„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 20. April 2012

Bewußtes, Unbewußtes, Unterbewußtes

Inzwischen ist es wohl nötig geworden, daß ich hier einige Differenzierungen am Begriff des Unbewußten vornehme.  Dabei geht es mir weniger darum, einen möglichst allgemeingültigen Begriff zu finden. Mir geht es lediglich darum, den Gebrauch dieses Begriffs im Rahmen dieses Blogs zu klären.

Ich bin schon in meinem ersten Post vom 21.04.2010 und zuletzt in meinem Post vom 14.04.2012 auf das Unbewußte zu sprechen gekommen. In meinem ersten Post hatte ich das Unbewußte als ‚fremdes Fundament‘ des Bewußtseins gekennzeichnet; und zwar in dreifacher Hinsicht: als stumme Natur, als Kultur (kulturelles Gedächtnis, Lebenswelt) und als individuelles Unbewußtes (dem autobiographischen Gedächtnis entzogene Bereiche der individuellen Ontogenese).

Diese drei Dimensionen eines das Bewußtsein ständig begleitenden, seinem Zugriff aber entzogenen ,Fremden‘  möchte ich noch einmal zurückführen auf die Differenz zwischen Unbewußtem und Unterbewußtem. Das Unbewußte umfaßt seit der Antike bis Sigmund Freud verschiedene Momente: es bildet eine Art alternative ,Intelligenz‘ bzw. ,Instinkt‘ und wird in dieser Funktion auch als ,Seele‘ bezeichnet.  Als solche ist es mal dem eigentlichen Verstand überlegen, so daß es für die Menschen stets übel endet, wenn sie auf diese ,innere Stimme‘ nicht hören. Oder aber die ‚Seele‘ bildet eine Art ursprüngliches, animalisches Rohmaterial, das erst mit Hilfe des ,Geistes‘ nach und nach gebildet und vergeistigt werden muß.

Sigmund Freud beschreibt das Unbewußte als den Bereich, in den ehemals bewußte Erfahrungen, Wünsche, Erlebnisse hinabsinken, weil sie als ,gefährlich‘, unmoralisch oder gesellschaftlich unerwünscht gelten. In dieser Funktion kann man dieses ‚Unbewußte‘ wohl besser als ‚Unterbewußtes‘ bezeichnen, weil sich in ihm alle die Momente unseres Bewußtseinslebens sedimeniert haben, die wir nicht unmittelbar im Handeln ausleben können. Dieses Unterbewußte ist ungeheuer dynamisch und befindet sich im ständigen Konflikt mit dem Bewußtsein, das die dynamischen Prozesse seines Unterbewußten nur durch Sublimation zu ,kontrollieren‘ vermag. Letztlich bestimmt also dieses Unterbewußte die Dynamik unseres Bewußtseinslebens. Im Freudschen Sinne bildet es in Form des ,Es‘ das eigentliche Subjekt.

Dann gibt es noch das kollektive Unbewußte von Carl Gustav Jung in Form der Archetypen. Dieses Unbewußte bildet die geistige Erbmasse der ganzen Menschheitsentwicklung, die in jeder individuellen Entwicklung wiedergeboren wird. Das geht noch über das kulturelle Gedächtnis von Jan Assmann hinaus, das ja vor allem ein Buchgedächtnis ist. (Vgl. meine Posts vom 05.02.2011 und vom  07.02.2011) Es vereint in sich die biologischen und kulturellen Fundamente der menschlichen Ontogenese. Auch hier haben wir es mit Sedimentierungsprozessen zu tun, also mit einem Unterbewußten.

Wenn ich also in diesem Blog künftig zwischen Unbewußtem und Unterbewußtem unterscheiden will, dann meine ich mit dem Unbewußten vor allem eine alternative, dem bewußten Zugriff entzogene ‚Intelligenz‘ und die Vollzugsform des Hier und Jetzt. Das Unterbewußte entsteht vor allem aus Sedimentierungsprozessen. Dabei ist das Unbewußte das prinzipiell nicht Bewußte, durch das das Bewußtseinsleben aber erst möglich wird. Als dem bewußten Zugriff entzogene alternative Intelligenz bildet das Unbewußte eine Art ‚Gewissen‘, wie man es mit einem traditionellen Begriff ausdrücken könnte. In einem anderen Post (vom 10.11.2011) hatte ich von einer Form intuitiven Verstehens als Kontextphänomen gesprochen, das in seiner Prozeßstruktur der Schwarmintelligenz gleicht.

Als Vollzugsform des Hier und Jetzt besteht die Leistung des Unbewußten darin, uns im Hier und Jetzt zu verankern. Meyer-Drawe hat dieses Unbewußte als „Vollzug“ beschrieben (vgl meinen Post vom 10.01.2012); Plessner spricht vom präsentischen Bewußtsein (vgl meinen Post vom 30.01.2012). Alles was uns im Hier und Jetzt widerfährt, bildet ein präsentisches Unbewußtes, demgegenüber unser repräsentatives Bewußtsein, das sich diesem Hier und Jetzt wahrnehmend, erlebend und thematisierend zuwendet, immer nur verspätet ist: was ich auch immer denke, ist gerade eben geschehen und schon vorbei. Auch wenn dieses präsentische Unbewußte prinzipiell unbewußt bleibt, können wir darauf in Form von Störungen unseres Bewußtseinslebens aufmerksam werden. Diese ‚Störungen‘ sind nicht pathologischer Natur, wie beim Unterbewußten. Sie ermöglichen vielmehr qualitative Veränderungen unserer bisherigen Gewißheiten in Richtung neuer Gewißheiten. In dieser Funktion bilden sie ein notwendiges Moment von Verstehensprozessen (alternative Intelligenz).

Das Unterbewußte ist das potentiell Bewußte, das sich dem Bewußtsein aber dynamisch entzieht. Dieses Unterbewußte deckt sich zum einen mit der Lebenswelt, das sowohl ein im Freudschen Sinne herabgesunkenes, aber dennoch höchst aktuelles, energetisches Motivationsgemisch bildet, das die Bewußtseinsschwelle nur in Form von Sublimationen zu überschreiten vermag, wie es auch zum anderen im ontogenetischen Gedächtnis besteht, das alle Erinnerungen der individuellen Ontogenese beinhaltet, deren wir uns meistens nicht mehr bewußt sind, die aber aufgrund von Sinneseindrücken wie Gerüchen oder aufgrund bestimmter Ereignisse (Déjà-vus) gegen unseren Willen wieder in uns lebendig werden können. (Vgl. die biographischen Rückwenden in meinem Post vom 04.03.2012 zu Beck/Beck-Gernsheim) Darüberhinaus beinhaltet das potentiell Bewußte auch das kollektive Gedächtnis im Sinne von Archetypen, die weiter zurückreichen als die Lebenswelt.

Aus diesem Versuch einer Verhältnisbestimmung von Unbewußtem und Unterbewußtem läßt sich für eine die Phylogenese und die Ontogenese des Menschen umfassende Anthropologie der Schluß ziehen, daß der Mensch einen Anachronismus darstellt, – und zwar einen Anachronismus, der als ergänzende Bestimmung der Plessnerschen exzentrischen Positionalität verstanden werden kann. ‚Ana-Chronismus‘ soll in diesem Fall heißen, daß der Mensch gleichermaßen in der Zeit steht wie außerhalb, ähnlich wie exzentrische Positionalität bedeutet, gleichzeitig Teil der Welt zu sein und ihr gegenüberzustehen.

Es gibt also eine Menschheitsgeschichte, die gleichermaßen phylo- wie ontogenetisch voranschreitet und die im menschlichen Bewußtsein gipfelt, welches dem erweiterten Bewußtsein bei Damasio entspricht. (Vgl. „Ich fühle, also bin ich“ (8/2009), S.278) Aber quer zu dieser Chronologie steht der Anachronismus des Unterbewußten, der die ganze Gedächtnislast dieser Menschheitsgeschichte wie ein Schatten hinterherträgt und diese Schattenbilder als fremde Gegenstände einer fremden inneren Welt dem Bewußtsein gegenüberstellt. Da das Gedächtnis dieses Unterbewußten aus lauter Anachronismen besteht, ist es nicht in mathematische Algorithmen transformierbar. Das menschliche Gedächtnis ist keine informationsverarbeitende Maschine.

(Zum ‚tierischen Erbe‘ als einem Anachronismus vor der „effektiven Folie“ von Glühbirnfabriken und Rundfunkapparaten vgl. auch meinen Post vom 27.01.2011 zum Verhältnis von Mensch und Natur bei Günther Anders. Die bei Anders angesprochenen Glühbirnen und Rundfunkapparate erinnern wiederum an das von Kittler so wertgeschätzte „Rauschen“. (Vgl meinen Post vom 14.04.2012) Mit diesem medientechnischen Rauschen ist der menschliche Anachronismus aber ganz und gar nicht zu vergleichen, da der aus denn Tiefen des Unterbewußten aufsteigende Unsinn immer auch sinnhaltig ist.)

Das Bewußt-Sein umfaßt als ein Seinsgeschehen, als Existenz, alle Dimensionen des Bewußten und des Nicht-Bewußten. Die Frage nach dem Subjekt unseres Denkens, Wollens und Handelns verführt nun dazu, das Eine gegen das Andere auszuspielen. Eine solche Frage, die Bewußtes oder Unbewußtes oder Unterbewußtes jeweils allein in der Subjektposition vermutet und nur noch zu klären versucht, welches davon in Betracht zu ziehen wäre, ist aber falsch gestellt. Wohlgemerkt: nicht die Frage nach dem Subjekt ist falsch gestellt, sondern welche spezifische Bewußtseinsdimension als Subjekt in Frage kommt. Denn Subjektivität ist der unverzichtbare Fluchtpunkt rekursiver Perspektiven innerhalb eines Mensch-Welt-Verhältnisses, das von seinem eigenen Handeln in seiner Existenz bedroht ist. Auf diesen Fluchtpunkt hin fokussieren wir die Verantwortung des Menschen für sich und seine Nachwelt. Davon suspendieren uns keine technischen Medien, von denen Kittler zufolge sowie nichts Erwähnenswerteres bleibt als ihr Rauschen.

Im Rauschen erhebt sich eine Stimme. Das heißt Subjektivität. Ihr muß Raum und Resonanz gegeben werden. Das heißt Inter-Subjektivität. Das ist so einfach, daß es schmerzt, zuzusehen, wie viel Mühe sich kluge Menschen geben, es zu leugnen.

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4 Kommentare:

  1. Ein wirklich gelungener Beitrag! Informativ und prägnant, mit einer schlüssigen und gut verständlichen (sowie selbstkritischen, der eigenen Grenzen "bewussten") Darstellung eines tragfähigen Modells einer Unterteilung von Bewusstseinsqualitäten.

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  2. Danke für das Kompliment! Ich habe eine Weile gebraucht, um darauf zu reagieren. Anscheinend fällt es mir leichter, mit Kritik umzugehen als mit Lob. Ich habe mir den Post nochmal durchgelesen, und jetzt erscheint er mir als verbesserungsbedürftig. Nach einem Verriß wäre er mir wohl als perfekt erschienen, so wie er ist.

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  3. das kenn ich nur zu gut. ich such mir mal einen beitrag raus, den ich verreissen kann :)

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