„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 30. April 2012

Friedrich Kittler, Optische Medien, Berliner Vorlesungen 1999, Berlin 2011

1. Kittlers Antihumanismus
2. Das Reelle und das Berechenbare
3. Medienverbundsysteme und die Einheit der Sinne (Plessner)
4. Standards und Stile
5. Das Subjekt als unendlicher Fluchtpunkt (Rekursivität)
6. Rekursivität und Resonanz
7. Leichen, Heilige und Löcher

Die Differenz zwischen Standards und Stilen ist gleich der Differenz zwischen Medien und Menschen. Bei den Medien, von denen bei Kittler die Rede ist, handelt es sich dabei um informationsverarbeitende Maschinen bzw. Rechner. Deren Funktionsprinzip, Phänomene auf binäre Zahlenreihen zurückzuführen, die wiederum darauf beruhen, Kontinua in diskontinuierliche, ‚diskrete‘ Momente unterhalb der Wahrnehmungsschwelle zu zerlegen – Pixel bei Photos, Einzelbilder beim Film –, bildet Kittler zufolge das Gemeinsame aller Medien. Zwar bilden analoge Tonmedien durchaus Kontinua, weil der Schall viel langsamer als Licht ist und sich deshalb trotz aller Komplexität z.B. von Orchesteraufnahmen unmittelbar – ohne Zerlegung in diskrete Momente – speichern und wiedergeben läßt. Aber auch der Schall wird im Medienverbundsystem des Computers in Bits zerlegt.

Beim Licht ist es jedenfalls so, daß es sich prinzipiell überhaupt nicht speichern läßt: „Umgekehrt (zum Ton – DZ) verfahren Film und Fernsehen nur darum diskret, also mit lauter Einzelbildern oder gar einzelnen Pixels, weil optische Speicher noch heute ein Ding der Unmöglichkeit sind. ... Deshalb speichern Film und Fernsehen nicht das Licht selber, sondern nur seine (von uns ja eingehend besprochenen) photochemischen Effekte, die dann alle() fünfundzwanzigstel Sekunden, also im Niederfrequenzbereich, abgetastet, gespeichert und wieder vorgeführt werden können.“ (1999/2011, S.258f.)

Licht läßt sich nämlich nicht speichern, weil es keine Speichermedien gibt, die mit der Lichtgeschwindigkeit mithalten können, – es sei denn man läßt das Licht sich selbst speichern, woran schon gearbeitet wird. Solange man hier aber keine Lösung gefunden hat, wird es dabei bleiben, daß man das Licht als Kontinuum in diskontinuierliche Elemente unterhalb der Wahrnehmungsschwelle zergliedern muß, um sie dann so abzuspielen, daß sie wieder den Eindruck einer kontinuierlichen Bewegungsfolge erzeugen.

Standards sorgen dafür, daß die Geräte, die das Licht beim Empfang in diskrete Elemente zergliedern, und die Geräte, die den fertigen Film abspielen, aufeinander abgestimmt sind und nicht nur ein Rauschen wiedergeben. Sie legen den Bereich der Täuschbarkeit unserer Sinnesorgane fest und regulieren innerhalb dieses Bereichs die weltweite Konsumierbarkeit der medialen Produkte. Ihre Funktion liegt also darin, das Uneindeutige in Form des Rauschens zu minimieren und das Eindeutige in Form von täuschend echten Bewegungsfolgen zu maximieren. Je ‚echter‘ die Bewegungsfolgen wirken, umso besser erfüllen die Standards ihren Zweck.

Dabei ist es interessant, daß gerade der Ton, der aus medientechnischer Perspektive eher simpel wirkt im Vergleich mit den Schwierigkeiten, Licht zu speichern und abzuspielen, die Standardisierung von Aufnahme- und Abspielgeräten erzwungen hat. Der Schall folgt einer ‚eindimensionalen‘ Schwingung, und es bedarf bloß einer eindimensionalen ‚Spur‘, wie etwa eine Schallplattenrille, um ihn abzuspeichern und wiederzugeben. Optische Medien stellen hingegen eine „prinzipiell zweidimensionale Signalverarbeitung“ dar (vgl. 1999/2011, S.258), was die Menge an Informationen, die hier verarbeitet werden müssen, quadriert. Dennoch ist es paradoxerweise gerade der informationstechnisch simple Ton, der wesentlich zur Standardisierung des Films beigetragen hat.

In Stummfilmzeiten war es nicht so genau auf die Abspielgeschwindigkeit des Films angekommen. Ob der Film schneller oder langsamer abgespult wurde, machte innerhalb gewisser Toleranzbreiten hinsichtlich des Filmgenusses wenig aus. Erst der Tonfilm erzwang exakte Kopplungen zwischen Aufnahme- und Abspielgeräten: „Durch millisekundengenaue Kopplung zwischen Bild und Ton hat erst der Tonfilm Messters Standardisierungsvorschläge wahr gemacht und das heißt zu einer absoluten Fixierung des Aufnahme- und Vorführtempos auch von Filmbildern gezwungen. ... Erst über das Ohr und die Akustik wurde Echtzeitverarbeitung auch und gerade von Augenweiden ernsthaft nachprüfbar.“ (1999/2011, S.260) – Unser Gehör ist offensichtlich weniger leicht täuschbar als unser Gesichtssinn.

Während Standards also dazu dienen, die Medien bei ihrem Angriff auf die menschlichen Sinne zu unterstützen, indem sie die Bewußtseinsschwelle unterlaufen, oberhalb derer man die scheinbare Kontinuität von Filmhandlungen noch auf ihre reale Diskontinuität hin durchschauen kann, funktionieren ‚Stile‘ nun ganz anders. Stile, z.B. in Form von Kunststilen (vgl. 1999/2011, 36), wollen nicht eine scheinbare Realität vortäuschen, sondern im Gegenteil die Subjektivität eines Künstlers zum Ausdruck bringen. Wir haben es also bei Kunststilen mit menschlicher Expressivität im Plessnerschen Sinne zu tun. (Vgl. meinen Post vom 26.01.2011) Das Interessante an Kunststilen ist nun, daß sie die ‚Konventionen‘, denen sie folgen, nicht verbergen, sondern offen zeigen. In der Malerei sind es z.B. bestimmte Maltechniken, Verfahren die Farben zu mischen etc. Wenn wir ein Bild betrachten, dann haben wir die verschiedenen Farbschichten samt der Textur der Leinwand deutlich vor Augen und werden über deren Materialität nicht getäuscht: „Anstelle der Naturwahrheit stand also eine Konvention, die man erst einmal ignorieren oder übersehen mußte, um der Illusion zu verfallen. ... These wäre also, daß überkommene Künste als Handwerke, die sie ihrem griechischen Begriff nach waren, nur eine Illusion oder Fiktion geleistet haben, aber keine Simulation wie technische Medien. In allem, was an Künsten Stil oder Code war, schrieb sich eine Trennung ein, die technischen Standards ganz im Gegenteil abgeht. Sicher waren Kunststile Weisen, auf die Sinne des Publikums zu wirken, aber sie beruhten nicht auf Messungen der Augenwahrnehmungsunfähigkeiten wie beim Standard des Filmbildwechsels ...“ (1999/2011, S.38)

Anstatt also dem Publikum durch „Messungen der Augenwahrnehmungsunfähigkeiten“ die Arbeit abzunehmen, die Absichten eines Regisseurs erraten zu müssen, um sich dann in einem bewußten Akt seinen Fiktionen (Täuschungen) hinzugeben, mutet es der Künstler dem Betrachter zu, sich selbst zu täuschen.

In der Literatur ist dieser Unterschied zwischen Standards und Stilen noch deutlicher. Dort bilden die Beschreibungen von Frauengestalten wie z.B. Novalis’ Mathilde oder Hoffmanns Aurelie (vgl. 1999/2011, S.228) ‚individuelle Allgemeinheiten‘. (Zum „individuellen Allgemeinen“ vgl. 1999/2011, S.181) Die Leser können (und müssen) sich ihr je individuelles Bild von diesen Frauengestalten machen, so daß sie bei keinem völlig gleich aussehen. Auf der Filmleinwand werden nun die Protagonisten ‚standardisiert‘. Alle sehen den gleichen Körper, das gleiche Gesicht. An die Stelle des individuellen Allgemeinen von Novalis’ Mathilde und Hoffmanns Aurelie treten „empirisch statistische Frauen“. (Vgl. 1999/2011, S.228; zum Thema „Selbstverwandlungstechniken“ vgl. auch meinen Post vom 23.01.2010 zu Günther Anders)

Wenn also Stile als individueller Selbstausdruck der Subjektivität des Künstlers zu individualisierenden Verstehensprozessen bei den Betrachtern bzw. Lesern führen, führen Standards als unterhalb der Bewußtseinsschwelle fungierende Täuschungstechniken zur Standardisierung des Wahrnehmens und Verhaltens beim Medienkonsumenten. Natürlich nur unter der Voraussetzung, daß sich bei dem einen oder anderen nicht doch unvorhergesehener Weise der Verstand einschaltet und sich rekursiv über den Täuschungsprozeß erhebt.

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Sonntag, 29. April 2012

Friedrich Kittler, Optische Medien, Berliner Vorlesungen 1999, Berlin 2011

1. Kittlers Antihumanismus
2. Das Reelle und das Berechenbare
3. Medienverbundsysteme und die Einheit der Sinne (Plessner)
4. Standards und Stile
5. Das Subjekt als unendlicher Fluchtpunkt (Rekursivität)
6. Rekursivität und Resonanz
7. Leichen, Heilige und Löcher

Im krassen Gegensatz zu Lambert Wiesings „Das Mich der Wahrnehmung“, in dem Modellbildungen im Bereich der Sinneswahrnehmung prinzipiell abgelehnt und ausschließlich unmittelbare Wahrnehmungserlebnisse thematisiert werden (vgl. meinen Post vom 04.06.2010), hält Kittler fest: „Die nackte These, um sie gleich voranzustellen, würde lauten: Man weiß nichts über seine Sinne, bevor nicht Medien Modelle und Metaphern bereitstellen.“ (1999/2011, S.32) – Ein solches Modell bildet z.B. die Leinwand, die Kittler ja schon in „Grammophon. Film. Typewriter“ mit Edgar Morin als „nach außen gestülpte Netzhaut“ beschreibt. (Vgl. 1986, S.186)

Da es Kittler zufolge in den Medien vor allem darum geht, die Sinnesorgane des (sogenannten) Menschen zu täuschen (vgl. 1999/2011, S.37), und sie deshalb in erster Linie „zur strategischen Überrollung seiner Sinne entwickelt worden sind“ (vgl. 1999/2011, S.35), orientiert sich die Medientechnologie natürlich auch an der Physiologie der „einzelnen Sinnesbereiche“ (vgl. 1999/2011, S.209). Dabei handelt es sich vor allem um zwei Sinnesbereiche, um Akustik und Optik, während die anderen Sinnesbereiche ignoriert werden. Ton- und Bildmedien wurden im 19.Jhdt. (mit ihrer entsprechenden Vorgeschichte vor allem im Bildbereich im Mittelalter und in der frühen Neuzeit) zunächst getrennt voneinander entwickelt, um dann gegen Ende des 19.Jhdts. und im Verlauf des 20. Jhdts. unter tatkräftiger Mithilfe zweier Weltkriege zu einem „Medienverbund“ zusammengefügt zu werden. (Vgl. 1999/2011, S.76f., 159, 161, 168, 202, 209f., 222, 257f.)

Kittlers Erörterungen zu den Printmedien, also dem Buch und der Zeitung, zeigen vor allem eins: das mühsame Entziffern von Buchstaben stört diese Entwicklung zum Medienverbund eher, als daß es sie unterstützt. Dennoch sollte das Lesen Ende des 18., Anfang des 19. Jhdts. paradoxerweise zu einer ersten Einübung in imaginäre Bewußtseinstechniken werden, wie sie dem Medienverbund des späteren Tonfilms entsprechen. Kittlers Darstellungen zufolge begann das mit den Jesuiten und ihren Exerzitien. Der Ordensgründer Ignatius von Loyola hatte mit diesen Exerzitien nach einer ausgiebigen Lektüre christlicher Erbauungsschriften über die Hölle begonnen. Mit seiner lebhaften und durch Krankheit zusätzlich empfindsam gewordenen Phantasie malte er sich die Höllenqualen farbig aus und ging dabei alle damals üblichen ‚fünf‘ Sinne systematisch durch (vgl. 1999/2011, S.93), – dabei immerhin eine größere Gründlichkeit an den Tag legend als Kittlers Medienverbund, der ja nur zwei Sinne berücksichtigt: „Folgerichtig ging es dem Jesuitenorden darum, alles früher einmal Gelesene nun so lange und so intensiv zu vergegenwärtigen, bis es aufhörte, Buchstabe oder Text zu sein, und stattdessen anfing, die fünf Sinne selber zu überwältigen.“ (1999/2011, S.92)

Loyola wurde so zum Vorläufer der romantischen Literatur, die – in Konkurrenz zur katholischen Gegenaufklärung wie aber auch in mehr oder weniger heimlicher Komplizenschaft mit ihr – diese Exerzitien zum literarischen Programm erhob. Der Autor sollte seine Leser die Buchstaben im Text vergessen machen und ihn stattdessen unmittelbar, also im Imaginären, von der Erzählung gefangennehmen lassen: „Lessings Abhandlung über Laokoon verglich die Dichtung systematisch mit der Malerei und kam zu dem wirkungspoetischen Imperativ, der Dichter solle uns ‚seinen Gegenstand so sinnlich mach(en), daß wir (nämlich die Leser) uns dieses Gegenstandes deutlicher bewußt werden, als seiner Worte‘ ...“ (1999/2011, S.113) – Dazu mußten sich die Leiser eine neue Technik aneignen, das „leise Lesen“, das nun an die Stelle des lauten gemeinsamen Lesens trat, z.B. in Form des väterlichen Bibelvortrags am mittäglichen oder abendlichen Familientisch: „Erst der leise und einsame Leser betrieb seine Lektüre wie eine Perspektive auf die im Text genannten optischen Daten ... Deshalb und nur deshalb konnte er seine Perspektive, die ja von keinem Mittheaterbesucher und dessen anderer Position im Zuschauerraum bestreitbar gemacht wurde, mit allem Glauben und das heißt mit aller Illusion ausstatten.“ (1999/2011, S.141)

Ähnlichkeiten mit dem Kino – also im dunklen Raum, statt wie im Theater im erleuchteten Saal – hatte das leise Lesen auch als klammheimlicher Prozeß unter der Bettdecke, wo man als Kind dem elterlichen Verbot zum Trotz mit der Taschenlampe weiterlas.

Kittlers These ist es jedenfalls, daß die romantische Literatur den europäischen Menschen auf den späteren Medienverbund des Kinos vorbereitet hatte. Die Leser waren schon auf imaginäre Illusionstechniken eingeübt, als ihnen Ende des 19.Jhdts. die ersten bewegten Bilder präsentiert wurden. Andere außereuropäische Kulturen hatten dabei größere Schwierigkeiten zu überwinden: „Andere Kulturen dagegen, bevor unsere Medienkonzerne nach dem Zweiten Weltkrieg zur weltweiten Kolonialisierung aller Wahrnehmung antraten, sollen Schwierigkeiten gehabt haben, eine Syntax aus lebenden Bildern überhaupt zu verfolgen. Deshalb liegt die Vermutung nahe, daß das Vermögen, Bildsequenzen zu sehen, seinerseits aus dem historisch erworbenen Vermögen folgte, Buchstabensequenzen nicht als solchen, sondern als imaginären Bildersequenzen zu folgen.“ (1999/2011, S.135)

Es waren nun wie gesagt nicht etwa alle ‚fünf‘ Sinne bei der Entwicklung des Medienverbundsystems von Tonfilm und Fernsehen beteiligt, sondern eben nur Akustik und Optik. Wenn es also um die physiologische Vermessung der „einzelnen Sinnesbereiche“ und ihre anschließende Verbindung zum Medienverbundsystem geht (vgl.1999/2011, S.209), haben wir es nicht wirklich mit der „Einheit der Sinne“ zu tun, wie sie Plessner beschrieben hat. (Vgl. meine Posts vom 13.07.2010 bis zum 15.07.10) Es fehlen die Zustandssinne, und es fehlt vor allem der wiederum systematische Bezug aller Sinne auf den ‚Geist‘ bzw. das Bewußtsein. Das Medienverbundsystem kommt völlig ohne diesen Bezug aus.

Interessanterweise ist dieses Manko schon früh Gegenstand der Kritik am Buch und dem damit verbundenen Leseprozeß gewesen. Rousseau hat schon das Bücherlesen, im Sinne von Kittlers „leisem Lesen“, verdächtigt, das selbständige Denken des lesenden Menschen zu behindern. Wenn man Kittlers medientechnologische Genealogie, die ja mit den gegenaufklärerischen Exerzitien des Jesuitenordens beginnt, berücksichtigt, kann man nicht umhin, Rousseau mit seinem Verdacht zumindestens teilweise rechtzugeben, – auch wenn er mit seiner Kritik an Büchern zum Vorbild von in regelmäßigen Abständen immer wieder neu aufgelegten, gleichermaßen kulturpessimistischen wie pädagogischen Reflexen auf die jeweiligen neuen Medien wurde. In schöner Regelmäßigkeit wurde mal dem Kino, dann dem Fernsehen und schließlich dem Computer vorgeworfen, für die Entwicklung des Kindes schädlich zu sein. Heutzutage erleben wir aber eher das Gegenteil. Keine bildungspolitische Stellungnahme ohne den Hinweis auf die Notwendigkeit möglichst frühzeitiger medienpädagogischer Maßnahmen in Schulen und ihrer Ausstattung mit modernen Computersystemen. – Aber diese überraschend positive, pädagogische Beurteilung von Medien sollte einem nicht weniger zu denken geben, als deren pauschale Verurteilung.

Der Punkt ist wohl doch der, daß kein Medium – weder Bücher noch Computer – dazu geschaffen wurde, uns das Denken abzunehmen. Abgesehen davon, daß kein Medium das überhaupt könnte! Der einzige Effekt, den die Medien in Bezug auf das Denken haben können – und das war eben Rousseaus Sorge, die sich bei Kittler ja letztlich auch bestätigt –, ist, das Denken abzuschaffen. Kein Computer wird jemals an unserer Stelle denken; wir aber können – und das ist eine durchaus reale Gefahr – mit dem Denken aufhören.

Letztlich gibt es bis heute auch kein Medienverbundsystem, das wirklich an die Stelle der Einheit der Sinne getreten ist, wie es Kittler suggeriert. Lediglich Auge und Ohr wurden technologisch miteinander verknüpft, – den Rest schafft die Imagination des Publikums, wie ja auch Kittler nicht müde wird zu betonen. So muß man also konstatieren – zu Kittlers Mißvergnügen –, es gibt den Körper noch immer. Und es gibt keinen menschlichen Körper ohne zumindestens die Option auf einen denkenden Verstand.

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Samstag, 28. April 2012

Friedrich Kittler, Optische Medien, Berliner Vorlesungen 1999, Berlin 2011

1. Kittlers Antihumanismus
2. Das Reelle und das Berechenbare
3. Medienverbundsysteme und die Einheit der Sinne (Plessner)
4. Standards und Stile
5. Das Subjekt als unendlicher Fluchtpunkt (Rekursivität)
6. Rekursivität und Resonanz
7. Leichen, Heilige und Löcher

Trotz meiner harschen Kritik an Kittler sehe ich durchaus, daß er interessante Begrifflichkeiten entwickelt, die dazu beitragen können, zu klären, was es mit Subjektivität und Selbstbewußtsein auf sich hat. Zu diesen Begrifflichkeiten gehören das „Medienverbundsystem“ und Kittlers kulturhistorische Darstellungen zur „Linearperspektive“, auf die ich in den folgenden Posts noch eingehen werde. In diesem Post will ich nochmal auf den Begriff des „Reellen“ zurückkommen, den Kittler von Lacan übernimmt.

In meinem Post vom 11.04.2012 war ich schon auf Kittlers Darstellungen zu Lacans Begriffen des Realen, Imaginären und Symbolischen in „Grammophon. Film. Typewriter“ (1986) eingegangen. (Vgl. 1986, S.27f.u.ö.) Dort hatte Kittler noch nicht zwischen Realem und Reellem differenziert, was er in „Optische Medien“ nachholt. Hier heißt es nun, daß man das Reelle „bitte nicht mit der landläufig sogenannten Realität () verwechseln“ solle: „Als le réel bestimmt sich dasjenige und nur dasjenige, was weder Gestalt hat wie das Imaginäre noch eine Syntax wie das Symbolische. Das Reelle, mit anderen Worten, fällt sowohl aus kombinatorischen Ordnungen wie aus Prozessen optischer Wahrnehmung heraus, eben darum aber – das ist eins der Leitmotive dieser Vorlesung – eben darum aber kann es nur von technischen Medien gespeichert und verarbeitet werden.“ (1999/2011, S.40)

Ich vermute, daß Kittler deshalb plötzlich so großen Wert darauf legt, zwischen dem Reellen und der Realität – eingeschlossen den Begriff des Realen – zu differenzieren, weil ihm aufgegangen ist, daß der Begriff der Realität zu anspruchsvoll ist, um ihn als bloßen Effekt von Medienverbundsystemen zu verbuchen. Wer von ‚Realität‘ spricht, kann nicht umhin, auch von ‚Bewußtsein‘ zu sprechen. Wer aber auf Simulation im Imaginären hinauswill – unter Umgehung von Bewußtseinsprozessen –, muß es tunlichst vermeiden, solche ‚veralteten‘ Begrifflichkeiten auch nur von Ferne in Erinnerung zu bringen. Im Kittlerschen Sinne ist der Begriff der ‚Realität‘ kontaminiert mit Bewußtsein. An dessen Stelle setzt er deshalb den Begriff des Reellen.

Damit ist Kittler in seine Analyse weiter vorgedrungen als etwa Metzinger, der ja gar nicht bemerkt, was er tut, wenn er ständig behauptet, der Realitätsbezug sei nur simuliert. (Vgl. meinen Post vom 05.05.2010) Mit jeder dieser Behauptungen ruft er unweigerlich die Vorstellung eines welthaltigen Bewußtseins auf, was ihn immer wieder in Selbstwidersprüche geraten läßt.

Wenn Kittler jetzt also statt von dem Realen oder von der Realität nur noch von dem Reellen sprechen will, so geht es ihm in diesem Reellen vor allem um das Rauschen, dessen Speicherung und Berechnung ja seinen Analysen zufolge die eigentliche Aufgabe technologischer Medien bildet. Es geht ihm also um Dynamiken, die „aus kombinatorischen Ordnungen wie aus Prozessen optischer Wahrnehmung“ herausfallen, wie es im obigen Zitat heißt, und die die Medien angeblich speichern und verarbeiten können. In seiner Euphorie bezüglich dieser der Kontrolle des Bewußtseins entzogenen Medienleistung behauptet Kittler, daß mit Hilfe von Computern „dank Mandelbrots Fraktalen“ mittlerweile sogar Wolken „in ihrer ganzen Zufälligkeit berechnet werden können und dann als errechnete, nicht gefilmte Bilder auf einen Bildschirm kommen“. (Vgl. 1999/2011, S.40)

Was Kittler hier tatsächlich aussagt, ist, daß Mandelbrots Fraktale Wolken simulieren können. Indem er aber undifferenziert von Wolken „in ihrer ganzen Zufälligkeit“ spricht – ohne dabei noch zwischen Realem und Reellem zu unterscheiden –, verschwindet hinter diesem „Reellen“ einer berechneten Simulation das Reale der wirklichen Wolken, die so unberechenbar und unkontrollierbar sind, daß bislang kein Klimamodell der Welt in der Lage ist, sie bei seinen Prognosen zu berücksichtigen. Wo in der Simulation jede einzelne Wolkenbewegung einem Algorithmus folgt, werden reale Wolkenbewegungen – und damit 70% der Klimadynamik – wegen ihrer Unberechenbarkeit bei den derzeitigen Klimamodellen schlicht und einfach ignoriert.

Ich will hier nicht in einen naturwissenschaftlichen Wettstreit mit Kittler treten, dessen medientechnologische Kompetenz ich neidlos anerkenne. Er hat das unbestreitbare Recht, sich bei seinen Medienanalysen auf das Reelle zu beschränken und das Reale aus seinen Betrachtungen auszuklammern. Er hat nur überhaupt kein Recht dazu, das ‚reale‘ Rauschen, d.h. die reale Unberechenbarkeit komplexer Naturphänomene, hinter dem simulierten ‚Rauschen‘ von Computeralgorithmen einfach verschwinden zu lassen und damit den Eindruck zu erwecken, man könne das, was man simulieren (berechnen) kann, ungestraft zerstören, – was, wie Kittler schreibt, eine „großartige Idee“ wäre. (Vgl. 1999/2011, S.167) Denn – wie er einen gewissen Oliver Wendell Holmes zitiert – sobald wir einen „sehenswerten Gegenstand() aus verschiedenen Perspektiven aufgenommen haben“, brauchen wir ihn nicht mehr: „Man reiße dann das Objekt ab oder zünde es an, wenn man will.“ (1999/2011, S.42) – Es ist Kittler selbst, der von hier die Linie bis nach Hiroshima zieht, wo in eins mit der Vernichtung von zehntausenden, nicht ‚Leuten‘, sondern Menschen photographische Effekte entstanden, nämlich Schatten an den Häuserwänden. Eine wirklich großartige Idee, Herr Kittler ...

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Freitag, 27. April 2012

Friedrich Kittler, Optische Medien, Berliner Vorlesungen 1999, Berlin 2011

1. Kittlers Antihumanismus
2. Das Reelle und das Berechenbare
3. Medienverbundsysteme und die Einheit der Sinne (Plessner)
4. Standards und Stile
5. Das Subjekt als unendlicher Fluchtpunkt (Rekursivität)
6. Rekursivität und Resonanz
7. Leichen, Heilige und Löcher

Ich bin schon in meinem Post vom 08.04.2012 zu „Grammophon. Film. Typewriter“ (1986) ausführlich auf Kittlers Anthropophobie eingegangen, so daß ein weiterer Post zu Kittlers Antihumanismus in „Optische Medien“ (1999/2011) als eine eher überflüssige Wiederholung erscheinen muß. Allerdings möchte ich diese Gelegenheit nutzen und einige grundsätzlichere Anmerkungen zur Verantwortung der Wissenschaft machen. Außerdem kann ich so die eine und andere amüsante Entgleisung im Kittlerschen Antihumanismus nachtragen.

Fangen wir mit dem Amüsanten an. Nicht nur ‚Menschen‘ wie ich ärgern sich über die penetrante Weigerung von ‚Leuten‘ wie Kittler, den ‚Menschen‘ in ihren Überlegungen überhaupt noch in Betracht zu ziehen. (Vgl. 1999/2011, S.34) ‚Penetrant‘ und ärgerlich ist diese Weigerung vor allem deshalb, weil sich Kittler nicht genug darin tun kann, mit billiger Rhetorik immer wieder darauf hinzuweisen und en passant dem ‚Menschen‘, den er für sich selbst doch längst verabschiedet hat, noch einen Tritt hinterher zu geben. Dazu gehört z.B. das fast schon spaßige Verwenden des Alternativwortes ‚Leute‘ (vgl. 1999/2011, S.164, 180, 227, 233f., 257), das so betont nonchalant daherkommt, daß es ganz offensichtlich ist: hier will einer das Wort ‚Mensch‘ nicht verwenden. So nehmen dann z.B. Computer nicht etwa Menschen aus Fleisch und Blut das Denken ab, sondern irgendwelchen „Leuten“ (vgl. 1999/2011, S.164).

Wie gesagt: nicht nur ‚Menschen‘ wie ich ärgern sich über solche ‚Leute‘ wie Kittler. Auch Kittler kann sich ärgern, – und das ist dann eben zur Abwechslung erheiternd. So ärgert er sich z.B. über die angebliche ‚Mode‘ in der Wissenschaft, ständig die Bedeutung des Körpers zu betonen: „Es scheint heute ganze Wissenschaftszweige zu geben, die nichts gesagt zu haben glauben, wenn sie nicht hundertmal Körper gesagt haben.“ (1999/2011, S.188) – Ja ist es denn die Möglichkeit, daß die Kollegen immer noch nicht begriffen haben, daß der menschliche Körper inzwischen durch Medien vollständig ersetzt worden ist? Ich erlaube meinem ‚Körper‘ ein Schmunzeln.

An anderer Stelle verwundert sich Kittler über die „Halsstarrigkeit“ fortschrittlicher Künstleringenieure des 19. Jhdts., die maßgeblich zur Weiterentwicklung technischer Medien beigetragen haben, sich aber trotzdem, wie z.B. der Landschaftsphotograph Muybridge, ein Leben lang weigerten, „von den schweren und unbeweglichen Glasplatten“ abzulassen, so daß er nur insgesamt 12 Aufnahmen vom „Pferdegalopp“ produzieren konnte, anstatt 270 pro Minute. (Vgl. 1999/2011, S.203f.) Muybridges sinnliche Freude an der schweren Körperlichkeit seiner Glasplatten liegt jenseits von Kittlers Horizont. So wie er auch den Erfinder des Zeichentrickfilms Reynaud nicht versteht, der nach Kittlers Darstellung aus der technischen Not heraus, noch keine Photographien auf Filmrollen übertragen zu können, ein „perforiertes und biegsames Band“ mit Handzeichnungen ausfüllte. Als dann kurz darauf Verfahren entwickelt wurden, Photoserien auf Zelluloidrollen zu produzieren, weigerte sich Reynaud aber weiterhin – Kittler ist fassungslos – mit dem Zeichnen von Trickfilmen aufzuhören! (Vgl. 1999/2011, S.197)

Wahrscheinlich ist Kittler nie Kind gewesen. Ich weiß noch sehr gut, daß ich als Kind Zeichentrickfilme jedem realistischen Photoplay vorgezogen hatte, – wenn ich nur die Wahl gehabt hätte. Der standen nicht nur das Fehlen eines Fernsehers, sondern auch die auf einmal pro Jahr (zum Weltspartag) beschränkten Kinobesuche entgegen. Auch heute noch liebe ich die klassischen Zeichentrickfilme, denen Walt Disney – wahrscheinlich sehr zum Verdruß von Kittler – gelegentlich sogar Leinwandabbildungen mit ihrer groben Textualität voranstellte (Kittler würde sagen, daß sie aus lauter Löchern bestehen (vgl. 1999/2011, S.71)) und die den geneigten Zuschauer magisch zum Träumen einluden. Aber ich bin ja auch nur ein ‚sogenannter‘ Mensch.

Das fand ich, wie gesagt, amüsant. Aber nun zur weniger amüsanten Verantwortung der Wissenschaft. Einiges zum Thema Wissenschaft habe ich schon in meinem Post vom 06.12.2010 zu Plessner geschrieben. Da war es um die Frage nach der Wissensentwicklung, dem Wissensfortschritt in der Wissenschaft gegangen. Plessner hatte in „Die verspätete Nation“ darauf hingewiesen, daß die wissenschaftlichen Theorien nicht in erster Linie am Erkenntniszuwachs orientiert sind, sondern – oft nur unbewußt, aber oft auch strategisch und bewußt – auf gesellschaftspolitische Bedürfnisse reagieren. Wenn überhaupt von einem wissenschaftlichen Fortschritt die Rede sein kann, dann vor allem im Sinne einer ‚Geste‘ bzw. ‚Pose‘: der Wissenschaftler beansprucht dann mit seiner Forschung, die Gesellschaft bzw. den ‚Menschen‘, soweit diesem überhaupt eine Relevanz zugebilligt wird, über ihre bzw. seine Vorurteile ‚aufzuklären‘. Dieser Prozeß der Aufklärung und Enthüllung geht auf die Aufdeckung immer tiefer liegender, realitätshaltigerer Mechanismen, von denen her das Verhalten von Menschen und Gesellschaften erklärt wird. Als aktuelle Beispiele solcher Enthüllungen hinsichtlich der conditio humana sei hier nur auf die Genetik, die Neurophysiologie oder – wie bei Kittler – die Informationstechnologien verwiesen.

Der Punkt, auf den ich hinauswill, ist folgender: in der Wissenschaft haben wir es heute im Grunde mit zwei grundverschiedenen Positionen zu tun, die beide nichts miteinander zu tun haben und zwischen denen es keinerlei Kommunikation gibt. Es kann diese Kommunikation auch gar nicht geben. Interdisziplinarität ist hier von vornherein ausgeschlossen! Bei diesen ‚Positionen‘ handelt es sich um Wissenschaftler, die eine Verantwortung für den Menschen empfinden und ihr gerecht zu werden versuchen. In diesem Blog besprochene, noch lebende Autoren dieser Richtung sind z.B. Welzer, Beck/Beck-Gernsheim, Meyer-Drawe, Geier, de Waal, Meyer-Schönberger und Assmann. Das sind die Autoren, die sich ausdrücklich zu ihrer Verantwortung für die conditio humana auch einer zukünftigen Menschheit bekennen. Es mag überraschen, wenn ich dieser Reihe noch Metzinger hinzufüge. Zwar nimmt Metzinger den Menschen nur als informationsverarbeitende Maschine zur Kenntnis, aber er macht sich dennoch paradoxerweise Gedanken über dessen menschliche Zukunft. Einige andere Autoren, die ich in diesem Blog besprochen, aber hier nicht genannt habe, müssen deshalb nicht eine antihumane Position einnehmen. Ich habe lediglich keine Kenntnis von expliziten Äußerungen in die eine oder in die andere Richtung.

Und dann gibt es eben die expliziten Menschenverächter, die sich wie Kittler nicht genug darin tun können, ihre Menschenverachtung und Maschinenverliebtheit zum Ausdruck zu bringen, – und das angesichts eines globalen Desasters, das sie entweder völlig ignorieren oder mit neuen Ingenieursleistungen als problemlos regulierbar vorgeben. Kittler ist sich nicht zu schade für eine „Garantie auf Erfindbarkeit im allgemeinen“ (1999/2012, S.165). Solche Garantien abzugeben kostete Kittler letztlich nichts, denn den kürzlich Verstorbenen wird wohl niemand je haftbar machen können.

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Freitag, 20. April 2012

Bewußtes, Unbewußtes, Unterbewußtes

Inzwischen ist es wohl nötig geworden, daß ich hier einige Differenzierungen am Begriff des Unbewußten vornehme.  Dabei geht es mir weniger darum, einen möglichst allgemeingültigen Begriff zu finden. Mir geht es lediglich darum, den Gebrauch dieses Begriffs im Rahmen dieses Blogs zu klären.

Ich bin schon in meinem ersten Post vom 21.04.2010 und zuletzt in meinem Post vom 14.04.2012 auf das Unbewußte zu sprechen gekommen. In meinem ersten Post hatte ich das Unbewußte als ‚fremdes Fundament‘ des Bewußtseins gekennzeichnet; und zwar in dreifacher Hinsicht: als stumme Natur, als Kultur (kulturelles Gedächtnis, Lebenswelt) und als individuelles Unbewußtes (dem autobiographischen Gedächtnis entzogene Bereiche der individuellen Ontogenese).

Diese drei Dimensionen eines das Bewußtsein ständig begleitenden, seinem Zugriff aber entzogenen ,Fremden‘  möchte ich noch einmal zurückführen auf die Differenz zwischen Unbewußtem und Unterbewußtem. Das Unbewußte umfaßt seit der Antike bis Sigmund Freud verschiedene Momente: es bildet eine Art alternative ,Intelligenz‘ bzw. ,Instinkt‘ und wird in dieser Funktion auch als ,Seele‘ bezeichnet.  Als solche ist es mal dem eigentlichen Verstand überlegen, so daß es für die Menschen stets übel endet, wenn sie auf diese ,innere Stimme‘ nicht hören. Oder aber die ‚Seele‘ bildet eine Art ursprüngliches, animalisches Rohmaterial, das erst mit Hilfe des ,Geistes‘ nach und nach gebildet und vergeistigt werden muß.

Sigmund Freud beschreibt das Unbewußte als den Bereich, in den ehemals bewußte Erfahrungen, Wünsche, Erlebnisse hinabsinken, weil sie als ,gefährlich‘, unmoralisch oder gesellschaftlich unerwünscht gelten. In dieser Funktion kann man dieses ‚Unbewußte‘ wohl besser als ‚Unterbewußtes‘ bezeichnen, weil sich in ihm alle die Momente unseres Bewußtseinslebens sedimeniert haben, die wir nicht unmittelbar im Handeln ausleben können. Dieses Unterbewußte ist ungeheuer dynamisch und befindet sich im ständigen Konflikt mit dem Bewußtsein, das die dynamischen Prozesse seines Unterbewußten nur durch Sublimation zu ,kontrollieren‘ vermag. Letztlich bestimmt also dieses Unterbewußte die Dynamik unseres Bewußtseinslebens. Im Freudschen Sinne bildet es in Form des ,Es‘ das eigentliche Subjekt.

Dann gibt es noch das kollektive Unbewußte von Carl Gustav Jung in Form der Archetypen. Dieses Unbewußte bildet die geistige Erbmasse der ganzen Menschheitsentwicklung, die in jeder individuellen Entwicklung wiedergeboren wird. Das geht noch über das kulturelle Gedächtnis von Jan Assmann hinaus, das ja vor allem ein Buchgedächtnis ist. (Vgl. meine Posts vom 05.02.2011 und vom  07.02.2011) Es vereint in sich die biologischen und kulturellen Fundamente der menschlichen Ontogenese. Auch hier haben wir es mit Sedimentierungsprozessen zu tun, also mit einem Unterbewußten.

Wenn ich also in diesem Blog künftig zwischen Unbewußtem und Unterbewußtem unterscheiden will, dann meine ich mit dem Unbewußten vor allem eine alternative, dem bewußten Zugriff entzogene ‚Intelligenz‘ und die Vollzugsform des Hier und Jetzt. Das Unterbewußte entsteht vor allem aus Sedimentierungsprozessen. Dabei ist das Unbewußte das prinzipiell nicht Bewußte, durch das das Bewußtseinsleben aber erst möglich wird. Als dem bewußten Zugriff entzogene alternative Intelligenz bildet das Unbewußte eine Art ‚Gewissen‘, wie man es mit einem traditionellen Begriff ausdrücken könnte. In einem anderen Post (vom 10.11.2011) hatte ich von einer Form intuitiven Verstehens als Kontextphänomen gesprochen, das in seiner Prozeßstruktur der Schwarmintelligenz gleicht.

Als Vollzugsform des Hier und Jetzt besteht die Leistung des Unbewußten darin, uns im Hier und Jetzt zu verankern. Meyer-Drawe hat dieses Unbewußte als „Vollzug“ beschrieben (vgl meinen Post vom 10.01.2012); Plessner spricht vom präsentischen Bewußtsein (vgl meinen Post vom 30.01.2012). Alles was uns im Hier und Jetzt widerfährt, bildet ein präsentisches Unbewußtes, demgegenüber unser repräsentatives Bewußtsein, das sich diesem Hier und Jetzt wahrnehmend, erlebend und thematisierend zuwendet, immer nur verspätet ist: was ich auch immer denke, ist gerade eben geschehen und schon vorbei. Auch wenn dieses präsentische Unbewußte prinzipiell unbewußt bleibt, können wir darauf in Form von Störungen unseres Bewußtseinslebens aufmerksam werden. Diese ‚Störungen‘ sind nicht pathologischer Natur, wie beim Unterbewußten. Sie ermöglichen vielmehr qualitative Veränderungen unserer bisherigen Gewißheiten in Richtung neuer Gewißheiten. In dieser Funktion bilden sie ein notwendiges Moment von Verstehensprozessen (alternative Intelligenz).

Das Unterbewußte ist das potentiell Bewußte, das sich dem Bewußtsein aber dynamisch entzieht. Dieses Unterbewußte deckt sich zum einen mit der Lebenswelt, das sowohl ein im Freudschen Sinne herabgesunkenes, aber dennoch höchst aktuelles, energetisches Motivationsgemisch bildet, das die Bewußtseinsschwelle nur in Form von Sublimationen zu überschreiten vermag, wie es auch zum anderen im ontogenetischen Gedächtnis besteht, das alle Erinnerungen der individuellen Ontogenese beinhaltet, deren wir uns meistens nicht mehr bewußt sind, die aber aufgrund von Sinneseindrücken wie Gerüchen oder aufgrund bestimmter Ereignisse (Déjà-vus) gegen unseren Willen wieder in uns lebendig werden können. (Vgl. die biographischen Rückwenden in meinem Post vom 04.03.2012 zu Beck/Beck-Gernsheim) Darüberhinaus beinhaltet das potentiell Bewußte auch das kollektive Gedächtnis im Sinne von Archetypen, die weiter zurückreichen als die Lebenswelt.

Aus diesem Versuch einer Verhältnisbestimmung von Unbewußtem und Unterbewußtem läßt sich für eine die Phylogenese und die Ontogenese des Menschen umfassende Anthropologie der Schluß ziehen, daß der Mensch einen Anachronismus darstellt, – und zwar einen Anachronismus, der als ergänzende Bestimmung der Plessnerschen exzentrischen Positionalität verstanden werden kann. ‚Ana-Chronismus‘ soll in diesem Fall heißen, daß der Mensch gleichermaßen in der Zeit steht wie außerhalb, ähnlich wie exzentrische Positionalität bedeutet, gleichzeitig Teil der Welt zu sein und ihr gegenüberzustehen.

Es gibt also eine Menschheitsgeschichte, die gleichermaßen phylo- wie ontogenetisch voranschreitet und die im menschlichen Bewußtsein gipfelt, welches dem erweiterten Bewußtsein bei Damasio entspricht. (Vgl. „Ich fühle, also bin ich“ (8/2009), S.278) Aber quer zu dieser Chronologie steht der Anachronismus des Unterbewußten, der die ganze Gedächtnislast dieser Menschheitsgeschichte wie ein Schatten hinterherträgt und diese Schattenbilder als fremde Gegenstände einer fremden inneren Welt dem Bewußtsein gegenüberstellt. Da das Gedächtnis dieses Unterbewußten aus lauter Anachronismen besteht, ist es nicht in mathematische Algorithmen transformierbar. Das menschliche Gedächtnis ist keine informationsverarbeitende Maschine.

(Zum ‚tierischen Erbe‘ als einem Anachronismus vor der „effektiven Folie“ von Glühbirnfabriken und Rundfunkapparaten vgl. auch meinen Post vom 27.01.2011 zum Verhältnis von Mensch und Natur bei Günther Anders. Die bei Anders angesprochenen Glühbirnen und Rundfunkapparate erinnern wiederum an das von Kittler so wertgeschätzte „Rauschen“. (Vgl meinen Post vom 14.04.2012) Mit diesem medientechnischen Rauschen ist der menschliche Anachronismus aber ganz und gar nicht zu vergleichen, da der aus denn Tiefen des Unterbewußten aufsteigende Unsinn immer auch sinnhaltig ist.)

Das Bewußt-Sein umfaßt als ein Seinsgeschehen, als Existenz, alle Dimensionen des Bewußten und des Nicht-Bewußten. Die Frage nach dem Subjekt unseres Denkens, Wollens und Handelns verführt nun dazu, das Eine gegen das Andere auszuspielen. Eine solche Frage, die Bewußtes oder Unbewußtes oder Unterbewußtes jeweils allein in der Subjektposition vermutet und nur noch zu klären versucht, welches davon in Betracht zu ziehen wäre, ist aber falsch gestellt. Wohlgemerkt: nicht die Frage nach dem Subjekt ist falsch gestellt, sondern welche spezifische Bewußtseinsdimension als Subjekt in Frage kommt. Denn Subjektivität ist der unverzichtbare Fluchtpunkt rekursiver Perspektiven innerhalb eines Mensch-Welt-Verhältnisses, das von seinem eigenen Handeln in seiner Existenz bedroht ist. Auf diesen Fluchtpunkt hin fokussieren wir die Verantwortung des Menschen für sich und seine Nachwelt. Davon suspendieren uns keine technischen Medien, von denen Kittler zufolge sowie nichts Erwähnenswerteres bleibt als ihr Rauschen.

Im Rauschen erhebt sich eine Stimme. Das heißt Subjektivität. Ihr muß Raum und Resonanz gegeben werden. Das heißt Inter-Subjektivität. Das ist so einfach, daß es schmerzt, zuzusehen, wie viel Mühe sich kluge Menschen geben, es zu leugnen.

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Samstag, 14. April 2012

Reflexivität und Rekursivität

In diesem Post greife ich noch einmal das Thema meiner Posts vom 21.02.2012 und vom 09.04.2012 auf. Dabei soll es hier vor allem um die Differenz von Reflexivität und Rekursivität gehen. Ich hatte schon darauf hingewiesen, daß die Rekursivität einen Raum eröffnet, die auch den Anderen wie mch umfaßt. Dabei geht es mit Tomasello (vgl. meinen Post vom 25.04.2010) vor allem um das Phänomen der gemeinsamen Aufmerksamkeit, in der sich ein intentionales Subjekt für die Intentionen eines anderen Subjekts interessiert und versucht, sich mit diesem abzustimmen.

Dabei eröffnen sich verschiedene Ebenen des Wollens, des Wissens, des Bewertens von Wissen. Diese verschiedenen Ebenen beinhalten sowohl unbewußte wie auch bewußte Momente, so daß sich das Bewußtsein, wie es Damasio beschrieben hat, ebenfalls über verschiedene Ebenen unterhalb und oberhalb des Kernselbsts, als der Schwelle der Bewußtwerdung, erstreckt. (Vgl. Damasio 8/2009 (1999), S.110ff., 208ff.) In Anlehnung an Franz Fischers horizontalen Bildungskategorien (1975) habe ich versucht, diese Bewußtseinsebenen von A bis F (Graphik) zu gliedern. Dabei bilden A und B zwei in die Tiefen des Unbewußten hinabreichende Bewußtseinsebenen der Wahrnehmung und der Erinnerung. Die Wahrnehmung bildet ein Subjekt-Außenwelt-Verhältnis, und die Erinnerung bildet ein Subjekt-Innenwelt-Verhältnis, wobei diese Innenwelt das Gedächtnis bildet.

Beide Bewußtseinsebenen wirken ständig wechselseitig aufeinander ein: nichts, was wir wahrnehmen, ohne entsprechende, sie begleitende und formende Erinnerungen; und nichts, was wir erinnern, ohne durch Wahrnehmungen veranlaßt und neu eingefärbt worden zu sein. Das ist das Phänomen des kommunikativen Gedächtnisses, auf das ich in diesem Blog schon öfter eingegangen bin. (Vgl. meine Posts vom 05.02.2011 und 07.02.2011 zu Assmann und vom 22.03.2011 bis zum 24.03.2011 zu Welzer)

Die nächste Ebene (C) ist die der „sozialen Marker“, wie sie Welzer in Anlehnung an Damasios „somatische Marker“ nennt: Gefühle, Bewertungen und auch Benennungen, denn an diesen Benennungen haben wir den unmittelbar allgemeinen Bezug auf die wahrgenommenen Gegenstände und Erinnerungen, so daß wir uns im Gespräch mit anderen darauf beziehen können. Diese Ebene ist weitgehend identisch mit A und B, insofern sie weit in deren unbewußt bleibende Mechanismen hinabreicht. Zugleich sind wir uns unserer Bewertungen aber auch teilweise bewußt, und mit diesem Bewußtsein einer Stellungnahme – in Form der Plessnerschen exzentrischen Positionalität – eröffnet sich eben auch eine neue Bewußtseinsebene.

Richten sich Gefühle und Bewertungen vor allem auf innere Prozesse, im Sinne einer Selbstbeobachtung: wie reagiere ich auf Wahrnehmungen und Erinnerungen?, so richtet sich die Ebene D in Form von Bedürfnissen und Erwartungen an die Außenwelt, sowohl an die Naturwelt wie an die soziale Welt. Das beginnt mit Hunger und Durst und endet bei sozialer Anerkennung und Kommunikation.

Diese Bedürfnisse und Erwartungen werden wiederum von Wissen (E) begleitet: von allgemeinem Wissen über die natürlichen, technischen und sozialen Voraussetzungen, wie wir unsere Bedürfnisse und Erwartungen befriedigen können, bis hin zum konkreten Wissen über die jeweiligen Umstände und Personen, mit denen wir es gerade zu tun haben.

Das Ganze schließt sich im Falle von Rekursivität zu einer räumlichen Struktur mit mindestens zwei Brennpunkten, je nach dem, mit wie vielen Personen wir interagieren. Dieser rekursive Raum (F) stellt einen beständigen Sinnbildungsprozeß dar, einen Sinn von Sinn. „Sinn von Sinn“ meint eine Dynamik der über den Anderen wie mich verlaufenden Selbstverständigung, die sich nicht stillstellen läßt, ohne daß sie ihre Sinnhaftigkeit sofort einbüßt und der rekursive Raum in sich zusammenfällt.

Das wäre z.B. bei reflexiven Spiegelungsprozessen der Fall. Anstatt den Anderen wie mich in die Selbstverständigung miteinzubeziehen, grenze ich mich von ihm ab, so daß wie bei zwei gegenüberliegenden Spiegeln eine unendliche Reihe von Selbstspiegelungen entsteht. Das ist zwar auch eine Form von Rekursivität, aber sie läuft gewissermaßen ‚leer‘. Sie bleibt flächig und eröffnet keinen Raum, keine perspektivische Tiefe mit Vorder- und Hintergrund. Die Perspektive ist vielmehr stillgestellt und zeigt immer nur ein und dieselbe Ansicht auf mich selbst. Diese leerlaufende Rekursivität gleicht den rekursiven Funktionen, wie sie Kittler anhand der automatisierten Rechenschritte von Computerprogrammen beschreibt. (Vgl. 1986, S.360)

Dennoch beinhaltet diese Ebene weiterhin die Struktur eines nunmehr invertierten Sinns von Sinn, der sich in die eigene ‚Tiefe‘ unseres Unbewußten wie in einen Brunnen hinein verliert (umgekehrtes ‚F‘), aus dem gleichermaßen ‚Gesichte‘ wie Echos heraufschimmern und -tönen. Dabei handelt es sich um jene „Doppelgängerphantome“, von denen Kittler so gerne spricht. (Vgl. meinen Post vom 12.04.2012) Der von Spiegeln, Leinwänden und Monitoren zurückgeworfene Sinn von Sinn produziert dem in sich versunkenen Narziß Doppelgänger um Doppelgänger, an denen er sich gar nicht genug berauschen kann.

Friedrich Kittler, Grammophon. Film. Typewriter, Berlin 1986

1. Günther Anders und Friedrich Kittler
2. Zur Differenz von Rauschen und Resonanz
3. Digitalisierung und Negativität
4. Rückkopplung, Reflexbogen und Rekursivität
5. Spurensicherung im Realen
6. Spiegel, Phantome und Leichen
7. ‚Diskretion‘ und Seele
8. Das Unbewußte

Die Seele und das Unbewußte decken ein weitgehend ähnliches Bedeutungsfeld ab. Während aber das Unbewußte vor allem beinhaltet, daß wir in seinem Bereich nicht wissen können, vermittelt uns die Seele Gewißheiten, die über bloßes ‚Wissen‘ hinausgehen. Das Unbewußte besteht aus lauter Ungewißheiten, die unser Wissen bedrohen. In der Seele glaubt sich der Mensch einzigartig und fühlt sich als Individuum. Im Geist weiß er sich allen anderen Menschen als gleich und unterwirft sich keiner anderen Autorität als der der Vernunft und des besseren Arguments. Vom Unbewußten fühlt sich der Mensch in seiner Individualität und in seinem Verstand bedroht. Das Unbewußte ist das Gebiet der Psychoanalyse, die Seele ist das Gebiet der Psychologie und der Pädagogik, und der Geist ist das Gebiet der Philosophie und der Geisteswissenschaften.

Nach Kittler ist das Unbewußte das Reich des „Unsinns“ (1986, S.134) und zugleich des Realen. Es in Form von Worten und Sätzen zu protokollieren, wie es der geschulte Psychoanalytiker tut, während sein Klient „Wortsalat“ (1986, S.134) produziert, überführt dieses Unbewußte nur wieder in Sinn und unterwirft es seiner Zensur. Das eigentliche Medium des Unbewußten ist deshalb nicht die Schrift, sondern das Rauschen: „Als sollte der ‚psychische Apparat‘ Freuds schöne Wortschöpfung oder Ersatzbildung für die altmodische Seele, eine Buchstäblichkeit werden, fällt das Unbewußte mit elektrischen Schwingungen zusammen. Nur ein Apparat wie das Telephon kann seine Frequenzen übertragen, weil jede Encodierung im Beamtenmedium Schrift mit einem Bewußtsein allemal auch Filter oder Zensuren dazwischenschalten würde.“ (1986, S.138)

Nur technische Apparate, die in der Lage sind, das Rauschen selbst zu speichern, und die wie das Gedächtnis der Natur alles aufzeichnen (vgl. 1986, S.121), was in ihr geschieht, ohne einen Unterschied zu machen, sind dem Unsinn des Unbewußten gewachsen: „Die absolute Treue des Phonographen ... sucht psychoanalytische Vertextungen wie ihr Grenzwert heim. Damit weist sie Freuds Methode, mündliche Redeflüsse auf unbewußte Signifikanten hin abzuhören und diese Signifikanten sodann als Buchstaben eines großen Rebus oder Silbenrätsels zu deuten,() als den letzten Versuch aus, noch unter Medienbedingungen eine Schrift zu statuieren.“ (1986, S.139) – Und: „Die Psychoanalytikerliebe zu Unsinnsreden hat eben kein schriftliches oder kryptographisches Pendant. Nur gedruckte Dichterwerke und keine unleserlichen Alltagshandschriften verlocken bekanntlich zur Deutung.“ (1986, S.142)

Deshalb schließen sich nach Kittler nicht nur Bewußtsein und Unbewußtsein, sondern auch „Bewußtsein und Gedächtnis“ gegenseitig aus: „In der Tiefe seiner Hirn-Engramme gehorcht der Apostel von Willensfreiheit unbewußten Diktaten.“ (1986, S.235; vgl. auch S.139)

So vergleicht Kittler das Unbewußte nicht mit der Seele, mit der er sich nicht mehr befassen will, und er stellt es auch nicht dem Bewußtsein gegenüber, sondern er setzt es mit dem umfassenden, ungefilterten, unpersönlichen „Maschinengedächtnis“ gleich. (Vgl. 1986, S.305) In dieses mündet die Evolution des „vergeßlichen Tieres“ namens ‚Mensch‘, in seltsamem Kurzschluß das Reale seines Körpers zerstückelnd und zerhackend und – ohne Umweg über das Bewußtsein – zugleich „im Schmerz“ zum allumfassenden Gedächtnis fügend.

Für dieses Unbewußte gibt es einen Spruch, der hier gerade wegen seiner Banalität paßt: „Wer alles sehen will, sieht nichts!“ – Unbewußt ist es also, weil sein Rauschen alles enthält und genau deshalb nichts? Unsinn ist es also, weil ungefilterter, alles umfassender Sinn in Unsinn umkippen muß? – Kittlers Ausführungen zum Unbewußten führen sich selbst ad absurdum.

Zwischen allen seinen ihre Subjekte und Prädikate leugnenden Sätzen klingt aber ein Echo mit, das nicht nur rauscht. Wenn Kittler von Protokollen spricht, in denen nicht das Gesagte, sondern das ungesagt Bleibende, nur versteckt in Form von Versprechern und verklausulierten Formulierungen Durchschimmernde das wirkliche Interessante und Wesentliche ist (vgl. 1986, S.133f.), so haben wir es hier mit einem Unbewußten zu tun, das ich gleichermaßen als ‚Seele‘ wie als ‚Lebenswelt‘ kennzeichnen möchte. Denn so wenig wir unsere Anwesenheit in der Realität restlos und spurenlos kontrollieren können, so wenig haben wir alle unsere Äußerungen im Griff. Nicht umsonst gibt es Lachen und Weinen und Scham.

In jeder individuellen Lebensäußerung, mit der wir uns anderen gegenüber aussetzen, schwingen deshalb Echos mit, die uns gegen unseren Willen kenntlich machen. Es sind Echos der Lebenswelt und zugleich unserer Seele. Die Lebenswelt ist deren Wurzel, ein unpersönliches, fremd bleibendes Fundament unserer Person. Echos im Hintergrund unseres persönlichen Denkens und Handelns klingen von drei solchen fremden Fundamenten herauf: von der biologischen und der kulturellen Phylogenese und von der individuellen Ontogenese. (Vgl. meinen Post vom 21.04.2010) Sie tönen in unserem Bewußtsein wider. Gäbe es diesen Resonanzraum nicht, wäre tatsächlich alles nur Rauschen.

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Freitag, 13. April 2012

Friedrich Kittler, Grammophon. Film. Typewriter, Berlin 1986

1. Günther Anders und Friedrich Kittler
2. Zur Differenz von Rauschen und Resonanz
3. Digitalisierung und Negativität
4. Rückkopplung, Reflexbogen und Rekursivität
5. Spurensicherung im Realen
6. Spiegel, Phantome und Leichen
7. ‚Diskretion‘ und Seele
8. Das Unbewußte

Kittler reduziert das Imaginäre auf das Spiegelstadium und koppelt es so vom Bewußtsein ab. Zugleich setzt er die mit dem Spiegelstadium einhergehenden Selbsttäuschungen mit der Seele als „psychischem Apparat“ gleich: „Aber Medien sind gnadenlos, wo Kunst beschönigte. ... Verfilmungen zerstückeln das imaginäre Körperbild, das Menschen (im Unterschied zu Tieren) mit einem geborgten Ich ausstaffiert hat und deshalb ihre große Liebe bleibt. Gerade weil die Kamera als perfekter Spiegel arbeitet, liquidiert sie, was im psychischen Apparat einer La Marr an Selbstbildnissen gespeichert war.“ (1986, S.225)

Alles, was Damasio zufolge als „erweitertes Bewußtsein“ über diese imaginären Mechanismen hinausreicht (Damasio: 8/2009 (1999), S.267f., 278), bildet nur Projektionen dieser Mechanismen: „Traumgesichte vom Menschen, ob sie nun durch meteorologischen Schnee oder das gleichnamige Pulver entstehen, sind Inszenierungen des Spiegelstadiums und damit von vornherein Kino.()“ (1986, S.256) – Subjektivität und „Autorschaft“ sind nur lyrische Emanationen eines „altmodische(n) Spiegelstadium(s)“: „Man ‚stellt sich vor den Spiegel und deklamiert den Vers und bewundert sich‘.“ (1986, S.267)

An die Stelle von Romanen und Gedichten tritt die „Psychotechnik“ als „Versuchsanordnung“ (vgl. 1986, S.238). ‚Diskretion‘ wird durch ‚diskrete‘ Maschinen ersetzt, die die Liebe, über die die Texte vorgeblich noch handeln, „zerhacken“ und aus ihnen „herausfiltern“ (vgl. 1986, S.268): „Der kontinuierlich-kohärente Tintenfluß, dieses materielle Substrat aller bürgerlichen In-dividuen oder Unteilbarkeiten, machte sie (Kontoristen, Bürodiener, Dichtergehilfen des 19.Jhdts. – DZ) blind vor einer historischen Chance. Schrift als Anschlag, Rückung, Automatik diskreter Blockbuchstaben setzte ein ganzes Schulsystem außer Kraft.“ (1986, S.287)

Schreiben ist nicht länger expressiv. ‚Diskretieren‘ bedeutet nicht ‚artikulieren‘. Die Seele wird zum bloßen Oberflächenphänomen, das von Leinwänden und Monitoren flimmert, aber kein Inneres mehr zum Ausdruck bringt: „Schreiben“, wie Kittler mit Bezug auf Nietzsches Schreibmaschine, Modell „Malling Hansen“, konstatiert, „ist also keine natürliche Ausweitung des Menschen mehr, der durch Handschrift seine Stimme, Seele, Individualität zur Welt bringen würde.“ (1986, S.305)

An dieser Bedeutungsambivalenz des ‚Diskreten‘ wird erschreckend deutlich, wie sehr Kittler das Seelische verstümmelt und der Folterung der Blicke preisgibt. ‚Diskret‘ sind bei Kittler Körper zerstückelnde Folterinstrumente (vgl. 1986, S.28) und Kugeln abfeuernde Schußwaffen (vgl. 1986, S.283), weil sie entweder kontinuierliche Erlebnisabläufe in unterbrochene Phasen ‚zergliedern‘ oder selbst ‚gegliederte‘, ‚unterbrochene‘ Zeitverläufe darstellen. Die noch verbliebene seelische Funktion des psychischen Apparates besteht dann lediglich darin, im Imaginären die zerhackten Stücke als „Phantasmen“ (1986, S.182f., 328 u.ö.) wieder zusammen zu „halluzinieren“ (vgl. S.20f., 27, 60f., 108f., 245 u.ö.).

In dieser Bedeutungsdimension des ‚Diskreten‘ ist kein Platz mehr für ‚Diskretion‘, als einem Bedürfnis der Seele, deren Ambivalenz im Zurückschrecken vor der Entblößung besteht, nach der sie insgeheim doch verlangt. Sich zugleich zeigen zu wollen und doch vor dem sich Zeigen zurückzuschrecken ist das Wesen ihrer Expressivität. Vollständige Sichtbarkeit wäre ihr augenblicklicher Tod. Plessner bezeichnet die Seele in „Die Grenzen der Gemeinschaft“ als „Weisheit des Verborgenen“ (vgl. Grenzen, S.16) und als „Schlaf der Welt“ (vgl. Grenzen, S.31). (Vgl. auch meinen Post vom 14.11.2010) Deshalb ist die Seele Plessner zufolge ein „Noli me tangere“ (Grenzen, S.65).

Günther Anders spricht von der „Scham“, die wir vor den Blicken der Anderen empfinden. Diese Scham kann so empfindlich sein, daß wir uns sogar vor toten Gegenständen schämen, z.B. vor technischen Apparaten, an deren Perfektion wir mit unseren unvollkommenen biologischen Körpern nicht heranreichen. (Vgl. Anders: 1956, S.21-95 (vgl. auch meinen Post vom 23.01.2011))

‚Scham‘ aber ist kein Wort mehr, das bei Kittler noch vorkommt, der sich dem „Versuch“, die „Seele oder den Menschen“ auch nur per definitionem zu berücksichtigen, „systematisch verweigert“. (Vgl. 1999/2011, S.34) Er spricht eben lieber von „psychischen Apparaten“ und verzichtet damit – wie Plessner in einem anderen Zusammenhang anmerkt – leichtfertig auf den Sinngehalt von Begriffen wie ‚Seele‘ und ‚Geist‘, an deren Bedeutungsreichtum zweieinhalb Jahrtausende der Antike und des Christentums mitgearbeitet haben. (Vgl. Lachen/Weinen, S.24 und meinen Post vom 31.12.2010) Angesichts des Computers als „universaler diskreter Maschine“ (S.356f., 362 u.ö.) gerät schließlich vollends in Vergessenheit, was mit ‚Diskretion‘ einmal gemeint gewesen war. Dem „neurologischen Datenfluß“ (1986, S.240) stehen keine seelischen Hindernisse mehr im Wege.

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Donnerstag, 12. April 2012

Friedrich Kittler, Grammophon. Film. Typewriter, Berlin 1986

1. Günther Anders und Friedrich Kittler
2. Zur Differenz von Rauschen und Resonanz
3. Digitalisierung und Negativität
4. Rückkopplung, Reflexbogen und Rekursivität
5. Spurensicherung im Realen
6. Spiegel, Phantome und Leichen
7. ‚Diskretion‘ und Seele
8. Das Unbewußte

Zwar spielen „Leichen“ und „Kadaver“ bei Kittler eine große Rolle, vor allem aber, um die Nähe der Medientechnologien zu den Kriegstechnologien des 19. und 20. Jhdts. aufzuzeigen, also zum amerikanischen Bürgerkrieg und zum Ersten und Zweiten Weltkrieg: „Speichertechnik, 1914 bis 1918, hieß festgefahrener Stellungskrieg in den Schützengräben von Flandern bis Gallipoli. Übertragungstechnik mit UKW-Panzerfunkt und Radarbildern, dieser militärischen Parallelentwicklung zum Fersehen,() hieß Totalmobilmachung, Motorisierung und Blitzkrieg vom Weichselbogen 1939 bis Corregidor 1945. Das größte Computerprogramm aller Zeiten schließlich, dieser Zusammenfall von Testlauf und Ernstfall, heißt bekanntlich Strategic Defense Iniitiative. Speichern/Übertragen/Berechnen oder Graben/Blitz/Sterne. Weltkriege von 1 bis n.“ (1986, S.352)

Der Beitrag des amerikanischen Bürgerkriegs ist der Trommelrevolver, der in ‚diskreten‘ Schritten Kugeln abzufeuern vermag wie eine Kamera (vgl. 1986, S.190) Einzelbilder in Serie oder eine Schreibmaschine Blockbuchstaben, die dann sinnigerweise auch von Waffenfabriken produziert wurde (vgl. 1986, S.282): „Die Schreibmaschine wurde zum Diskursmaschinengewehr. Was nicht umsonst Anschlag heißt, läuft in automatisierten und diskreten Schritten wie die Munitionszufuhr beim Revolver und MG oder der Zelluloidtransport beim Film.“ (1986, S.283)

So sehr also Leichenberge den Weg der Kriegs- und Mediengeschichte säumen, ist es doch nicht das nekrophile Interesse an diesen selbst, das Kittlers Medienanalysen trägt. Vielmehr berührt sich seine Faszination mit dem Ekel und der Scham eines Günther Anders, wenn er sich vor allem den Phänomenen der Serie (vgl. S.259f.), insbesondere den „seriellen Unmenschen“ (1986, S.190) zuwendet. Anders beschreibt sie als Phantome (vgl. meinen Post vom 23.01.2011), Kittler spricht von „Doppelgängerphantomen“ (1986, S.87), von „Gespenstern“ (1986, S.20f., 198) oder auch von „Golems“ (S.246f., 251, 354). Beiden, Kittler wie Anders, geht es darum, daß die Medien die ‚Körper‘ der Menschen verwandeln. (Vgl. insbesondere Kittler: 1986, S.195, 201, 206, 209-212, 225f., 238, 273ff., 277, 314) Anders beschreibt ein angehendes Photomodell, das ihrem Körper mit allen ihr zur Verfügung stehenden „Selbstverwandlungstechniken“ ein film- und fernsehgerechtes Erscheinungsbild gibt. (Vgl. Anders: 1956, S.275; vgl. hierzu auch meinen Post zu Sloterdijk vom 30.09.2011, an den Andersens Rede von den Selbstverwandlungstechniken erinnert.)

Bei den „neuen Körpern“ handelt es sich also um Cyborgs, obwohl der organische Bestandteil in diesen Hybridbildungen als verzichtbar erscheint: „Wenn noch die Stochastik des Realen Verzifferungen und d.h. Algorithmisierungen erlaubt, gilt Turings lapidare Feststellung, ‚daß es wenig sinnvoll wäre, eine ‚denkende Maschine‘ dadurch menschlicher gestalten zu wollen, daß man sie mit künstlichem Fleisch umgibt.‘() In medientechnischen Gründertagen dagegen lief alles auf Kopplungen zwischen Fleisch und Maschine hinaus.“ (1986, S.115) – Bei den ‚Leichenbergen‘ der Kriegs- und Filmindustrie handelt es sich also im mehrfachen Sinne um Metaphern. Nicht nur daß Film und Rundfunk die Menschen in serielle Untote, in Phantome verwandeln, – im Zuge der damit einhergehenden Mechanisierung der Körper werden diese selbst in dem Moment überflüssig, wo digitale Medien in der Lage sind, direkt auf das Reale in Form des Rauschens – ohne Umweg über den Körper – zuzugreifen.

Die neuen Körper sind also durchweg Gespenstererscheinungen. Als solche treten sie an die Stelle der traditionellen Seele. Schon die Psychoanalyse verwandelte die Seele in einen psychischen ‚Apparat‘. (1986, S.138, 198, 225, 238) Kittler hält von ihren Funktionen nur noch den Spiegelungsmechanismus fest, weil er in diesem das eigentliche Funktionsprinzip der von den Medien geformten neuen Körper sieht. Dieser Spiegelungsmechanismus beginnt als psychischer Apparat mit dem Spiegelstadium (vgl. 1986, S.226, 256, 267), an dem Psychologen wie am Interspeciesvergleich interessierte Verhaltensforscher den Beginn der menschlichen Bewußtseinsentwicklung festmachen. Kittler ist allerdings weniger an dieser Bewußtseinsentwicklung interessiert, als vielmehr an dem Imaginären, also an den in seinem Sinne unterbewußten Identifikationsmechanismen, die die in den Filmen agierenden Doppelgängerphantome – Computerspieler würden von Avataren sprechen – bei Zuschauern (Kino, Fernsehen) und Spielern (Computer) auslösen.

Entsprechende Reaktionen, wenn man erstmals seine Stimme vom Band hört oder sich selbst erstmals in einem Video sieht, kennen wir alle von uns selbst, und Kittler beschreibt sie beispielhaft an Rilke, der im 19. Jhdt. erstmals seine Stimme aus einem Phonographen, in den er hineingesprochen hatte, antworten hörte: „‚Sprach oder sang jemand in den Schalltrichter hinein, so betrug der in dem Pergamente steckende Stift die Tonwellen auf die empfängliche Oberfläche der langsam an ihm vorbei gedrehten Rolle, und ließ man gleich darauf den eifrigen Zeiger seinen eigenen (inzwischen durch einen Firnis bedeckten) Weg wieder verfolgen, so zitterte, schwankte aus der papierenen Tüte der eben noch unsrige Klang, unsicher zwar, unbeschreiblich leise und zaghaft und stellenweise versagend, auf uns zurück. Die Wirkung war jedesmal die vollkommenste. Unsere Klasse gehörte nicht eben zu den ruhigsten, und es möchten nicht viele Augenblicke gewesen sein, da sie, gemeinsam, einen ähnlichen Grad von Stille zu erreichen fähig war.‘“ (1986, S.63f.)

Im Alter zwischen einem halben und anderthalb Jahren mag es einem Kleinkind, das sich erstmals in einem Spiegel wiedererkennt, ähnlich ergehen wie Rilke mit dem Phonographen. Interessanterweise ist das eine durchaus ambivalente Situation. Ich selbst höre meine eigene Stimme überhaupt nicht gerne, und Videoaufzeichnungen von meiner Person sehe ich mir gar nicht gerne an: ich mag meinen Doppelgänger nicht hören und nicht sehen. Von vielen Schauspielern weiß man, daß es ihnen ähnlich ergeht. Andererseits gibt es aber viele Schauspieler und ‚Personen des öffentlichen Interesses‘, die gar nicht genug davon bekommen können. Man denke auch an das verbreitete Interesse an Reality-Shows und Superstarformaten für jedermann, insbesondere für Teenies. Dieses gleichzeitig Anziehende und Abschreckende der Doppelgängerphantome sagt viel über den Zustand unserer Seele aus, der eben nicht einfach nur ein psychotechnischer Apparat ist. Aber dazu mehr im nächsten Post.

Kittler ist sehr an diesem Spiegelstadium interessiert, nicht etwa – wie schon erwähnt – weil er an der menschlichen Bewußtseinsentwicklung interessiert ist, sondern weil er im Spiegelstadium den Bewußtseinszustand erkennt, auf dem sich der serielle Unmensch häuslich eingerichtet hat und über den er sich nicht mehr rekursiv erheben will. Psychologisch gesehen verharrt der medienförmige ‚Mensch‘ also auf der Entwicklungsstufe eines anderthalbjährigen Kleinkindes. Kittler vergleicht ihn auch gerne mit einem Golem: „Alle historischen Attribute eines Subjekts, das um 1800 seine Unhintergehbarkeit unterm Titel Dichtung feierte, werden seit 1900 ersetzbar oder hintergehbar durch Golems, diese geschalteten Subjekte.“ (1986, S.246f.)

Der „Golem“ wird für Kittler zur Metapher für eine Maschine, in der das „physiologisch zerlegte“ „Zentralnervensystem“ „physikalisch“ nachgebaut wurde. (Vgl. 1986, S.251) Die Brauchbarkeit dieser Metapher leuchtet einerseits ein, hat aber andererseits ihre von Kittler unbemerkt bleibenden Tücken. Auch die Golems aus der Literatur sind zwar maschinenähnliche Konstruktionen, die in ihrer äußerlichen Form den Menschen widerspiegeln und die wie unsere Computer programmiert werden können. Ähnlich wie man in den vierziger und fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts Computer mit Lochstreifen ‚gefüttert‘ hatte, werden in die Köpfe der Tongestalten beschriebene Papierfetzen gelegt, die sie steuern. Diese Papierfetzen bilden also eine Art digitales Programm.

Nur daß es sich aber eben nicht um digitale Programme handelt, sondern um geschriebene Worte, also um Satzstrukturen, die, wie Anders festhält, aus ‚S‘ und ‚p‘ bestehen, aus Subjekt und Prädikat. In „Hohle Köpfe“ von Terry Pratchett können solche Sätze aus allen möglichen Zusammenhängen ‚geklaut‘ werden, z.B. aus heiligen Schriften; oder sie können einfach nur aus Quittungen bestehen, in denen nach einem Kauf der Eigentümer eines Golems wechselt. Diese altmodischen, ‚analogen‘ Sätze hauchen den Golems ‚Sinn‘ ein. Sie beginnen, die Aufträge, die ihnen die Papierfetzen in ihren Köpfen geben, auszuführen. Und ein Golem, der mit der Quittung, beginnt zu denken. Denn die Quittung, die in seinem Kopf liegt, macht ihn zum Eigentümer seiner selbst.

Kittler übersieht bei seinen Golemvergleichen nämlich, daß es sich bei diesen Sätzen nicht um die rekursiven Funktionen digitaler Algorithmen handelt, sondern eben um ‚S‘/‚p‘-Strukturen. Damit sind die Golems eben keine Spiegelphantome mehr, sondern sie haben Perspektive. Aus einer körperlosen, zweidimensionalen Welt treten sie ein in eine Welt, die exzentrische Positionalität ermöglicht.

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Mittwoch, 11. April 2012

Friedrich Kittler, Grammophon. Film. Typewriter, Berlin 1986

1. Günther Anders und Friedrich Kittler
2. Zur Differenz von Rauschen und Resonanz
3. Digitalisierung und Negativität
4. Rückkopplung, Reflexbogen und Rekursivität
5. Spurensicherung im Realen
6. Spiegel, Phantome und Leichen
7. ‚Diskretion‘ und Seele
8. Das Unbewußte

Als „Spurensicherung“ bezeichnet Kittler das vor allem an die Kriminalistik und an die Psychoanalyse erinnernde Verfahren, anhand von unbeabsichtigten Spuren bzw. Äußerungen (Versprecher) einen noch unbekannten ‚Täter‘ dingfest zu machen. Anders als die Täter der Kriminalistik, bei denen es sich immerhin noch um Rechts-Subjekte im vormedialen Sinne handelt, geht es aber Kittler eher um das, was von ihren ‚Taten‘ übrig bleibt, wie z.B. „Leichen“ bzw. „Kadaver“ (1986, S.115), um jenen „Abfall“, den das Reale selbst bildet (vgl. 1986, S.28). Geht es bei Freud bei der Spurensicherung zumindest nicht nur um das Unterbewußte, sondern immer auch um eine Stärkung des Ichs, so interessiert Kittler nur noch das Echo des Rauschens, das in allen Lebensäußerungen des Menschen mitschwingt: „Mit den technischen Medien, kommt eben ein Wissen zur Macht, das nicht mehr mit dem individuellen Allgemeinen seiner Untertanen, mit ihren Selbstbildern und Selbstbeschreibungen zufrieden ist, sondern anstelle solch imaginärer Formationen die unfälschbaren Einzelheiten registriert. ... Imaginäre Körperbilder, wie die Individuen selber sie hegten, konnte auch das Buch speichern und übermitteln. Unbewußt verräterische Zeichen wie Fingerabdrücke, Tonfälle, Schuhspuren usw. dagegen fallen in die Zuständigkeit von Medien, ohne die sie weder zu archivieren noch auszuwerten wären.“ (1986, S.131)

„Unfälschbare Einzelheiten“, „verräterische Zeichen wie Fingerabdrücke“ sind Eigenschaften einer Realität, die immer umfassender ist und mehr enthält, als unsere stets nur Stückwerk bleibenden Wahrnehmungen und Erinnerungen registrieren und speichern könnten. Als Teil dieser Realität schlägt unsere Anwesenheit immer schon tiefere Wurzeln, als wir uns jemals bewußt machen könnten. Wir können unsere Anwesenheit am Tatort der Realität nicht kontrollieren und hinterlassen deshalb Spuren. Nur Medien wie Ton- und Bildspeicher können unsere äußere, physische Präsenz vollständig dokumentieren; nur der bewußten Kontrolle entzogene Schreibmaschinen – oder eben von jeder persönlichen Zuwendung befreite Psychoanalytiker  – können die innere Realität des „psychischen Apparates“ (1986, S.139, 225, 238  u.ö.) einfangen und sichtbar machen. Und nur „Maschinengedächtnisse“ (1986, S.305), die an Mayer-Schönbergers digitales Gedächtnis erinnern (vgl. meine Posts vom 29.04.2011 bis zum 02.05.2011), können „‚den ganzen Bestand unserer physikalischen Kenntnisse mit Hilfe von selbstaufzeichnenden Apparaten und sonstigen automatischen Vorrichtungen in Form eines physikalischen Automaten-Museums sachlich nieder()legen‘.“ (1986, S.122)

Damit haben wir den Umfang des „Realen“, wie Kittler mit Lacan dieses alles umfassende ‚All‘ der Realität benennt, abgesteckt. (1986, S.27) Und dieses ‚Alles‘ besteht natürlich nicht in einem wohlgeordneten Kosmos, in einem Welt-All, in dem das Wort ‚Welt‘ noch an ein Bewußtsein erinnert, das seine Welt in Vordergründe und Hintergründe perspektivisch zu staffeln vermag. Dieses ‚All‘ des Realen, das Kittler meint, kann nur noch ‚rauschen‘, das als solches Rauschen aber der Messung in Metern und Sekunden zugänglich bleibt (vgl. 1986, S.111), von dem sich dann wieder Signale abheben lassen (vgl. S.71f., 180f.)), als emergierten sie dem Rauschen ungefiltert „in einer meßbaren Zeit ohne Menschen“ (1986, S.252), ohne Zutat eines Über-Ichs oder auch nur irgendeines sich seiner selbst bewußten Bewußtseins.

Vom „Realen“ unterscheidet Kittler, ebenfalls mit Lacan, das „Symbolische“, das wie ein „Gitter“ (vgl. 1986, S.28, 114, 138, 268) oder wie ein „Filter“ nur die Momente des Realen dem Bewußtsein zugänglich macht, die Sinn machen und bedeutungsvoll sind. Das Symbolische par excellénce ist deshalb die Schrift, die in Form von „Literatur“ oder „Geschichtsschreibung“ dem Realen und seinen Ereignissen, die an uns vorbei-‚rauschen‘, immer nur hinterherlaufen kann, ohne es je vollständig einfangen und erfassen zu können: „‚Literatur‘, schrieb Goethe, ‚ist das Fragment der Fragmente; das Wenigste dessen, was geschah und gesprochen worden, ward geschrieben, vom Geschriebenen ist das Wenigste übrig geblieben.‘()“ (1986, S.13; vgl. auch S.120)

Um im notwendig Fragmentarischen der Literatur die Bruchstücke und ‚Torsoi‘ des Realen dennoch in ein kontinuierliches Geschehen einzubetten, um also alle die unvollständig bleibenden Daten im Text zu ergänzen und als ungehemmten neuronalen Datenfluß (vgl. 1986, S.12, 18, 44, 166, 241 u.ö.) zu imaginieren, um also Bücher zum „Surrogat unspeicherbarer Datenflüsse“ (S.19) werden zu lassen, – bedarf es des „Imaginären“ (1986, S.28), das Kittler mit Lacan als Drittes zur Dreiheit des Realen, Symbolischen und Imaginären hinzufügt.  Das Imaginäre erstreckt sich zwischen zwei gegensätzlichen Polen, dem Unbewußten und dem Bewußtsein. Zugleich verbindet es diese Pole. Als Unbewußtes fügt es das Zusammenhanglose zusammen. Es überspringt die Brüche und Schnittstellen, die in Millisekunden die Einzelbilder einer Filmspule voneinander trennen; es bettet einige wenige Wörter eines Textes in einen Handlungszusammenhang oder in einen Gedankengang ein und ‚kümmert‘ sich nicht weiter um die zahlreichen Auslassungen des Autors, – geschweige denn daß wir diese überhaupt bemerken. Und wenn unsere Imagination dabei doch ins Stolpern kommt, so eilt ihr das Bewußtsein zu Hilfe, denn jetzt gibt uns der Text etwas zu ‚denken‘ und wir werden möglicherweise auf eine neue Sinnebene gehoben.

Soweit aber geht Kittler eben nicht. Neue Sinnebenen zieht er nicht in Betracht. Das Imaginäre, das zwischen unbewußten und bewußten ‚Leseakten‘ – ob es sich dabei nun um Ton-, Bild- oder Schriftmedien handelt – vermittelt, soll nur dem Rauschen dienen, am „Engpaß des Symbolischen“ (1986, S.12) und damit auch am Bewußtsein vorbei. Denn die Schrift, wenn sie nicht durch den Zerhackungsprozeß der Schreibmaschinentastaturen hindurchgegangen und ‚automatisch‘ geworden ist, erscheint Kittler nur als defizitär, eben nur als Fragment und deshalb dem Rauschen nicht ebenbürtig: „Als Surrogat unspeicherbarer Datenflüsse erlangten Bücher Macht und Ruhm.()“ (1986, S.19) – Und: „Mit dem Phonographen verfügt die Wissenschaft erstmals über einen Apparat, der Geräusche ohne Ansehung sogenannter Bedeutungen speichern kann. Schriftliche Protokolle waren immer unabsichtliche Selektionen auf Sinn hin.“ (1986, S.133)

‚Sinn‘ ist für Kittler kein Qualitätsmerkmal mehr. ‚Sinn‘ ist immer schon des Betrugs und der „Zensur“ (1986, S.138, 166) verdächtig. Mit den des Rauschens mächtigen Medien beginnt nun eine Epoche, die sich gegen diese Zensur des Sinnhaften und Bedeutungsvollen wendet und „Unsinn von Sinn wie Weizen von Spreu“ scheidet, „und nicht umgekehrt“, wie Kittler nicht anzumerken vergißt (vgl. 1986, S.163): „Durch Mechanisierung wird das Gedächtnis den Leuten abgenommen und ein Wortsalat gestattet, der unter Bedingungen des Schriftmonopols gar nicht laut werden konnte. ... Die Epoche des Unsinns, unsere Epoche, kann beginnen. Dieser Unsinn ist immer schon das Unbewußte.“ (1986, S.134)

Die Epoche des Unsinns ist also eine Epoche des Realen, das an der Abschaffung der unvollkommenen Schrift, insbesondere der „Handschrift“ (vgl. 1986, S.145, 279, 305 u.ö.) und ihres ihr zugehörigen Bewußtseins arbeitet. Auffällig ist dabei, wie sehr Kittler darum bemüht ist, immer wieder das Defizit der Literatur als unvollständige Geschichtsschreibung und der Geschichtsschreibung als unvollständige Protokollschrift des Realen hervorzuheben, und wie er die erstaunliche Fähigkeit des Bewußtseins, mit Hilfe der Schrift Phantasieräume zu erschaffen, deren Tiefenschärfe und Farbigkeit mit jeder Literaturverfilmung in 3-D und Dolby-Surround mithalten kann, nur als „Surrogat“ zu kommentieren vermag. Deshalb möchte ich hier an den Schluß dieses Posts eine Stelle aus Jasper Ffordes „Es ist was faul“ zitieren, in der eine fiktionale Figur in der „Außenwelt“ unterwegs ist und das Vorbei-Rauschen der realen Außenweltlandschaft während einer Autofahrt kommentiert:

„’s ist eigenartig!“, murmelte er und starrte abwechselnd die Sonne, die Bäume, die Häuser und den Verkehr an. „Man brauchte eine Rhapsodie von wirblicht wilden Worten, um all das zu beschreiben, was ich hier erblicke!“
    „Sie werden Englisch reden müssen, da draußen.“
    „All dies“, erklärte Hamlet und wedelte mit der Hand in Richtung der unscheinbaren Vororte, „bedürfte etlicher Millionen Worte, um richtig wiedergegeben zu werden.“
    „Sie haben recht“, sagte ich. „Aber das ist ja gerade der Charme der literarischen ÜbertragungsTechnologie. Ein halbes Dutzend Wörter genügt, um ein Bild heraufzubeschwören. Wenn man ehrlich ist, muss man zugeben, dass der Leser die Arbeit fast gänzlich allein macht.“
    „Der Leser? Was hat denn der damit zu tun?“
    „Nun, jede Interpretation eines Ereignisses, eines Schauplatzes oder einer Figur in der BuchWelt hängt von den Erfahrungen ab, die der Leser an die Beschreibung derselben heranträgt. Sie ist in jedem Fall einzigartig und unverwechselbar, denn der Leser oder die Leserin bekleiden diese Beschreibung mit der Erinnerung an das, was sie selbst schon erlebt haben. Jede Figur, die ihnen in der Literatur begegnet, wird so zu einer Mischung aus Personen, die sie aus der Wirklichkeit oder aus anderen Werken schon kennen. Erst dadurch gewinnen sie ihre Realität. Die bloßen Buchstaben auf der Seite allein könnten das gar nicht leisten. Und weil jeder Leser unterschiedliche Erfahrungen hat, ist jedes Buch einzigartig für jeden Leser.“
(Fforde, S.29f.)

Jede Interpretation eines fiktionalen Ereignisses, schreibt Fforde, hängt von den Erfahrungen der Leser ab, jedes Buch ist einzigartig für jeden Leser, – Günther Anders würde sagen: zum jedem ‚S‘ gehört ein ‚p‘! (Vgl. meinen Post vom 08.04.2012)

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Montag, 9. April 2012

Friedrich Kittler, Grammophon. Film. Typewriter, Berlin 1986

1. Günther Anders und Friedrich Kittler
2. Zur Differenz von Rauschen und Resonanz
3. Digitalisierung und Negativität
4. Rückkopplung, Reflexbogen und Rekursivität
5. Spurensicherung im Realen
6. Spiegel, Phantome und Leichen
7. ‚Diskretion‘ und Seele
8. Das Unbewußte

Das Funktionsprinzip, das nach Kittler allen „künstlichen Intelligenzen“ (1986, S.352), vom „Mikroprozessor bis zur EDV-Großanlage“ (1986, S.353) zugrundeliegt, besteht in der Vereinigung der „drei Grundfunktionen Speichern/Übertragen/Berechnen“ (1986, S.353). Bei den analogen Speichermedien wird es durch „Rückkopplung“ ermöglicht. Dabei denkt Kittler weniger an das außer Kontrolle geratene Pfeifen von Verstärkeranlagen als an die Fähigkeit von Tonmedien, Geräusche nicht nur aufzunehmen (speichern), sondern auch wiederzugeben, was bei Kittler –  als „(u)nausdenkliche Nähe zwischen Soundtechnologie und Selbstaffektion“ (1986, S.60) – das maschinelle Analogon zum menschlichen Hören und Sprechen bildet.

Der Rückkopplung bei den Tonmedien entspricht der Nachbildeffekt bei Filmmedien, der dazu beiträgt, daß das kurze Aufblitzen der 24 Bilder pro Sekunde im Betrachter die Illusion eines kontinuierlichen Bewegungsablaufs erzeugt: „Die Kinobesucher, nach einer glänzenden Formulierung Edgar Morins, ‚reagieren auf die Leinwand wie auf eine mit dem Gehirn fernverbundene, nach außen gestülpte Netzhaut.‘() Und jedes Bild hat Nachbildwirkung.“ (1986, S.186) – Die Kittlersche ‚Rückkopplung‘ bildet also als Speichern und Wiedergeben von Geräuschen nicht nur eine maschinelle Analogie zur menschlichen Selbstaffektion durch die eigene Stimme, sondern sie besteht auch in einer direkten Verkopplung von Leinwand und „Netzhaut“ unter Umgehung des Bewußtseins.

Der Rückkopplung bei den Tonmedien und dem Nachbildeffekt bei den Filmmedien entspricht bei den Schreibmedien die Verbindung von Schreiben und Publizieren: „McLuhans Gesetz, daß die Schreibmaschine ‚eine ganz neue Einstellung dem geschriebenen oder gedruckten Wort gegenüber‘ stiftet, weil sie ‚das dichterische Schaffen und die Veröffentlichung verbindet‘,(), wurde erstmals Ereignis.“ (1986, S.295) – Hier werden nicht nur die handwerklichen Fähigkeiten des Setzers und Druckers tendenziell überflüssig, bis sie durch den Personalcomputer (und das Internet) vollständig aus dem Produktionsprozeß ausgeschlossen werden. Darüberhinaus wird auch hier, bei der Schreibmaschine, schon das kontrollierende Bewußtsein des Autors aus dem Schreibprozeß punktuell ausgeschaltet: „Auch bei Underwood-Modellen ist ... ‚die Stelle, an der das gerade jeweils zu schreibende Schriftzeichen entsteht‘, das einzige, was nicht gesehen werden kann‘.() Der Schreibakt hört auf, nach Hundertstelsekunden zum Leseakt und damit von Gnaden eines Subjekts zu werden. An blinden Maschinen lernen Leute, ob blind oder nicht, eine historisch neue Geschicklichkeit: die Ècriture automatique.“ (1986, S.298)

Alle diese Rückkopplungseffekte führen also dazu, das Bewußtsein aus den drei Grundfunktionen von Speichern, Übertragen und Berechnen auszuschließen, wobei ich mir bei der Übertragungsfunktion nicht ganz sicher bin, inwiefern Kittler damit nicht nur die technische Infrastruktur von Kabel, Funk und Interface meint, sondern auch an die intermaschinelle und zwischenmenschliche Kommunikation denkt.

Weitere Rückkopplungsphänomene findet Kittler in der menschlichen Neurophysiologie selbst, und hier erweist er sich als Behaviorist reinsten Wassers. Denn Rückkopplung bezogen auf den Menschen ist nichts anderes als der vom Bewußtsein ungebrochene Reflexbogen (vgl. 1986, S.314). Wie Kittler mit Bezug auf den Film und dessen Wirkungen auf die menschliche Netzhaut schreibt: „Zum erstenmal in der Kunstweltgeschichte implementiert ein Medium den neurologischen Datenfluß selber. Während Künste Ordnungen des Symbolischen oder Ordnungen der Dinge verarbeitet haben, sendet der Film seinen Zuschauern deren eigenen Wahrnehmungsprozeß – und das in einer Präzision, die sonst nur dem Experiment zugänglich ist, also weder dem Bewußtsein noch der Sprache.“ (1986, S.240)

Mit anderen Worten: wo die traditionelle „Kunst“ noch mit dem Bewußtsein des künstlerisch gebildeten ‚Liebhabers‘ rechnet und ihm symbolisch etwas zu ‚denken‘ gibt, arbeiten die Ton- und Filmmedien mit den unterbewußten Reflexen der Zuhörer bzw. Zuschauer. Denkprozesse würden den Medienkonsum nur stören.

Zur Vollendung kommen die von Kittler auf allen Ebenen der Medientechnologien und der menschlichen Neurophysiologie dingfest gemachten Rückkopplungseffekte schließlich in den „rekursiven Funktionen“ (1986, S.360) von Computerprogrammen: „Wo rekursive, d.h. automatisierbare Funktionen die klassische Analysis ablösen, läuft Berechnung als Tretmühle: durch wiederholte Anwendung desselben Befehls auf die Serie der Zwischenergebnisse.“ (S.358f.) – Doch was einen hier als „Tretmühle“, in der „Gleichungen endlich ohne Intuition auf(gehen), weil jeder Einzelschritt beim Speichern, Übertragen und Berechnen bürokratisch genau stattfindet“, zunächst ähnlich mechanisch anmutet wie der Reflexbogen der menschlichen Neurophysiologie, eröffnet dem Computer, vom längst zur Selbstkontrolle unfähig gewordenen Menschen nicht länger gestört, eine selbstbestimmte Zukunft als „Maschinensubjekt“. (Vgl. 1986, S.373)

So tritt eine leere, durch Algorithmen bestimmte Rekursivität an die Stelle der inhaltlich bestimmten menschlichen Rekursivität, die Tomasello noch als unverzichtbare Voraussetzung menschlicher Intentionalität beschrieben hatte. (Vgl. meine Posts vom 25.04.2010 und vom 21.02.2012) ‚Leer‘ sind die Algorithmen vor allem aus einem Grund: die als JA-NEIN-Befehle ‚interpretierten‘ Ziffernfolgen können von den mit ihnen operierenden Algorithmen nicht auf Anwesenheit und  Abwesenheit, sondern nur auf Ausführen oder Nicht-Ausführen hin differenziert werden. Damit unterliegen sie der von Anders an den Nachrichtenmedien seiner Zeit geäußerten Kritik, daß sie den Informationscharakter ihrer Nachrichten unterschlagen. Sie suggerieren, daß sie das Ereignis selbst senden, und nicht nur ein augen- und ohrengerechtes Arrangement des Ereignisses. (1956, S.131, 153f.u.ö. (vgl. meinen Post vom 23.01.2011))

Anders zufolge verbergen Nachrichtensendungen ihre S/p-Struktur. Anstatt deutlich zu machen, daß sie nur bestimmte arrangierte Perspektiven auf die berichteten Ereignisse senden, suggerieren sie, daß es sich um das ‚S‘ selbst, also um das Ereignis selbst handelt. (Anders 1956, S.157) Um den Unterschied zwischen arrangierten Nachrichtensendungen und realen Ereignissen deutlich zu machen, greift Anders also auf Satzstrukturen zurück: auf ‚S‘ = Subjekt und auf ‚p‘ = Prädikat! Nur grammatisch vollständige Sätze, also die menschliche Sprache, haben diese S/p-Struktur! Nur vollständige Sätze zeigen also Anders zufolge in Form ihrer Grammatik an, daß wir es bei ihnen nur mit Informationen und nicht mit Realität zu tun haben. Wenn aber schon Nachrichtensendungen ihren S/p-Charakter verbergen, um wieviel mehr dann der digitale Zifferncode? Computer jedenfalls können mit vollständigen Worten und ihrer Grammatik nichts anfangen, bevor sie nicht in algorithmisierbare digitale Ziffernfolgen, aus denen jede Differenz zwischen anwesenden und abwesenden Gegenständen verschwunden ist, zerlegt worden sind.

Was Kittler hier also unterschlägt oder zumindestens versäumt, mitzudenken, ist, daß diese menschliche Rekursivität eine Fähigkeit beinhaltet, für die es keinen Algorithmus gibt. Denn was ist die S/p-Formel denn anderes als inhaltlich qualifizierte Rekursivität, – Tomasellos Grundbedingung für menschliche Intentionalität? Bei jedem ‚S‘, das uns widerfährt, fragen wir uns nach seinem ‚p‘: nach seinem ‚p‘ für uns und für andere wie uns. Wir unterziehen die ‚Informationen‘ also einer ständigen Bewertung, inwiefern sie für uns und für andere Sinn machen.

Rekursivität kann man vielleicht von einfacher Reflexivität dadurch unterscheiden, daß mit Reflexivität Bewußtseinsprozesse bezeichnet werden, in denen wir uns zum und vom Anderen abgrenzen, im Sinne einer Identitätsfindung. Rekursivität hingegen eröffnet einen Raum, der den Anderen und seine Bedürfnisse mit umfaßt, also statt einer Abgrenzung und Zurückwendung auf sich selbst ein Um-Gang bzw. Um-Lauf, der den Anderen einbezieht, statt ihn auszuschließen. In diesem Sinne eines „Ich in bezug auf einen Anderen wie Ich“ ähnelt die Rekursivität der Proflexion von Franz Fischer.

Weder über Rückkopplungen noch über Reflexbögen noch über rekursive Algorithmen läßt sich gemeinsame Aufmerksamkeit, wie sie Tomasello als Rekursivität am Ursprung der menschlichen Kommunikation verortet, programmieren. Wir können Rekursivität vielleicht von Maschinen simulieren lassen – wenn auch nur im begrenzten Rahmen ihrer Algorithmen – und damit vergessen machen, daß wir selbst es sind, die darüber verfügen. Wir können also vergessen, daß wir Menschen sind, so wie uns die Nachrichtensendungen bei Anders vergessen machen, daß es eine Welt jenseits der Kamera gibt. Und dieser Effekt ist nun wirklich bedenklich genug.

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Friedrich Kittler, Grammophon. Film. Typewriter, Berlin 1986

1. Günther Anders und Friedrich Kittler
2. Zur Differenz von Rauschen und Resonanz
3. Digitalisierung und Negativität
4. Rückkopplung, Reflexbogen und Rekursivität
5. Spurensicherung im Realen
6. Spiegel, Phantome und Leichen
7. ‚Diskretion‘ und Seele
8. Das Unbewußte

Im Zeitalter digitaler Universalmaschinen bekommt der Begriff der Analogie eine neue Bedeutung. Ursprünglich bezeichnet man mit Analogie ein sprachliches Stilmittel und logisches Werkzeug, das die Möglichkeit eröffnet, im Vermeiden wortwörtlicher Eindeutigkeiten neue Bedeutungsdimensionen zu erschließen. (Vgl. meine Posts zu Schrott/Jacobs, insbesondere vom 20.07.2011) Dieses ana-logische Verfahren, auf zwei verschiedenen Ebenen zu denken, indem man Realien und Begriffe aufeinander bezieht, dient nun selbst noch einmal als Analogie für das Verfahren, Schallwellen auf Schellack (mechanisch) und Lichtwellen auf Zelluloid (photochemisch) festzuhalten. Weder sind Schallwellen von derselben Materialität wie Schellack, noch sind Lichtwellen von derselben Materialität wie Zelluloid.

Bei der Schrift ist es mit der Analogiebeziehung nochmal etwas anders.  Der Materie auf der einen Seite, von Tontafeln bis Tinte auf Papier, entspricht auf der Seite der Worte keine Materie. Mit der Schrift werden geistige Phänomene auf materiellen Objekten festgehalten. Die Analogiebeziehung im Bereich der Schriftmedien wird also wesentlich durch Sinn bzw. Bedeutung bestimmt. Das ist anders als bei Ton- und Bildmedien: diese speichern die Schall- und Lichtwellen auch unabhängig von Sinn und Bedeutung einfach als ‚Rauschen‘. Bei Bildmedien ist das insofern nochmal etwas anders als bei Tonmedien, als Bilder sowohl von photochemischer Materialität als auch Kreationen aus Farbpigmenten auf Leinwand sein können. Im letzteren Falle ist wieder eine Sinndimension involviert, ohne die diese Farbpigmente nichts ‚speichern‘ würden als sich selbst.

Während also Ton- und Bildmedien – letztere vor allem aufgrund ihrer photochemischen Natur – auch unabhängig von Sinn und Bedeutung ihre analogische Funktion als Speichermedien ausfüllen können, löst sich ohne die essentielle Verbindung mit Sinn und Bedeutung der mediale Charakter der Schrift in Nichts auf, und wir haben es nur noch mit Tinte und Papier zu tun. Diese Besonderheit der Schrift wird von Kittler aber ignoriert: er stellt sie über die Schreibmaschine und deren technische Weiterentwicklung zur universalen diskreten Maschine, dem Computer, den anderen Speichermedien gleich, so daß auch im Bereich der Schrift auf digitaler Ebene denkbar wird – und laut Kittler sogar mehr als nur denkbar –, was bei den Analogmedien Schellack, Tonband, Zelluloid – ebenfalls Kittler zufolge – via Rückkopplung schon Realität geworden ist: die maschinelle Kombination von „Speichern/Übertragen/Berechnen“ (vgl. 1986, S.353); oder mit anderen Worten: Maschinen, die speichern, übertragen und lesen können, ohne daß sich ein menschliches Bewußtsein dazwischenschalten müßte.

Kittler benutzt den Analogiebegriff – in Anlehnung an Jean Marie Guyau (vgl. 1986, S.49-54) – in beiden Bedeutungen. Zum einen sprachlich, indem er ohne kritische Hemmung menschliche Sinnesorgane und Bewußtseinprozesse mit technischen und neurophysiologischen Korrelaten verknüpft; mit der schon erwähnten Begründung, so zu neuen Einsichten und Erkenntnissen beitragen zu können: „‚Der Analogieschluß hat in der Wissenschaft beträchtliche Bedeutung; ja vielleicht bildet die Analogie, sofern sie das Prinzip der Induktion ist, die Grundlage aller physischen und psychophysischen Wissenschaften. Sehr oft hat eine Entdeckung mit einer Metapher begonnen. Das Licht des Denkens kann kaum in eine neue Richtung fallen und dunkle Winkel ausleuchten, wenn bereits erhellte flächen es nicht zurückwerfen. Eindruck macht nur, was an etwas anderes erinnert, obwohl und weil es von ihm abweicht. Begreifen heißt, wenigstens teilsweise, sich erinnern. Beim Versuch, die psychischen Fähigkeiten oder besser Funktionen zu begreifen, wurden viele Vergleiche, viele Metaphern gebraucht. Hier, im noch unvollkommenen Zustand der Wissenschaft, ist die Metapher in der Tat von absoluter Notwendigkeit: Bevor wir wissen, müssen wir damit anfangen, uns etwas vorzustellen. So ist denn das menschliche Gehirn mit vielen verschiedenen Gegenständen verglichen worden.‘“ (1986, S.49)

Das hört sich ganz nach Blumenbergs Metaphorologie an (vgl. meinen Post vom 09.09.2011) oder nach Schrott/Jacobs. Allerdings fehlt der ‚Kühnheit‘ dieser Metaphorologie jede kritische Selbstbegrenzung. Nicht nur werden Gehör- und Sprechorgane des Menschen analogisch auf deren frühe phonographische und grammophon-technische Nachbildungen bezogen, auch Bewußtseinsprozesse werden als Gehirnprozesse in ihrer Funktionsweise mit akustischen Speichermedien verglichen: „... eine Hirnphysiologie, die seit Broca und Wernicke auch den Diskurs in lauter Subroutinen zerfällt und Sprechen, Hören, Schreiben, Lesen auf diverse lokalisierte Teilzentren im Großhirn verteilt, weil sie nur Zustände aufzeigbarer materieller Teile kennt, hat ihr Analogiemodell längst am Phonographen ...“ (1986, S.62) – So sollen Wahrnehmungsempfindungen in der Materie von Gehirnzellen „Linien“ ziehen, die denen von Schallplattenrillen gleichen. Diesen Linien folgen dann künftige Wahrnehmungsempfindungen in Form von „Nervenströmen“: „‚Wenn nach einiger Zeit der Strom auf eines dieser schon gemachten Betten stößt, das er schon durchlaufen hat, so schlägt er diesen Weg aufs neue ein. Dann schwingen die Zellen, wie sie ein erstesmal geschwungen haben, und dieser ähnlichen Schwingung entspricht psychologisch ein Gefühl oder Gedanke, die dem vergessenen Gefühl oder Gedanken analog sind.‘“ (1986, S.50f.)

Die Zellen ‚schwingen‘ also, als wären sie Schallwellen. Da fragt man allerdings unwillkürlich, in welchem Resonanzraum diese Zellen eigentlich schwingen? Wie weit soll diese Analogie eigentlich bedeutungsstifend sein? Wo hat sie ihre Grenzen? Bildet der Schädel vielleicht den Klangkörper, der die Gefühls- und Gedankenzellen schwingen läßt? – Zu welcher neuen ‚Erkenntnis‘ soll diese Analogie eigentlich führen?

Guyau zufolge – den Kittler hier ausführlich zitiert – leidet die beschriebene Analogie vor allem an einem Manko: „‚Der wesentliche Unterschied zwischen Gehirn und Phonograph ist, daß bei Edisons noch grober Maschine die Metallscheibe für sich selber taub bleibt ...‘“ (1986, S.53) – Perfekt ist die Phongraphen-Analogie zum Gehirn also in dem Moment, wo die Rückkopplung gelingt, wo sich also die Schallwellen selber speichern, übertragen und hören (bzw. lesen oder ‚rechnen‘). Diese perfekte Analogie erreichen aber nicht die Analogmedien selbst, sondern erst die „universale diskrete Maschine“ (1986, S.54, 356, 362 u.ö.). Die durchgehende Analogie von Maschine und Mensch wird also paradoxerweise erst verwirklicht, wo das gleichzeitige Speichern, Übertragen und Lesen bzw. Hören nicht mehr via Rückkopplung von analogen, sondern von digitalen Maschinen besorgt wird.

Insbesondere zwei Eigenschaften der digitalen Rechenmaschinen sind es, die sie Kittler zufolge dazu qualifizieren, das menschliche Bewußtsein zu ersetzen. Zum einen überführen sie die Zerlegung der kontinuierlichen Zeitwahrnehmung in den unterschwelligen Rhythmus von Schnitten (Ton und Film), Lichtblitzen (Film) und Schreibmaschinentastaturen in berechenbare Ziffernfolgen von Nullen und Einsen. Zum anderen werden diese Ziffern in Form von JA/NEIN-Befehlen in technologische Prozesse umgesetzt, die sich selbst kontrollieren (Kybernetik). Wie beim in der Genesis beschriebenen Schöpfungsakt, der aus dem Tohuwabohu „Tag und Nacht, Morgen und Abend, Sonne und Mond, Erde und Himmel, Land und Wasser“ hervorgehen ließ (vgl. 1986, S.361), also lauter binäre Oppositionen, entstehen aus dem Rauschen elektrischer Ströme mittels digitaler „Ja-Nein-Organe“ Algorithmen und Computerprogramme.

Setzt das digitale Prinzip also einerseits ein schon in den Analogmedien liegendes Prinzip des Schneidens, Blitzens (Stroboskopeffekt) und Zerhackens (Schreibmaschine) nur konsequenter um, als es die Analogmedien können, so führen die digitalen „JA-NEIN-Organe“ ein völlig neues Prinzip ein: „Das Tohuwabohu und, in seinem Gefolge, die Analogmedien durchlaufen alle möglichen Zustände, nur nicht das NEIN.() Computer sind keine Emanationen einer Natur. Sondern die Universale Diskrete Maschine mit ihren Möglichkeiten der Lösung, Negation und Opposition von Binärzeichen spricht immer schon die Sprache der oberen Führung.“ (1986, S.362) – Erst dieses NEIN führt zur Rekursivität (vgl. 1986, S.355, 358ff.), die über bloße Rückkopplung hinausgeht und es Computern ermöglicht, in Form von IF-THEN- bzw. WENN-DANN-Befehlen ihre eigenen Programme im Rechenprozeß zu lesen, zu manipulieren und potentiell über sie hinauszuwachsen: „Eine einzige Rückkopplungsschleife (als „Rückwirkung des Ergebnisses der Rechnung auf den Ablauf und die Gestaltung des Programms selbst“ – DZ) – und Informationsmaschinen laufen den Menschen, ihren sogenannten Erfindern davon. Computer selber werden Subjekte. FALLS eine vorprogrammierte Bedingung ausbleibt, läuft die Datenverarbeitung zwar nach den Konventionen numerierter Befehle weiter hoch. FALLS aber irgendwo ein Zwischenergebnis die Bedingung erfüllt, DANN bestimmt das Programm selber über die folgenden Befehle und d.h. seine Zukunft.“ (1986, S.372)

Konrad Zuse war vor diesen Unabsehbarkeiten noch zurückgeschreckt und machte hinsichtlich der Möglichkeit, Computer sich selber ‚rechnen‘ zu lassen, ethische Bedenken geltend, auf die Kittler zwar verweist, die er aber ansonsten unkommentiert läßt. (Vgl. 1986, S.372) Ich will an dieser Stelle die Möglichkeit von „Maschinensubjekten“ (1986, S.373) nicht ethisch beurteilen. Mir geht es vor allem um die unreflektierten und unkritischen Analogieschlüsse, die Kittlers Darstellungen durchgehend bestimmen. Von der seltsamen Vorstellung eines Gehirns als Phonograph über die Gleichsetzung der Speicherung von Schall- und Lichtwellen mit der ‚Speicherung‘ von Bewußtseinsprozessen wie Sinn und Bedeutung zunächst als Schreibmaschinentypen auf Papier und ihrer schließlichen ‚Umformung‘ in digitale Zifferfolgen bis hin zur Gleichsetzung der WENN-DANN-Struktur von Computerprogrammen mit menschlichen Handlungssubjekten führen Kittlers Analogieschlüsse zu einer nun wirklich ethisch bedenklichen Abwertung der menschlichen Expressivität. Hier beginnt das eigentliche ethische Problem, mit dem wir uns in diesen Posts zu Kittler auseinanderzusetzen haben.

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