„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 8. April 2012

Respekt für Günter Grass!

Ich habe Respekt vor Grass:
schon als Schüler las ich Katz und Maus,
bemalte das Titelbild mit Kugelschreiber,
formulierte ‚Grass‘ um in ‚Grasshalm‘!

Ich habe Respekt vor Grass:
stets bewunderte ich seine politische Standfestigkeit
und daß er sich das Denken nicht verbieten ließ.
In allem, was er sagte und schrieb,
blieb er wiedererkennbar!

Ich habe Respekt vor Grass:
ob Schmidt oder Kohl oder Schröder regierte –
Grass sagte, was sie nicht hören wollten.
Wo andere sich still und heimlich verabschiedeten –
Grass blieb!

Sogar als die Mauer fiel
und man wieder ein Volk sein wollte,
blieb Grass sich treu
und ich ihm ...
auf Hiddensee im Hauptmann-Haus signierte er mir einen Gedichtband,
den ich dann verschenkte.

Ich habe Respekt vor Grass:
Schon immer wußte ich um seine ‚Vergangenheit‘,
weil er selbst nicht müde wurde,
sich ihrer zu schämen.
Als die Medien über ihn herfielen
– im Alter, weil er sie angeblich verschwiegen hatte –
war ich überrascht!
Wer ihm zugehört hatte,
wer ihn gelesen hatte,
hatte es längst schon wissen können;
aber dazu braucht man Respekt ...

Keinen Respekt habe ich:
vor den ‚jungen‘, aalglatten Moderatoren
und Kommentatoren,
ihrer überheblichen Vergangenheitslosigkeit,
denen die Gewißheit aus den gepuderten Poren schwitzt,
das bessere Deutschland
und dessen Mehrheit
zu repräsentieren.
Das bessere Deutschland – das bessere Volk,
Herr Außenminister?

Respekt!
Respekt für Grass!

PS (14. April 2012): Warum habe ich diesen Blogpost geschrieben? Einerseits aus den im Post genannten Gründen, aus Respekt vor Grass und darüberhinaus aber auch vor allen Menschen, die glauben, etwas nicht verschweigen zu dürfen, etwas sagen zu müssen, das sich warum auch immer nicht schickt oder von wem auch immer verboten wird. Grass hatte sich kritisch zur Politik der Regierung des Staates Israel geäußert. Daß ‚wir‘ Deutschen hier allerdings eine besondere historische ‚Last‘ mit uns tragen, soll keineswegs geleugnet werden. Aber wo immer sich jemand erkennbar an dieser besonderen Verantwortung abarbeitet – wie eben Günter Grass –, werde ich sein Recht zur politischen Unkorrektheit jederzeit verteidigen, – im Unterschied zu jenen, die nur leichtfertig und gewissenlos daherreden, wider besseren Wissens oder einfach aus Dummheit.

Was mich aber ganz besonders geärgert hat, ist die Heuchelei der Kommentatoren und der Politiker. Alle spielen sich jetzt wiedermal als Experten in Sachen Nah-Ost-Konflikt auf und sprechen allen anderen, insbesondere Grass, dieses Expertentum ab. Daraus können wir zweierlei lernen. Der dämlichste Politiker, der nicht in der Lage ist, die Titel der Dossiers seiner Fachreferenten auch nur nachzubuchstabieren, hat das Recht, sich zu den brisanten Themen der Weltpolitik zu äußern, – aber eben nicht Günter Grass! Und zweitens dürfen alle politischen Laien und Amateure zwar jederzeit brav wählen gehen, aber sie müssen ansonsten bitte schön den Mund halten. Denn wo die Experten in Politik und Wissenschaft sprechen, hat unser aller Verstand zu schweigen.

PPS (23. August 2020): Ich lese gerade das Antisemitismuskapitel aus Hannah Arendts Buch „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ (1979). Darin entwickelt sie den Antisemitismus als eine Begleiterscheinung des Niedergangs der westeuropäischen Nationalstaaten in der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20.Jhdts. Diesen Antisemitismus unterscheidet sie vom Judenhaß und von den Pogromen des Mittelalters, weil beide Formen der Judenfeindschaft unter ganz verschiedenen historischen Bedingungen gediehen. Arendt hebt die politische Dimension des Antisemitismus hervor, der für die modernen Formen totalitärer Herrschaft so außerordentlich brauchbar gewesen war und in seiner extremen Konsequenz zum Holocaust in Nazi-Deutschland führte.

Mich erstaunt bei dieser Lektüre vor allem Arendts Unbefangenheit, mit der sie beide Seiten, die der Antisemiten und die des jüdischen Volkes, beschreibt und dabei in aller Ausführlichkeit auf den Anteil der Juden an den Vorurteilen der ‚Gastgebergesellschaften‘ ihnen gegenüber als einer außerhalb dieser Gesellschaften stehenden Gemeinschaft eingeht, die ihren Vorteil aus dieser Position zu ziehen wußte – und dabei durchaus unterschiedliche Interessen verfolgte (Dorfjuden, Hofjuden, Bankiers, jüdische Intellektuelle, Assimilierte, osteuropäische und westeuropäische Juden etc.). Würde sie sich heute in dieser Weise zu Wort melden, hätte sie Schwierigkeiten, dem Vorwurf zu entgehen, selbst eine Antisemitin zu sein. Mit Blick auf die dem Nationalsozialismus vorangegangene Phase des Antisemitismus spricht sie von einer vergifteten gesellschaftlichen Atmosphäre, die „einen unschuldigen Verkehr zwischen Juden und Nichtjuden nahezu unmöglich gemacht (hat)“. (Vgl. Arendt 1979, S.110) Das trifft heute noch zu.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen