliche Raum (guter Ruf, Sanktionseinrichtungen etc.) gehören. Am Beispiel des „Überrechtfertigungseffektes“ (Tomasello 2010, S.23) wird sehr schön deutlich, wie sich bei intrinsischen und extrinsischen Motiven individuelle und gesellschaftliche Bedürfnisse ins Gehege kommen und wechselseitig behindern können.

Auch das zeigt noch einmal, daß die anthropologische Differenz nicht einfach an den sozialen Institutionen, bei denen die Schimpansen kognitiv nicht mehr mithalten können (vgl. Tomasello 2010, S.53), festgemacht werden sollte, sondern daß es vielmehr darum geht, das Spannungsverhältnis zwischen individuellen und gesellschaftlichen Bedürfnissen hervorzuheben.

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Donnerstag, 7. Juni 2012

Rekursivität und Roboter

(Michael Tomasello, Warum wir kooperieren, Berlin 2010 (2008))

1. Methode
2. Rekursivität und institutionelle Realitäten
3. Rekursivität und Roboter
4. Mutualität versus Altruismus?

Wenn de Waal sich weigert, seine Schimpansen als ‚Männchen‘ und ‚Weibchen‘ zu klassifizieren, und sie stattdessen lieber als Frauen und Männer anspricht (vgl. meinen Post vom 06.06.2010), so eröffnet er damit einen rekursiven Raum, der ein Ich und  (mindestens ein) Du umfaßt. Er distanziert sich von der Perspektive der dritten Person – ohne sich ihr völlig zu verweigern –, wie sie Tomasello mit der Beobachterperspektive ins Spiel bringt und die statt des Ich und Du ein Ich und Er umfaßt. Allerdings will auch Tomasello hier nicht auf den unbeteiligten Blick des Wissenschaftlers auf seine Versuchsobjekte hinaus, sondern auf das überpersönliche ‚Wir‘ der Gruppenidentität. Diese Gruppenidentität hat aber selbst wiederum eine exklusive Dimension, wenn sie das ‚Ihr‘ der anderen Gruppen ausschließt und zum Objekt der Ablehnung macht. De Waal verweigert sich einer vergleichbaren anthropologischen ‚Wir‘-Logik, die dem ‚Wir‘ der Menschen ein ‚Ihr‘ der Schimpansen gegenüberstellt. Wenn er auch als Wissenschaftler eine Beobachterperspektive einnehmen muß, zollt er doch der Empfindungsfähigkeit der Schimpansen Respekt, indem er ihnen die Ansprache eines ‚Du‘ zugesteht.

Das führt mich zu einer Modifikation meiner Graphiken zur Rekursivität. (Vgl. meinen Post vom 14.04.2012) Dort hatte ich für die kommunikative Absicht keine eigene rekursive Ebene vorgesehen, weil ich sie als Teil des Sinns von Sinn (F) gesehen hatte. Den rekursiven Raum des Sinns von Sinn hatte ich wiederum mit dem sozialen Raum und seinen Strukturen und Prozessen gleichgesetzt. Nun aber scheint es mir sinnvoll zu sein, hier noch einmal zwischen der kommunikativen Absicht und dem sozialen Raum zu differenzieren, in der neuen Graphik visualisiert als (F) und (G). In dieser Graphik haben wir ein echtes wechselseitiges Ich und Du (die beiden Brennpunkte der Ellipse), eingebettet in den sozialen Raum (Ellipse), vorliegen.

  Die kommunikative Absicht (F) beinhaltet nun die wesentliche, anthropologische Differenz als Humanität. Wen oder was auch immer ich als ‚Du‘ anspreche, ist in diesen rekursiven Raum mit eingeschlossen. Und erst von hier her wird der rekursive Raum sozialer Institutionen möglich. Für diesen inklusiven Aspekt der kommunikativen Absicht, als Ansprache, steht de Waals Weigerung, seine Schimpansen als ‚Männchen‘ und ‚Weibchen‘ zu klassifizieren. So würden wir z.B. auch niemals auf die Idee kommen, eine Maschine anzusprechen. Wenn wir etwa eine Roboterhaushaltshilfe auffordern, uns ein Glas Wasser zu bringen, wären uns ihre ‚Gefühle‘ herzlich egal. (Vgl. meinen Post vom 14.08.2011) Beim Einschalten eines Computers würden wir ja auch nicht davon ausgehen, daß wir hier einen sozialen Akt initiieren. Auch der Roboter funktioniert nur oder er funktioniert eben  nicht. Wenn er uns kein Glas Wasser bringt, weigert er sich nicht, sondern er ist nur defekt.

In der Graphik habe ich das damit zum Ausdruck gebracht, daß beim menschlichen Part in dieser Mensch-Maschine-Interaktion nur dessen Wahrnehmungen (ich sehe den Roboter), seine Bedürfnisse (ich habe Durst) und sein Wissen (dieser Roboter ist eine Haushaltshilfe) aktiv sind, während seine Erinnerungen, Gefühle und kommunikativen Absichten keine Rolle spielen. Statt den Roboter anzusprechen, erteilt er ihm nur einen ‚Befehl‘. Bei dem maschinellen Part der Mensch-Maschine-Interaktion spielt nur die Wahrnehmung in Form einer Sensorik – und natürlich auch die Motorik, denn der Roboter muß mir das Glas Wasser ja bringen – und das Wissen in Form der Programmierung eine Rolle.

Darin unterscheidet sich diese Mensch-Maschine-Interaktion auch von den virtuellen Welten, wie ich sie in der Graphik vom 19.05.2012 dargestellt habe. In die virtuellen Welten von Abenteuerspielen projiziere ich alle meine eigenen rekursiven Bewußtseinsebenen hinein, obwohl ich es nur mit einer Programmierung ohne eigene Sensorik und Motorik zu tun habe. Und obwohl ich es beim Roboter mit einer automatischen Sensorik und Motorik zu tun habe, würde ich hier doch nie auf die Idee kommen, etwas von mir in ihn hinein zu projizieren, – es sei denn ich wäre sein selbstverliebter Konstrukteur oder es handelte sich um einen Haustierersatz (Roboterhund) oder vielleicht um einen Pflegeroboter, die eigens für die Projektion von sozialen Bedürfnissen konstruiert worden sind. Diese Sonderfälle sind aber kein Grund, für die Mensch-Maschine-Interaktion einen eigenen rekursiven Raum zu eröffnen.

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Mittwoch, 6. Juni 2012

Michael Tomasello, Warum wir kooperieren, Berlin 2010 (2008)

(I: Warum wir kooperieren; 1. Zum Helfen geboren (und erzogen) (S.19-48); 2. Von sozialer Interaktion zu sozialen Institutionen (S.49-81; 3. wo sich Biologie und Kultur treffen (S.82) // II: Forum; Joan B. Silk (S.87-94); Carol S. Dweck (S.95-101); Brian Skyrms (S.102-107); Elizabeth S. Spelke (S.108-123))

1. Methode
2. Rekursivität und institutionelle Realitäten
3. Rekursivität und Roboter
4. Mutualität versus Altruismus?

Tomasellos Begriff der Rekursivität, wie er ihn in „Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation“ (2009) beschreibt (vgl. meine Posts vom 25. bis zum 27.04.2010), hängt eng mit der Griceschen kommunikativen Absicht zusammen (vgl. Tomasello 2009, S.100, 231 u.ö.). Die kommunikative Absicht trägt die Rekursivität des voneinander-Wissens, was man weiß und was nicht, indem sie ihr eine zusätzliche intentionale Schicht hinzufügt, die darin besteht, daß wir wollen, daß der jeweilige Gesprächspartner weiß, daß wir mit ihm kommunizieren wollen. Grice hatte ursprünglich angenommen, daß die rekursiven Ebenen des wechselseitigen Wissens voneinander logisch potentiell unendlich sind, wie Skyrms in seinem Kommentar festhält (vgl. Tomasello 2010, S.103), und Skyrms ergänzt später, daß die Menschen dennoch „vielen Studien zufolge nur sehr wenige Stufen dieser Leiter erklimmen zu können (scheinen)“ (vgl. Tomasello 2010, S.105).

Skyrms hält es deshalb für nötig, die rekursive Progression mit Hilfe einer spezifischen Ebene des Wissens zu stoppen und so das rekursive System des Voneinander-Wissens zu stabilisieren: „Ich glaube, Tomasello und ich sind uns darüber einig, daß es übertrieben wäre, von einem gemeinsamen Wissen der Menschen zu sprechen. Statt dessen beruft er sich auf den gemeinsamen Hintergrund (common ground), was eine viel bescheidenere Voraussetzung ist. Der common ground wird mit gemeinsamen Überzeugungen erklärt. Diese Überzeugungen müssen erstens nicht wahr sein. Noch wichtiger ist aber meiner Meinung nach, daß der common ground – soviel ich weiß – in der Hierarchie der gemeinsamen Überzeugungen nur eine Stufe weit nach oben geht. Dazu sind Menschen zweifelsfrei in der Lage.“ (Tomasello 2010, S.105)

Der common ground bzw. das Hintergrundwissen erinnert an die Lebenswelt, denn wir müssen dieses Wissen nicht ständig präsent haben. Auch wenn es unserem Bewußtsein entzogen wäre, könnte es unsere Kommunikation mit anderen Menschen ermöglichen und tragen. Aber das Hintergrundwissen selbst ist nicht vorm unendlich rekursiven Progreß gefeit. Wenn wir davon ausgehen, daß es ein sedimentierterTeil des Unterbewußten ist (vgl. meinen Post vom 20.04.2012), könnte es in Form eines rekursiven Regresses statt eines tragenden Fundamentes auch einen Abgrund bilden, in den hinein wir abstürzen und so den Kontakt zur Außenwelt und zum anderen Menschen verlieren. Auch Tomasello weist auf dieses Problem hin: „Man kann eine Menschenmenge am besten hinter sich bringen, indem man einen Feind identifiziert und behauptet, daß ‚die anderen‘ ‚uns‘ bedrohen. Die bemerkenswerte Kooperationsfähigkeit der Menschen scheint sich demzufolge hauptsächlich für Aktivitäten innerhalb der eigenen Gruppe entwickelt zu haben. Ironischerweise ist es ebendieses Gruppendenken, das heutzutage oftmals zu Unfrieden und Leid auf der Welt führt.“ (Tomasello 2010, S.81)

Den eigentlichen stabilisierenden Faktor sehe ich deshalb in der kommunikativen Absicht selbst. Denn wenn ich mit anderen Menschen kommunizieren will und auch will, daß die anderen Menschen wissen, daß ich das will, so verfolge ich dabei ein Ziel, das ich zum gemeinsamen Ziel machen möchte. Es wäre dieser Zielstrebigkeit sehr abträglich, wenn wir uns dem rekursiven Progreß ins Unendliche hingeben würden, – abgesehen davon, daß wir dabei auch an die Grenzen unseres logischen Fassungsvermögens kämen. (Vgl. meinen Post vom 25.07.2011) Wir verlören dabei das Motiv aus den Augen, das unserer Kontaktaufnahme mit den anderen Menschen ursprünglich zugrunde gelegen hatte. Es ist also die kommunikative Absicht selbst, die dafür sorgt, daß die logische Unendlichkeit des rekursiven Progresses psychisch begrenzt bleibt und in der Verwirklichung gemeinsamer Ziele ihr Ende findet.

Die Gricesche kommunikative Absicht begründet ein direkt auf einen Gesprächspartner gerichtetes System rekursiver Bezüge auf Motive und gemeinsames Wissen. Das auch von Tomasello in seinem Buch zu den Ursprüngen der menschlichen Kommunikation angesprochene Hintergrundwissen hat sich hier noch nicht zu einer eigenständigen Größe verselbständigt, sondern bleibt auch in seiner lebensweltlichen Dimension direkt mit den beteiligten Akteuren verbunden, die sich in wechselnden Perspektiven als Ich und Du vorstellen und ansprechen. In „Warum wir kooperieren“ bringt Tomasello nun eine dritte Perspektive ein, die er als „akteur-neutral“ bezeichnet (vgl. Tomasello 2010, S.44, 60, 74, 76, 79). Bei dieser akteur-neutralen dritten Perspektive handelt es sich um einen Beobachter, der nicht am Gespräch teilnimmt, von dem aber die Gesprächspartner wissen, daß sie von ihm beobachtet werden, was also einen neuen rekursiven Raum eröffnet. Diesen Raum bezeichnet Tomasello als „soziale Realität“ (Tomasello 2010, S.43f.) oder auch als „institutionelle Realität“ (Tomasello 2010, S.53).

Diese institutionellen Realitäten „füllen“, wie Tomasello schreibt, „den öffentlichen Raum“: „... und die meisten davon würden von Schimpansen vermutlich gar nicht wahrgenommen. Was all diese institutionellen Phänomene eint, ist das einzigartige ‚Wir‘-Gefühl der Menschen, der Sinn für geteilte Intentionalität. Und dieser Sinn stammt nicht nur aus der kollektiven, institutionellen Welt der Supermärkte oder Verbraucherschutzministerien, sondern tritt auch – vielleicht sogar noch deutlicher – in einfacheren sozialen Interaktionen zutage.“ (Tomasello 2010, S.53)

An dem Wir-Gefühl, dem rekursiven Raum sozialer Institutionen, macht Tomasello die anthropologische Differenz zwischen Menschen und Menschenaffen fest: „Verschiedene Daten belegen, daß ein Schimpanse es realisiert, wenn ein Artgenosse einen anderen Affen sieht;() es gibt jedoch keinen Beweis dafür, daß dem beobachteten Schimpansen bewußt ist, daß ein Artgenosse wahrnimmt, daß er diesen anderen Affen mit seinen Blicken erfaßt hat. Es gibt also keinen Beleg, daß Menschenaffen auch nur zur ersten Stufe des rekursiven ‚Mind Reading‘ (wenn diese Bezeichnung gestattet ist) fähig sind, was jedoch die Grundlage für alle Formen eines gemeinsamen konzeptuellen Hintergrunds darstellt.“ (Tomasello 2010, S.63)

Gegenüber seinem Buch zur kulturellen Entwicklung des menschlichen Denkens (1999) und auch gegenüber seinem Buch über die Ursprünge der menschlichen Kommunikation (2009) beinhaltet das eine neue Akzentsetzung, die die mit der kommunikativen Absicht verbundenen Stufen des „du weißt, daß ich weiß, daß du weißt ...“ unter Beteiligten in die anthropologische Differenz nicht mehr mit einbezieht. Nunmehr soll die spezifisch menschliche Rekursivität nur noch in der Bezugnahme auf den unbeteiligten Anderen, also im Bezug auf die sozialen Institutionen bestehen. Nun heißt es: „Der unbeteiligte Andere dort weiß, daß ich über diesen beteiligten Anderen hier weiß, daß ...“ usw.

Die kommunikative Absicht als Bestandteil der Rekursivität beinhaltet aber nicht in erster Linie, daß der unbeteiligte Andere über meine Absichten informiert ist, sondern der beteiligte Andere! Um Kommunikation gelingen zu lassen, bedarf es nicht in erster Linie der Kontrolle durch den unbeteiligten Anderen, sondern des Vertrauens in die Kooperationswilligkeit des beteiligten Anderen, weshalb Tomasello ja auch in seinem Buch über die Ursprünge der menschlichen Kommunikation sogar die Möglichkeit der Lüge in diesem Vertrauen wurzeln läßt. (Vgl. Tomasello 2009, S.205) Erst wenn dieses Vertrauen enttäuscht wird, berufen wir uns auf soziale Institutionen, die also erst in zweiter Linie relevant sind. Das Vertrauen kommt zuerst.

Tomasello macht in „Warum wir kooperieren“ das Wir-Gefühl, die Gruppenidentität, als wesentliche anthropologische Differenz so stark, daß er die individuelle Komponente individueller Bedürfnisse und Interessen aus dem Auge verliert; zwar nicht vollständig, aber doch so, daß er sie in ihrer Funktion für die anthropologische Differenz bzw. für die Humanität des Menschen marginalisiert. Das wird ihm auch im Forum von mehreren Kommentatoren vorgeworfen. Joan B. Silk weist darauf hin, daß gemeinsame Interessen eher selten sind, so daß in „kooperativen Beziehungen ... die Herausforderung darin (besteht), mit den ungleichen Interessen der Teilnehmer zurechtzukommen.“ (Vgl. Tomasello 2010, S.91) Und Brian Skyrms schreibt: „Ein reines gemeinsames Interesse von Sender und Empfänger ist von Vorteil für die Kommunikation, aber wenn es eine Voraussetzung wäre, gäbe es deutlich weniger Kommunikation auf der Welt. Wenn wir über gemeinsames Interesse hinausgehen, finden wir Fälle, in denen unterschiedliche Ziele zu partiellem Informationstransfer führen – bis hin zu kompletter Täuschung.“ (Tomasello 2010, S.105)

Allerdings argumentiert Skyrms völlig an Tomasellos Anliegen vorbei. Während es Tomasello darum geht, im Vergleich zwischen Schimpansen und Kleinkindern das Spezifische am menschlichen Bewußtsein herauszuarbeiten, verallgemeinert Skyrm den Begriff der Kommunikation in Richtung auf eine biologische Informationstheorie und bezieht sich auf Glühwürmchen (vgl. Tomasello 2010, S.105f.), Erdmännchen, Nacktmulle und soziale Insekten (vgl. Tomasello 2010, S.107). Wenn er deshalb glaubt, Tomasello dahingehend kritisieren zu müssen, daß das „rekursive Erkennen geistiger Zustände“ dort nirgendwo vorkommt und deshalb „nur in ganz besonderen Fällen relevant“ ist (vgl. Tomasello 2010, S.107), geht diese Kritik irgendwie ins Leere.

Dennoch bleibt das Problem der Marginalisierung der individuellen Bedürfnisse der Kommunikationspartner, die sich nicht einfach zu einem gemeinsamen Interesse verallgemeinern lassen. In seinem Buch über die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens (1999) hatte Tomasello noch eine besondere Entwicklungsphase des Kindes daran festgemacht, daß es nach den Stadien des individuellen (biologischen) Lernens und des kulturellen Lernens ab dem fünften Lebensjahr in der Lage ist, zwischen beiden Formen des Lernens zu wechseln. Tomasello spricht in diesem Zusammenhang von „kreativen Sprüngen“. (Vgl. meinen Post vom 24.05.2011) Es gibt also ein spannungsreiches Verhältnis zwischen individueller und kollektiver ‚Intelligenz‘, also letztlich zwischen individuellen und sozialen Bedürfnissen, die die Individuen in ein für sie lebbares Verhältnis überführen müssen. Ist es da nicht viel plausibler, die anthropologische Differenz an dieser kreativen Spannung festzumachen, statt sie einseitig nur auf die Gruppenintelligenz zu beziehen?

So wie Tomasello in „Warum wir kooperieren“ das Wir-Gefühl thematisiert, erinnert das sehr an John Lockes Gentlemanerziehung. (Vgl. meine Posts vom 15.03.2012 bis zum 17.03.2012) Tomasello spricht sogar vom „öffentlichen Ruf“ (Tomasello 2010, S.46)  und vom Wunsch der Kinder, sich an „Regeln als supraindividuelle Einheiten“ (Tomasello 2010, S.42) anzupassen: „Diese Studien zeigen, daß schon die frühesten kindlichen Normen – welche sich im Alter von rund drei Jahren zum ersten Mal beobachten lassen – echte soziale Normen sind (auch wenn sie sich später noch weiterentwickeln) und daß sie nicht nur auf Autorität und Gegenseitigkeit basieren.“ (Tomasello 2010, S.42)

Bis hin zur erzieherischen Bedeutung von „Schuld- und Schamgefühlen“ gleichen Tomasellos Darstellungen John Lockes Vorstellung von der Vernunftsfähigkeit von Kindern, sobald sie sprechen können. Bei John Locke ergibt sich daraus eine schwarze Pädagogik, die vor Demütigungen und Bestrafungen nicht zurückschreckt. Und auch Tomasello käme nun aufgrund seiner Darstellungen in „Warum wir kooperieren“ Schwierigkeiten damit, zu begründen, wie sich denn der eigene, individuelle Verstand von Kindern entwickeln soll, wenn die „erste Stufe“ der Rekursivität nicht mehr im Wechselbezug der individuellen Bedürfnisse von sozialen Partnern besteht, sondern im Wechselbezug der sozialen Realität: also letztlich im Lockeschen guten Ruf.

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Michael Tomasello, Warum wir kooperieren, Berlin 2010 (2008)

(I: Warum wir kooperieren; 1. Zum Helfen geboren (und erzogen) (S.19-48); 2. Von sozialer Interaktion zu sozialen Institutionen (S.49-81; 3. wo sich Biologie und Kultur treffen (S.82) // II: Forum; Joan B. Silk (S.87-94); Carol S. Dweck (S.95-101); Brian Skyrms (S.102-107); Elizabeth S. Spelke (S.108-123))

1. Methode
2. Rekursivität und institutionelle Realitäten
3. Rekursivität und Roboter
4. Mutualität versus Altruismus?

Tomasellos Buch „Warum wir kooperieren“, das im Mittelpunkt dieser vier Posts steht, ist aus einer Vorlesung an der Stanford University (Kalifornien) hervorgegangen. In einem Forum sind dem überarbeiteten Vorlesungstext vier Kommentare von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus den Bereichen der Psychologie, Philosophie und der Anthropologie beigefügt. Insgesamt bietet Tomasellos Vorlesung einen guten Überblick über Tomasellos Arbeit, der allerdings aufgrund der geringen Seitenzahl (ca. achtzig Seiten) sehr an der Überfläche bleibt und die Akzente mehr auf die „kulturelle Intelligenz“ (S.13) und die soziale Realität legt als auf die individuelle Intelligenz. Verbunden mit der These, daß in den sozialen Fähigkeiten und Motivationen die eigentliche Differenz zwischen Mensch und Tier (Menschenaffen, insbesondere Schimpansen) liegt, wird hier im Unterschied zu Tomasellos Buch „Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens“ (1999) das spannungsvolle Verhältnis zwischen individueller und kultureller bzw. sozialer Intelligenz nivelliert. (Vgl. den zweiten meiner beiden Posts vom 24.05.2011)

Gerade mit Blick auf Frans de Waals „Das Prinzip Empathie“ (2009/2011) fällt an Tomasellos etwa zeitgleich erschienenem „Warum wir kooperieren“ (2008/2010) noch einmal der Unterschied in der Methode auf. (Vgl. meinen Post vom 15.05.2011) Frans de Waal betreibt vor allem Feldstudien, die sich nicht so gut kontrollieren lassen wie Laborstudien, weil er glaubt, daß die Schimpansen sich unter Artgenossen unbefangener und deshalb auch ‚intelligenter‘ und ‚kommunikativer‘ verhalten als unter Menschen. Im ‚Feld‘ zustandegekommene Beobachtungen sind auch oft singulär und lassen sich nicht wiederholen. Hinzu kommt de Waals eifriges Sammeln von Anekdoten, die oft auf ‚Hörensagen‘ beruhen; d.h. daß Anekdoten, wenn überhaupt, oft erst über mehrere Ecken auf einen ‚Zeugen‘ zurückgeführt werden können.

Ganz anders Tomasello und Kollegen: gerade an den in diesem schmalen Buch versammelten Texten fällt auf, wie sehr alle Autoren darum bemüht sind, auf die Wissenschaftlichkeit ihrer eigenen Studien oder der Studien ihrer Fachkollegen zu verweisen. Jede einzelne Geste, jedes Verhaltensmoment eines Kleinkindes oder Schimpansen wird auf seine Zufälligkeit und auf seine Gesetzmäßigkeit hin peinlich genau geprüft. Introspektionen in die eigenen subjektiven Befindlichkeiten kommen so gut wie gar nicht vor. Immer geht es nur um empirisch beobachtbares und belegtes Verhalten, über dessen innere Motive niemals leichtfertig gemutmaßt wird, so naheliegend diese Mutmaßungen auch zu sein scheinen.

Dieses Vorgehen hat durchaus seine guten Gründe, was vor allem bei Tomasello deutlich wird. Tomasello ist wirklich ein Meister darin, scheinbar naheliegende Interpretationen des Verhaltens von Schimpansen in Frage zu stellen. So beschreiben z.B. de Waal wie auch Tomasello das Verhalten von Schimpansen beim Verteilen von Futter. Wenn ein Schimpanse z.B. Weintrauben erhält, ein anderer aber nur Gurkenscheiben, wirft dieser seine Gurkenscheiben weg, weil er es als ‚unfair‘ empfindet, daß er nicht auch die viel leckereren Weintrauben bekommt. Tomasello hinterfragt nun diese soziale Auslegung des Schimpansenverhaltens. (Vgl. Tomasello 2010, S.38) In einem Kontrollversuch, in dem ein Schimpanse allein ist und eine Gurkenscheibe angeboten bekommt, nimmt er diese zunächst an. Sobald ihm aber eine Weintraube gezeigt wird, legt er die Gurkenscheibe sofort zur Seite und will die Weintraube haben. Er lehnt also die Gurkenscheibe nicht ab, weil er auf einen anderen Schimpansen eifersüchtig ist, sondern weil er einfach nur die leckere Weintraube will. Es liegt demnach Tomasello zufolge kein sozialer Vergleich und damit auch kein Gerechtigkeitsempfinden vor, wie es de Waal nahelegt.

Dieses Infragestellen von scheinbar plausiblen Annahmen hinsichtlich der Motive von Schimpansen und die damit verbundenen Kontrollversuche sind also durchaus eine Stärke von Laborstudien, und gerade Tomasello geht dabei bewundernswert subtil vor. Dennoch kann de Waal auf Beobachtungen verweisen, die sich nicht so leicht entkräften lassen. Eine Bonobofrau – de Waal spricht nie von ‚Männchen‘ oder ‚Weibchen‘, sondern immer von Männern und Frauen –, die Weintrauben bekam, während die anderen Bonobos nur Gurkenscheiben erhielten, weigerte sich, ihre Weintrauben anzunehmen; möglicherweise aus der berechtigten Sorge, die anderen Bonobos könnten ihr die bevorzugte Nahrungszuweisung übelnehmen und es ihr hinterher heimzahlen. (Vgl. de Waal 2011, S.246) Die Motive der Schimpansen im sozialen Verband sind also wohl doch auch bei Schimpansen anders gelagert als die ihrem unbeobachteten individuellen Verhalten zugrundeliegenden Motive, so daß Tomasellos Darstellung ihrer auf Weintrauben gerichteten Motive als auch in sozialen Zusammenhängen ausschließlich individuell bestimmt zu kurz greift.

Ungeachtet dessen, wer bei der Beurteilung des Gerechtigkeitsempfindens von Schimpansen Recht behält, fällt hier auf, daß de Waal seine Schimpansen viel mehr versteht als Tomasello und seine Kollegen. Er versteht sie auf der Basis der Empathie: das Verhalten der Schimpansen entspricht seinen Gefühlen, wenn er selbst solches Verhalten an den Tag legen würde. Die Schimpansen sind für de Waal kein Rätsel, weil er sich selbst kein Rätsel ist. Tomasello und Kollegen hingegen verbieten sich diese Empathie. Sie partizipieren an einer wissenschaftlichen Tradition, die Meyer-Drawe zufolge dazu geführt hat, daß wir uns in unseren ureigensten Gewißheiten zweifelhaft geworden sind. (Vgl. meinen Post vom 19.05.2012) Wir verstehen unser eigenes Denken nicht mehr. Wie sollten wir da das ‚Denken‘ der Schimpansen verstehen? Wir müssen es allererst in seine kleinsten Bestandteile zerlegen, bevor wir es uns erlauben dürfen, Schlüsse über ihr ‚Bewußtsein‘ zu ziehen.

Ein Beispiel für diese Haltung liefert Elizabeth S. Spelke, eine der Kommentatorinnen im Forum des Buches (vgl. Tomasello 2010, S.108-123): „Um kognitive Prozesse verstehen zu können, müssen wir sie in ihre Bestandteile zerlegen; hochkomplexe Fähigkeiten in Einheiten unterteilen, deren Eigenschaften und Zusammenspiel beschrieben und kontrolliert beeinflußt werden können.“ (Tomasello 2010, S.110) – Mit Hilfe dieses analytischen Verfahrens kommt Spelke zu insgesamt fünf „kognitiven Systemen“, die zusammen das „Kernwissen“ des Menschen ergeben: „Dazu gehören Systeme zur Abbildung und zum Verständnis von (1) unbelebten, materiellen Objekten und ihren Bewegungen, (2) intentionalen Akteuren und ihren zielgerichteten Handlungen, (3) Orten im navigierbaren Raum und ihre geometrischen Beziehungen zueinander, (4) Serien von Objekten oder Ereignissen und ihre numerischen Beziehungen bei Reihungs- und Rechenvorgängen und (5) sozialen Partnern, die mit dem Kleinkind interagieren. Jedes dieser kognitiven Systeme taucht in der frühen Kindheit auf (in einigen Fällen schon mit der Geburt) und bleibt mit dem Heranwachsen des Kindes fast unverändert bestehen.“ (Tomasello 2010, S.113)

Spelke unterläßt es bei dieser Aufzählung, darauf hinzuweisen, daß drei dieser zum Kernwissen gehörenden kognitiven Kernkompetenzen Momente der Gestaltwahrnehmung sind (1, 3 und 4) und die beiden anderen Kernkompetenzen von Tomasello als geteilte Intentionalität (2) und Rekursivität (5) beschrieben werden. Nach dieser säuberlichen Zerlegung des Kernwissens in kognitive Kompetenzen hat Spelke nun ein Problem: wie lassen sie sich wieder zu einem einheitlichen Bewußtsein zusammenfügen? (Vgl. Tomasello 2010, S.116f.) – Bei Menschenaffen und Kleinkindern fungieren sie getrennt voneinander. Erst ab ihrem zweiten Lebensjahr können Kinder ihre Kernkompetenzen produktiv in einem Kernwissen integrieren.

Nebenbei: das beinhaltet eine interessante Beobachtung, die wir schon von Plessner kennen. (Vgl. meinen Post vom 21.10.2010) Schimpansen können Objekte nicht so wie Menschen als individuelle Gestalten von ihrem Hintergrund abheben. Nur frei im Raum stehende Kisten können sie in ihrer Wahrnehmung als einzelne, freibewegliche Dinge isolieren. Sobald sie lückenlos an einer Wand stehen, verschmelzen sie mit dieser Wand und werden nicht mehr als individuelles Ding wahrgenommen. (Interessant ist dabei übrigens auch, daß die Kisten in der Wahrnehmung zwar mit der Wand verschmelzen, aber nicht mit dem Fußboden.) Plessner spricht deshalb bei Schimpansen von einer „komplexqualitativen“ Wahrnehmung. Ganz ähnlich verweist Spelke auf die Unfähigkeit von Kleinkindern, Gegenstände noch einmal in verschiedene Einzelgegenstände zu zerlegen, also z.B. Türgriffe von Türen zu unterscheiden, oder die Bauklötzchen zu erkennen, aus denen Bauklötzchentürme zusammengesetzt sind: „Kleinkinder jedoch repräsentieren nur diejenigen Einheiten, die innerlich kohäsiv und einzeln beweglich sind: Tassen ja – aber keine Türgriffe, Sandhügel oder Türme aus Bauklötzchen.“ (Tomasello 2010, S.114)

Das ist ein weiterer Beleg dafür, daß wir es hier mit Gestaltwahrnehmung zu tun haben, und zwar in der von Plessner beschriebenen komplexqualitativen Form. Spelke kommt nun nach ihrer Analyse des Kernwissens zu dem Ergebnis, daß es der Sprache und ihrer Fähigkeit zur Kategorienbildung bedarf, um die bei Kleinkindern noch getrennten Kernkompetenzen, z.B. das Erkennen von Objekten (1, 3 und 4) und Handlungen (2 und 5), zusammenzufügen: „Sprache – ein Kombinationswerkzeug par excellence – dient dazu, Repräsentationen von Objekten und Handlungen schnell, flexibel und produktiv zu kombinieren, was es uns ermöglicht, Wissen über Werkzeuge zu erwerben und sie zu gebrauchen.“ (Tomasello 2010, S.117)

Mit dieser Schlußfolgerung geht Spelke nun sogar so weit, Tomasellos phylogenetische und ontogenetische Analyse der Ursprünge der Sprachentwicklung als einer Entwicklungslinie von der geteilten Intentionalität zur Sprache umzukehren: „Es ist ... nicht ausgeschlossen, daß der Pfeil in die andere Richtung zeigt. Die einzigartigen Formen der geteilten Intentionalität der Menschen könnten von unseren speziellen Fähigkeiten zur produktiven Kombination von Kernrepräsentationen abhängig sein. ... Nur Sprache hat rein menschliche Kernfundamente und dient dazu, Konzepte innerhalb und über alle Wissensgebiete hinweg zu repräsentieren und auszudrücken. Die einzigartige Fähigkeit der Menschen, unterschiedliche Kernrepräsentationen schnell, produktiv und flexibel zu verbinden, könnte daher in unserer angeborenen Sprachfähigkeit begründet sein.“ (Tomasello 2010, S.118f.)

Dabei übersieht Spelke aber, daß sie sich ein neues Problem einhandelt. Wenn nämlich erst die Sprache geteilte Intentionalität ermöglicht, stellt sich sofort wieder die Frage, wo denn diese Sprache herkommt? Geteilte Intentionalität läßt sich phylogenetisch ohne weiteres auf die auch bei Menschenaffen beobachtbare Mutualität, also auf die auf Gegenseitigkeit beruhende Kooperation zurückführen. Von ihr aus kommen wir ohne weitere Probleme zur Sprache. Wenn aber geteilte Intentionalität auf Sprache beruht, worauf soll dann die Sprache selbst phylogenetisch zurückgeführt werden? Wir hätten es, mit de Waal gesprochen, mit einer „enormen Anomalie“ zu tun: „Sogar der Hals der Giraffe ist immer noch ein Hals. Die Natur kennt nur Variationen über Themen. Das gilt auch für die Kooperation.“  (de Waal 2011, S.237) – Und das gilt nicht nur für die Kooperation, sondern eben auch für die Sprache.

Spelke behilft sich mit der Formulierung „angeborene Sprachfähigkeit“, die aber eben die Vorstellung von spezifischen, evolutionär entstandenen Genen beinhaltet. Auch wenn man inzwischen der Meinung ist, so ein Sprachgen gefunden zu haben – das, wenn man es Mäusen einpflanzt, dazu führt, daß sie anders pfeifen –, so gilt auch für dieses, was Tomasello generell über das Verhältnis von Biologie und Kultur festhält: „Die normale menschliche Ontogenese umfaßt ... zwingend eine kulturelle Dimension, die in der Entwicklung anderer Primaten nicht vorkommt. ... Die Menschen sind biologisch daran angepaßt, in einem kulturellen Kontext heranzuwachsen.“ (Tomasello 2010, S.84) – Von einer „angeborenen Sprachfähigkeit“ zu sprechen, ist dann ungefähr so sinnvoll wie von einer angeborenen kulturellen Disposition zu sprechen.

Dabei besteht überhaupt kein Gegensatz zwischen Tomasellos geteilter Intentionalität und Spelkes „Sprachfähigkeit“, wenn man nicht darauf besteht, Sprachfähigkeit mit menschlicher Sprache gleichzusetzen. Denn die geteilte Intentionalität ist der Kern jeder allgemeinen (menschlichen) Sprachlichkeit, aus der sich schließlich eine konkrete Sprache ergeben kann. Kurz: ‚geteilte Intentionalität‘ ist bedeutungsgleich mit ‚Sprachfähigkeit‘! Das Attribut ‚angeboren‘ wäre dann als phylogenetischer Verbund von Biologie, Kultur und Ontogenese zu verstehen, und nicht als genetische Determination. Diese ganze begriffliche Problematik, was war eher, das Ei oder das Huhn?, ergibt sich letztlich nur aus Spelkes analytischem Vorgehen und dem anschließenden Versuch, die zerlegten Bestandteile des Kernbewußtseins wieder zusammenfügen zu müssen. Aus phylogenetischer und ontogenetischer Sicht ist die Chronologie der menschlichen Sprachentwicklung einfacher aus der geteilten Intentionalität heraus zu verstehen als von irgendwie genetisch isolierbaren, von der geteilten Intentionalität unabhängigen  Anlagen der Sprachentwicklung her.

Der wissenschaftliche Glaube an kontrollierten, analytischen Studien, die oft ohne weitere Präzisierung pauschal als einzigartig oder wunderbar bezeichnet werden und auf deren „neueste Ergebnisse“ man sich immer wieder gerne bezieht, um die eigene Argumentation abzustützen, erinnert mich an die Scholastik des Mittelalters, wo man sich gerne auf „Aristoteles“ berief und damit jede weitergehende Begründung für die eigene Position für überflüssig hielt. Als Leser solcher auf Studien sich berufenden wissenschaftlichen Abhandlungen bleibt man von detaillierteren Informationen hinsichtlich der Methodik und der Resultate ‚verschont‘. Oft werden solche Studien – mangels Zeit und Geld – dann auch von keinem anderen Wissenschaftler mehr nachgeprüft, so daß mögliche Fehler oder gar Täuschungsabsichten der Experimentatoren unentdeckt bleiben.

Natürlich beziehe auch ich mich immer wieder auf Plessner – und übrigens auch gerne auf Tomasello –, um meine eigenen Argumentationen zu stützen. Letztlich liefern solche Autoren und natürlich auch wissenschaftliche Studien komplexe Argumentationszusammenhänge, die man wiederum aus zeitlichen Gründen nicht einfach immer wieder wiederholen kann. Verweise auf diese Autoren – und Studien – müssen deshalb für die Argumentation selbst stehen und insofern genügen. Dennoch erlaube ich mir eine Unabhängigkeit des Denkens, wenn ich z.B. Plessners Gesellschaftsheroismus kritisiere. (Vgl. meinen Post vom 17.11.2010) Aber leider beinhaltet der Verweis auf Forschungsprogramme und wissenschaftliche Studien – wie in der Scholastik der Verweis auf Aristoteles und noch früher der Verweis auf die Bibel –, immer auch ein Denkverbot: was einmal ‚bewiesen‘ wurde, braucht nicht mehr hinterfragt zu werden.

So funktioniert z.B. auch Carol S. Dwecks summarischer Verweis auf „mehr und mehr Beweise dafür, daß die grundlegenden Aspekte des Wort- und Syntaxerwerbs aus statistischen Mustern der sprachlichen Äußerungen abgeleitet werden, die das Kind hört.()“ (S.96f.) – Im Anmerkungsapparat kann man dann nachlesen, in welcher Zeitschrift die Quelle für diese Behauptung zu finden ist. (Vgl. Tomasello 2010, S.134) Zu vermuten ist, daß dort genauso wenig wie bei Dweck selbst problematisiert wird, inwiefern Statistik als wissenschaftliche Methode zugleich als Prinzip eines Bewußtseinsprozesses fungieren kann, in dem es um Sinnverstehen und die Generierung von Bedeutungen geht. (Vgl. meinen Post vom 24.07.2011) Eine solche Rückfrage erübrigt sich natürlich auch angesichts der beeindruckenden Anhäufung von ‚Beweisen‘, die man in der besagten Quelle vorfinden kann.

Letztlich täuscht dieser Glaube an die „wunderbaren Forschungsprogramm(e)“, wie wiederum Dweck formuliert (vgl. Tomasello 2010, S.97), darüber hinweg, daß auch diese Studien nicht nackte Tatsachen liefern, sondern experimentell erstellte Daten, denen schon Interpretationsprozesse vorangegangen sind und die selbst auch wieder interpretiert werden müssen. Wir müssen sie also verstehen, um etwas mit ihnen anfangen zu können. Die wichtigste Voraussetzung für so einen Verstehensprozeß ist aber, daß man allererst darin geübt ist, sich selbst zu verstehen, also Empathie zu entwickeln, – und damit wären wir wieder bei de Waal angelangt. Letztlich kommt es also auch hier wieder auf eine wissenschaftlich ‚kontrollierte‘ Verhältnisbestimmung von Naivität und Reflexion an. So wissenschaftlich kann keine Studie sein, daß ihr nicht auch Naivitäten zugrundelägen.

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