„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 8. April 2012

Friedrich Kittler, Grammophon. Film. Typewriter, Berlin 1986

1. Günther Anders und Friedrich Kittler
2. Zur Differenz von Rauschen und Resonanz
3. Digitalisierung und Negativität
4. Rückkopplung, Reflexbogen und Rekursivität
5. Spurensicherung im Realen
6. Spiegel, Phantome und Leichen
7. ‚Diskretion‘ und Seele
8. Das Unbewußte

Hatte die moderne Wissenschaft ursprünglich damit begonnen, daß sie sinnvolle Aussagen (Wissen) von sinnlosen Aussagen (Meinungen, Vorurteile, Aberglaube) unterschied, um so das Fundament für ein umfassendes System dessen zu legen, was man vernünftigerweise wissen kann, so begann sie mit der Psychoanalyse ein Gebiet für sich zu entdecken, das explizites Wissen prinzipiell ausschloß: das Unbewußte. Auch die Husserlsche Phänomenologie wandte sich mit dem Begriff der Lebenswelt diesem Unbewußten zu. Aber auch hier, bei Freud und Husserl, ging es nicht etwa darum, dem Unbewußten sein altbewährtes Wirkungsfeld, eben Meinungen, Vorurteile und Aberglauben, zurückzuerstatten, als Reservat, in dem es unbelästigt sein Un-Wesen treiben darf, sondern im Gegenteil um neues Wissen über den Menschen zu erwerben und nutzbringend (therapeutisch) anzuwenden.

Aber schon zu Husserls und Freuds Zeiten begannen sich, folgt man Kittlers Darstellungen, Disziplinen im System der Wissenschaft zu etablieren, die das humane Sinnbedürfnis, die Vernunft, die Autorität des Über-Ichs, gründlicher entthronten, als es selbst Freud hatte wollen können. Diese neuen Disziplinen waren Medienwissenschaften. Und eine der ersten Medien, die sich an die Stelle der menschlichen Sinnlichkeit setzten, um sie schließlich vollständig zu ersetzen, war Kittler zufolge der Phonograph bzw. das Grammophon. Für diese Ersetzung der menschlichen Sinnlichkeit, insbesondere des Gehörs, durch technische Medien, steht der Frequenzbegriff. Im Gefolge des Frequenzbegriffs tritt an die Stelle einer sinnhaften, nicht meßbaren Figur-Hintergund-Konstellation der meßbare „Signal-Rausch-Abstand“ (1986, S.72), angesichts dessen vernünftige „Reden“ als „physiologische Filterungen von Atem oder Rauschen“ erscheinen (vgl. 1986, S.114), als wäre der Sinn schon in diesem Rauschen enthalten und emergierte aus ihm wie eine Schwarmintelligenz.

Tonbandprotokolle gelten als weniger fehleranfällig als Schriftprotokolle, da diese „unabsichtliche(r) Selektionen auf Sinn hin“ verdächtig sind. (Vgl. 1986, S.133) Im Zweifelsfalle ist das, was Menschen zu Protokoll geben und „Versuchsleiter“ (Wissenschaft) oder Verhörer (Polizei) oder Ärzte (Psychoanalytiker) fehleranfällig protokollieren, weniger bedeutsam, als das, was im ‚Rauschen‘ von Tonaufnahmen zwar nicht gesagt oder gehört wird, aber als geheime Botschaften nachträglich herausgefiltert werden kann. (Vgl. 1986, S.134)

War es in der abendländischen Musikgeschichte immer um den Klang bzw. um Töne gegangen, für die die Notenschrift erfunden wurde, die das Musikerlebnis in Intervalle und Akkorde gliederte (artikulierte) (vgl.1986, S.41), so stand an der Wiege des Grammo-Phons die Entdeckung, daß man akustische Phänomene noch anders ‚schreiben‘ könne: nämlich indem man sie sich selbst schreiben ließ. Das sich-selbst-Schreiben akustischer Phänomene, bei denen kein Subjekt (Komponist, Orchester oder Virtuose) ordnend und filternd eingreift, besteht aber in nichts anderem als im Rauschen, dem sinnlosen Hintergrund sinnvoller Klänge und Töne. Und die ‚Schrift‘, in der dieses Rauschen sich selbst schreibend sichtbar wird, sind die Frequenzkurven, die eine Nadel oder ein Stift auf einer Walze oder einem Papier hinterläßt. Frequenzen aber sind in Metern und Sekunden meßbar: „Zum ersten Mal hing Tonhöhe nicht mehr von einer Länge ab wie bei Saiten oder Blasinstrumenten; sie wurde eine abhängige Variable von Geschwindigkeit und damit Zeit.“ (1986, S.43)

Indem die Medienwissenschaft ihre Aufmerksamkeit diesem Rauschen zuwandte und das Messen von Frequenzen wichtiger wurde, als die Stimme und das gesprochene und geschriebene Wort, leitete sie eine „Epoche des Unsinns“ (1986, S.134) ein, der sich auch die Kunst, ob Musik, Malerei, Lyrik oder Prosa bis heute nicht entziehen konnte. Aber nicht nur der Unsinn wurde in Form des Frequenzbegriffs zur medientechnologischen Methode. Auch der menschliche Körper selbst, der ja immerhin noch Geräusche macht – auch wenn ihm eine menschliche Stimme nicht mehr zugestanden wird –, wird durch den Frequenzbegriff obsolet: „Triumph des Frequenzbegriffs: die Kehlköpfe der Leute mit allem, was sie flüsternd oder schreiend, dialektal oder nicht, an Geräuschen auswarfen, kamen zu Papier.“ (S.44)

An der „Kranznaht“ (die an Frequenzkurven erinnernde Verbindungsnaht der menschlichen Schädelknochen) versucht Kittler zu zeigen, daß der Frequenzbegriff vor allem aufs Rauschen geht, nicht auf Resonanz, für den man ja Volumen, d.h. Körper braucht: „... beim Abhören von Zeichen, die nicht aus der graphischen Übersetzung eines Tones stammen, sondern anatomische Zufallslinien sind, braucht kein Körper optisch hinzuphantasiert zu werden. Was das Rauschen erzeugt, ist er selber.“ (1986 S.73f.) – Kittler imaginiert hier anhand der „Kranznaht“ das Rauschen als „Ur-Geräusch“, das der Körper selber ist: der Körper ist mit diesem mittels einer „anatomische Zufallslinien“ abtastenden Grammophonnadel hervorgerufenen Geräusch identisch. (Vgl. 1986, S.71f.)

‚Zeit‘ – die Zufallslinien der Kranznaht – tritt anstelle des ‚Raums‘: des Körpers als Resonanzraum. Der Körper wird reduziert auf das, was eine Nadel an seinen Schädelknochen zu Gehör bringt. Nicht mehr die Feder des Dichters besingt die Schönheit des menschlichen Körpers, und auch nicht die Feder eines Leonardo da Vinci zeichnet seine Proportionen, sondern die Feder des Phono-Graphen bzw. des Grammo-Phons reduziert seine drei Dimensionen auf die eine Dimension einer Linie. Zur Eindimensionalität dieser Linie, diesem Konstrukt aus Meter und Sekunde, gibt es keine Exzentrizität mehr. Man kann sich zu ihr nicht mehr positionieren. Dieser Körper hat keinerlei anthropologische Relevanz.

Ein letzter Rest von Resonanz hatte sich noch im „Aufnahmeschalltrichter“ des Phonographen gefunden (vgl.1986, S.113), denn dieser war noch eine Nachbildung des menschlichen Ohrs. Aber inzwischen kann man auf solche groben technischen Korrelate des menschlichen Gehörs verzichten; nachdem man nämlich begriffen hat, daß auch die Gehirnzellen in Frequenzen schwingen, denen „psychologisch ein Gefühl oder Gedanke“ entspricht (vgl. 1986, S.50f.) Hier sind Resonanz und Rhythmus, nämlich der Lebensrhythmus körperlicher Stoffwechselprozesse und ihre Innen-Außen-Differenz, wie sie Plessner beschrieben hat, endgültig unkenntlich geworden, weil ‚zerhackt‘ in eine Binärzahlrhythmik, der sich dann die technologischen Nachfolgeprodukte von Phonograph und Grammophon immer perfekter anpassen, bis sie, mit den Gehirnen kurzgeschlossen, ganz auf räumliche Übertragungswege verzichten können. Alles was sich dann noch an Geräusch (Musik) abspielt, bleibt von vornherein innen und wird nur noch halluziniert.

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