„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 12. Mai 2012

Hans Joas, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Berlin 2011

1. Existentieller Historismus
2. Genesis und Geltung
3. Historische Individualität und Subjektivität
4. Lebenswelt und Gewalt
5. Lebenswelt und Praktiken
6. Unaufgehobene Potentiale

Wenn man sich, wie in diesem Blog, längere Zeit mit Neurobiologie und Informationstechnologien befaßt hat und auch in Betracht zieht, wie bestimmte phänomenologische Denkrichtungen zur Abschaffung von Verantwortung und Subjektivität tendieren, ist es doch erstaunlich, daß es immer noch politische Akteure gibt, die sich um eine weltweite Umsetzung der Menschenrechte kümmern. Und noch erfreulicher ist es, wenn man auf aktuelle Publikationen hochangesehener Autoren wie Hans Joas stößt, in denen nicht mit meist betont gleichgültigem Gestus das vorzeitige Ende des Menschen und seiner Geschichte ausgerufen wird, sondern tatsächlich noch das Projekt einer „neuen Genealogie der Menschenrechte“ gewagt wird, – und dies gerade auch mit dem Blick auf ihre stete Gefährdung. (Vgl. Joas 2011, S.19, 57-60, 101-107)

‚Vorzeitig‘ nenne ich solche Nachrufe auf den Menschen, weil der Totgesagte noch immer lebt und seine Verantwortung nicht geringer geworden ist seit Günther Anders’ Feststellung, daß es angesichts der möglichen atomaren Selbstauslöschung der Menschheit kein Wissen – und damit auch keine Wissenschaft! – ohne den Bezug auf diese Verantwortung mehr geben dürfe. (Vgl. meinen Post vom 27.01.2011)

Allerdings geht es dabei nicht einfach nur um das Überleben künftiger Generationen und dabei noch nicht einmal in erster Linie um deren von technischen Medien verstellte und durch drastische Umweltveränderungen bedrohte Menschlichkeit. Es geht vielmehr schon jetzt um den konkreten Menschen, der noch als mögliches Subjekt aktueller Maßnahmen in Frage käme, die es künftigen Generationen wenigstens erleichtern würde, ihre eigenen menschlichen oder allzumenschlichen Antworten auf die Lebens- und Überlebensbedingungen zu finden, mit denen sie konfrontiert sein werden. Wie aber steht es um die Moralität des jetzigen, gegenwärtigen ‚Menschen‘, – vor allem unter den Bedingungen der Globalisierung? Einige der Autoren, die in diesem Blog besprochen wurden, kommen zu sehr pessimistischen Schlußfolgerungen. Insbesondere Welzer verweist in „Klimakriege“ auf das statistische Problem: aufs große Ganze gesehen bringt es nichts, wenn Einzelne ihr Leben ändern, so daß es Welzer nun sogar für unverantwortlich hält, den gegenteiligen Eindruck zu erzeugen. (Vgl. meinen Post vom 01.04.2011 – Allerdings hat Welzer dennoch die Stiftung „Futurum II“ initiiert, in der es genau um solche ‚unverantwortlichen‘ individuellen Aktivitäten, Lebensqualität neu zu erfinden, geht.)

Letztlich haben wir es also mit einem Begründungsproblem zu tun: warum sollten wir uns in der Gegenwart um die Zukunft der Menschheit Gedanken machen, wenn jeder Versuch angesichts des globalisierten Immer-so-weiter von vornherein zum Scheitern verurteilt ist? Genau an dieser Stelle setzt Joas aber mit seinem Versuch einer neuen Genealogie der Menschenrechte an. Er wendet sich mit seinem Projekt einer „affirmativen Genealogie“ (vgl. Joas 2011, S.187-195) gegen den Versuch, ‚Werte‘ wie die Menschenrechte – und hierzu sollte im Sinne einer „Wertegeneralisierung“ (vgl. Joas 2011, S.251-281) demnächst auch das Recht nicht nur ungeborener Feten, sondern eben auch das Recht künftiger ungeborener Generationen auf Leben gehören, und zwar auf ein menschenwürdiges Leben – rein rational begründen zu wollen.

Gegen den Formalismus der Kommunikations- und Diskurstheorien und auch gegen den Formalismus der Kantischen Moralphilosophie wendet Joas ein, daß Werte anders geglaubt und anders verteidigt werden als Normen. Menschen haben eine emotionale Bindung zu ihren Werten, die sie vertreten, an die sie nicht etwa deshalb glauben, weil sie dem Mehrheitsstrom folgen (Welzer) oder weil man in widerspruchsfreier Argumentation zu einem Wertekonsens gefunden hat. Menschen glauben auch dann noch an ihre Werte, wenn sie längst von der wissenschaftlichen Forschung widerlegt worden sind: „Es ist schon oft bemerkt worden, daß die Widerlegung einer kognitiven Feststellung in einem religiösen Weltbild in den meisten Fällen die Bindung der Gläubigen an ihren Glauben nicht schwächt. ... Das liegt eben daran, daß ihre Bindung nicht aus einer diskursiven Überzeugung hervorging.“ (Joas 2011, S.258)

Das Prinzip der Wertefindung kann deshalb nicht in endloser Argumentation wie beim Konsens bestehen, sondern es beruht auf von Geschichten (vgl. Joas 2011, S.14) getragener Plausibilität: „Wir ‚haben‘ Werte nicht wie Meinungen; das eben drückt der Begriff ‚Wertbindung‘ aus. ... Das Ziel kann also nur Plausibilität heißen, nicht Konsens.“ (Joas 2011, S.256f.)

Wir sind nämlich in unserer Bindung an unsere Werte nicht frei. Wir können nicht über sie verfügen. Es handelt sich also um eine Gewissensbindung, die allerdings ihre Geschichte hat. Aufgrund unserer eigenen Erfahrungen und aufgrund der Erfahrungen unserer Mitmenschen und unserer Vorfahren sind wir in eine Wertebindung hineingewachsen. Diese Geschichte will nicht begründet, sondern sie will erzählt werden. Nur so wird eine Wertebindung nicht nur für mich gültig, sondern auch für andere, die meine Geschichte zwar nicht teilen, aber mir zuhören, plausibel: „‚Affirmativ‘ soll diese genealogische, das heißt kontingenzbewußte Vergangenheitsrekonstruktion nun aber heißen, weil der Rückgang auf die Prozesse der Idealbildung, die Entstehung von Werten, unsere Bindung an diese nicht negiert oder uns in einen Zustand souveräner Entscheidung über unsere Wertbindungen erhebt, sondern weil er uns gegenüber dem Appellcharakter historisch verkörperten Sinns öffnet.“ (Joas 2011, S.190)

Damit sind wir aber auch schon bei der Methode solcher Rekonstruktionen des historischen Sinns von Werten. Anders als Nietzsche, der in einer Genealogie nur die destruktive Relativierung aller Wertansprüche erkennen konnte (vgl. Joas 2011, S.147), geht Joas davon aus, daß wir im Rückblick auf die Entstehungsgeschichte von Werten immer schon Stellung beziehen. Wir können uns dem Appell, den die historischen Ereignisse an uns richten, nicht entziehen. Wir müssen entscheiden, welche Entwicklungslinien wir in der Gegenwart aufgreifen und auf eine menschlichere Zukunft hin weiterführen wollen. Diese Notwendigkeit, sich zur Geschichte in ein Verhältnis zu setzen (vgl. Joas 2011, S.183), nennt Joas mit Bezug auf Ernst Troeltsch (1865-1923) „existentiellen Historismus“. (Vgl. Joas 2011, S.189)

Diese Notwendigkeit, Stellung zu beziehen, gilt aber nicht nur für die Geschichtswissenschaft. Letztlich gibt es überhaupt keine Form des Wissens, die nicht auf grundlegende Gewißheiten zurückgeführt werden müßte, die sich der rationalen Widerlegung entziehen: „Alle kognitiven Bezugssysteme, so zeigt sich, beruhen auf ‚Gewißheiten‘, die selbst für jeden spezifischen Zweifel und für mögliche Prozeduren der Falsifikation konstitutiv sind. Diese Gewißheiten können deshalb nicht im selben Sinne fallibel sein wie alle individuellen Propositionen in dem so jeweils konstituierten Bezugssystem.“ (Joas 2011, S.258) – Schon deshalb ist ein Professor immer auch ein Konfessor, – einer der sich zu seiner Disziplin bekennt wie ein Gläubiger zu seiner Religion. Jeder Wissenschaftler bezieht mit seinem ‚Wissen‘, mit der Form, die er seinem Wissen gibt, Stellung.

Das zeigt sich gerade auch bei einer von Joas’ Bezugsautoritäten: bei Talcott Parsons, dessen Begriff der Wertegeneralisierung Joas übernimmt. Ob Parsons selbst schon den expliziten Antihumanismus von Niklas Luhmann teilt, kann ich nicht beurteilen. Aber in seiner Sprache ist er zumindestens schon impliziert. Joas macht darauf aufmerksam, wenn er anmerkt, daß in „Parsons’ nicht sehr schöner soziologischer Sprache“ Menschen nicht mehr als Menschen vorkommen, sondern nur als „Synthese eines lebendigen Organismus mit einem Persönlichkeitssystem“. (Vgl. Joas 2011, S.239) – In so einer ‚nicht sehr schönen Sprache‘ zeigt sich vor allem eine Vermeidungsstrategie: nicht mehr vom Menschen sprechen zu müssen. Auch so eine Vermeidungsstrategie, eben vom Menschen nicht mehr sprechen zu wollen, ist schon eine Stellungnahme und gehört zu seiner vorzeitigen Beerdigung.

Joas’ existentieller Historismus jedenfalls bekennt sich zur Notwendigkeit, den Menschen zu seiner Geschichte ins Verhältnis zu setzen. Das erinnert an Plessners Kennzeichnung des Menschen als exzentrischer Positionalität (vgl. meinen Post vom 29.10.2010): Stellung beziehen bedeutet nämlich, gleichzeitig in der Geschichte zu stehen wie ihr gegenüber zu stehen, und diese beiden Positionen müssen zueinander in ein Verhältnis gesetzt werden. Wenn Plessner deshalb die Geschichtlichkeit des Menschen als Moment seiner Expressivität begreift, durch die hindurch er vor sich selbst verständlich zu werden versucht, so steckt darin auch etwas von der von Joas angesprochenen Plausibilität von Wertebindungen. Denn ‚verstehen‘ wir unsere Wertebindung, so verstehen wir uns selbst zumindestens ein bißchen besser.

Was das nun für das Handeln des Menschen auf eine menschlichere oder zumindestens weiterhin menschliche Zukunft hin bedeutet, will ich in den folgenden Posts erörtern. Für jetzt bleibt festzuhalten, daß unsere diesbezügliche Verantwortung weder mit rationalen noch mit empirisch-statistischen Argumenten geschmälert werden kann. Wir stehen mitten in einem globalem Prozeß der Verunsicherung, der oft als Werteverlust beschrieben wird. Oder es wird im Gegenteil dramatisierend vom „Kampf der Kulturen“ gesprochen. Mit Joas könnte man – nicht weniger dramatisch, aber hoffnungsvoller – von einer geschichtlichen Phase sprechen, aus der neue Wertbindungen hervorgehen werden, – etwa dem von mir eingangs angesprochenen Recht kommender Generationen auf ein menschenwürdiges Leben. Und das nicht etwa, weil diese Aussicht auf neue, das Überleben des Menschen ermöglichende Werte besonders realistisch oder auch nur rational begründet wäre, sondern weil sich eine solche Geschichte einfach schöner erzählen läßt.

Das ist übrigens der Grund, warum ich mich nicht als vollendeten, sondern als aufgeklärten Nihilisten verstehe.
PS (29.06.2012): In diesem Post spreche ich vom „Recht kommender Generationen auf ein menschenwürdiges Leben“. In dieser Woche lief ein Dokumentarfilm über einen 11-jährigen Jungen, der aus Sorge um seine eigene konkrete Zukunft politisch aktiv geworden ist und eine Bewegung zum Pflanzen von Bäumen ins Leben gerufen hat. Mit dem Argument: „Weil ich länger lebe als du!“ – Nicht einmal die Rente haben wir uns durch unsere Lebensleistung verdient; denn es ist genau diese Lebensleistung, die Raubbau an der Zukunft derjenigen betrieben hat, deren Lebenszeit weiter in die Zukunft reicht als unsere.
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