„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 13. Mai 2012

Hans Joas, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Berlin 2011

1. Existentieller Historismus
2. Genesis und Geltung
3. Historische Individualität und Subjektivität
4. Lebenswelt und Gewalt
5. Lebenswelt und Praktiken
6. Unaufgehobene Potentiale

Im letzten Post hatte ich erwähnt, daß Joas die Wertebindung nicht an einzelnen, isolierbaren Stellungnahmen festmacht. Man denke z.B. an entsprechende Diskussionen in Platons Dialogen, wo Sokrates und seine Gesprächspartner vergeblich versuchen, Tugend über die Aufzählung von Einzeltugenden zu definieren, wobei sie sich in unauflösbare Widersprüche verwickeln. Joas beschreibt Werte deshalb als Sinntotalitäten (vgl. Joas 2011, S.165ff.) und als historische Individualitäten (vgl. Joas 2011, S.14, 164-169, 173).

Dieser Begriff der historischen Individualität vermittelt zwischen der individuellen Person und seiner ‚Sakralität‘ auf der einen Seite und Kollektiv-Individualitäten wie Völkern, Staaten, Klassen, Ständen, Kulturzeitaltern, Kulturtendenzen, Religionsgemeinschaften auf der anderen Seite. (Vgl. Joas 2011, S.165) Diese ‚Vermittlung‘ ist aber keine harmonische, sondern beinhaltet eine die Sakralität der Person bedrohende Konkurrenz, in der sich die Kollektiv-Individualitäten an deren Stelle zu setzen und sie so zu verdrängen drohen. So beinhaltete die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (1789) z.B. ein Konzept von Staatlichkeit, in der der Einzelwille des Bürgers im allgemeinen Willen des Volkes restlos aufging, so daß es erst der Erfahrung verschiedener Diktaturen bedurfte, bis die individuelle Menschenwürde mit einem Widerstandsrecht gegen staatliche Willkür verbunden wurde. (Vgl. Joas 2011, S.36.f.)

Gerade also weil ‚Werte‘ immer zugleich aus eine Vielzahl von miteinander verbundene Werte umfassenden Wertkomplexen bestehen, bilden historische Sinnzusammenhänge übergreifende Sinntotalitäten, die in Form der genannten Kollektiv-Individualitäten institutionalisiert werden. Dabei läßt Joas aber keinen Zweifel daran, daß Institutionen zwar ein gewisses Beharrungsvermögen aufzeigen, aber keineswegs unabhängig sind von subjektiver Evidenz: wenn die Menschen nicht mehr an die in den Institutionen verkörperten Werte glauben, können diese nicht überleben: „Wenn der ‚Geist‘ aus den Institutionen entwichen ist, ist auf sie kein Verlaß.“ (Joas 2011, S.204) – Das unterscheidet Joas’ Begriff der Institution von Luhmann, der den einmal institutionalisierten ‚Systemen‘ praktisch Unsterblichkeit bescheinigt, weil sie sich Luhmann zufolge selbst am Leben erhalten. Joas hält hingegen ausdrücklich fest, daß Institutionen historische Gegenstände sind, und „Gegenstände historischer Betrachtung (dürfen) nie als ruhend aufgefaßt werden“.  (Vgl. Joas 2011, S.173)

Der Lebensnerv historischer Gegenstände – und das bestimmt letztlich das Verhältnis zwischen subjektiven und kollektiven Individualitäten – besteht darin, daß sie, um als Sinntendenz – Joas spricht mit Ernst Troeltsch von „Faktum der Idealbildung“ (Joas 2011, S.162, 200) – aktualisiert zu werden, auf den Willen und den Glauben handelnder Personen angewiesen sind: „Wir sehen uns dann als bestimmte Vergangenheiten und bestimmte Entwicklungen aufnehmende und diese in die Zukunft fortführende Akteure.“ (Joas 2011, S.185) – Die individuellen Wertentscheidungen bilden also eine Art Brennglas, in dem bestimmte Entwicklungslinien gebündelt und auf die Folie der Zukunft gerichtet werden. Troeltsch spricht von einer „vom Subjekt her zu schaffende(n) gegenwärtige(n) Kultursynthese“. (Vgl. Joas 2011, S.187)

Ich war schon in meinen Posts vom 29.10.2010 zu Plessner und vom 30.03.2011 zu Welzer auf das Problem der Kontingenz in der Geschichtsschreibung zu sprechen gekommen. Von Plessner her hatte ich der Kontingenz der historischen Prozesse, von denen man nur in der Mehrzahl sprechen kann, das Sinnbedürfnis des Menschen gegenübergestellt, der versucht, in seinem Handeln vor sich selbst verständlich zu werden. So versieht er auch seine Geschichte mit Sinn und versucht zu verstehen, worauf das alles hinausläuft. Aber als exzentrische Positionalität muß sich der Mensch eben auch zu dieser faktischen, sinnwidrigen Kontingenz geschichtlicher Ereignisse in ein Verhältnis setzen. Jeder Sinn, den er zu finden glaubt, ist in sich gebrochen, ist mit Kontingenz kontaminiert, was aber eben nicht in einem sinnleeren Nihilismus mündet, sondern – mit Joas/Troeltsch – zu neuen Idealbildungen bzw. eben zu neuen Sinntendenzen führt.

Welzer wiederum versteht die Historie vor allem als eine Belastung, die uns blind macht für die nie da gewesenen Herausforderungen globaler Katastrophen. Deshalb lehnt er jede Geschichtsbetrachtung ab, weil er in ihr nur eine rückwärts gewandte Fixierung auf endgültig historisch gewordene Probleme sehen kann, die sich aufgrund des bevorstehenden Klimawandels längst von selbst erledigt haben.

Joas steht definitiv Plessner näher als Welzer. Auch Joas legt ein ausgeprägtes Kontingenzbewußtsein an den Tag. Historische Dokumente verringern nicht etwa die Kontingenz der kulturellen Entwicklung, sondern bewahren eine „Fremdheit“, eine „kulturelle und chronologische Distanz zur Gegenwart der Fragenden“, also zur Gegenwart der Historiker. (Vgl. Joas 2011, S.188) Das entspricht der in diesem Blog gleich im ersten Post (vom 21.04.2010) beschriebenen Fremdheit des Fundaments kultureller Entwicklungen, ihrer jeder Befragbarkeit sich entziehenden Vorgegebenheit.

Jeder Versuch, die Menschenrechte genealogisch auf eine halbwegs monolineare Entstehungsgeschichte zurückzuführen, muß deshalb scheitern. (Vgl. Joas 2011, S.190) Es sind seit dem 18. Jhdt. viel zu viele unterschiedliche und wechselnde politische, religiöse und wirtschaftliche Interessenskonstellationen beteiligt, die alle zum heutigen, nach wie vor unabgeschlossenen, für weitere Entwicklungen offenen Menschenrechtskatalog beigetragen haben. Deshalb spricht Joas zwar von historischer ‚Entwicklung‘, aber diese ‚Entwicklung‘ beinhaltet eine Vielzahl von „Entwicklungslinien“, „in denen jeweils eine Annäherung (oder Entfernung) von den jeweiligen Idealbildungen konstatiert werden könne. Solche Entwicklungslinien können zwar zu einem Ganzen sich bündeln; oft bleiben sie aber einfach parallel zueinander oder laufen sukzessive ab.“ (Joas 2011, S.174)

Diese ‚Entwicklungslinien‘ sind nur ein anderes Wort für die niemals ruhenden historischen Individualitäten, für die zukunftsoffene Sinn-von-Sinnbewegung. Es bedarf dann eben des kreativen Potentials handelnder Subjekte, die einzelne solcher Entwicklungslinien aufgreifen, als „gegenwärtige Kultursynthese“, aber eben auch mit dem Bewußtsein der „künftige(n) Historisierung unseres Denkens und Wertens“: „... dann tritt uns auch selbst schon die prinzipielle Kontingenz unserer eigenen Stellungnahmen und Geltungsansprüche vor Augen. Wer diesen Schritt verweigert, entzieht sich der vollen Wucht der Historisierung.“ (Joas 2011, S.182)

Eben deshalb bedarf es einer ‚Politik‘ der Nachhaltigkeit, die die Vergänglichkeit der eigenen Lebensform in ein Verhältnis setzt zu künftigen Generationen, die es sonst mit der Toxizität einer Erblast zu tun bekommen, die keinerlei Kontingenz mehr tolerieren wird.

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