„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 4. März 2012

Globalisierung und Lebenswelt

Ulrich Beck/Elisabeth Beck-Gernsheim, Fernliebe. Lebensformen im globalen Zeitalter, Berlin 2011

1.  Was beschreibt eine „diagnostische“ Theorie?
2. Der innerste körperliche Kern der Lebenswelt
3. Innen- und Außenhorizonte schieben sich ineinander
4. Kommunikation ohne ‚Grenzen‘
5. Neue (Alltags-)Medien

In den folgenden Posts soll es um die fundamentale begriffliche Antinomie von Globalisierung und Lebenswelt gehen. Globalisierung ist etwas, daß alle regionalen Grenzen überschreitet, während Lebenswelt etwas ist, das lokal begrenzt ist, so etwas wie ‚Heimat‘. Allerdings habe ich die Lebenswelt in diesem Blog immer als einen Bewußtseinsprozeß beschrieben, so daß sie eigentlich überhaupt keinen geographischen Bezug hat. Ihr eigentliches Kennzeichen ist, daß sie nur einen Innenhorizont hat, also einen Horizont, der sich mit der Ausdehnung des individuellen Bewußtseins deckt, den wir aber nicht bewußt fokussieren können. Die Lebenswelt fungiert im Hintergrund unserer Bewußtseinsprozesse.

Insofern haben Globalisierung und Lebenswelt sogar etwas Gemeinsames: indem die Globalisierung die lokalen Horizonte der Menschen zu einem Welthorizont verbindet, hat auch die Globalisierung keinen Außenhorizont mehr; weiter als die Welt läßt sich Globalisierung trotz aller Satelliten und Mond- und Marsprojekte nicht ausdehnen. Globalisierung ist zugleich ‚Kosmo‘-Politisierung, also ein Weltinnenhorizont, der auch den Kosmos umfaßt.

Wenn aber die Lebenswelt mit der Globalisierung zusammenfällt, was bedeutet das dann für diese Lebenswelt und damit für das menschliche Bewußtsein? Was bedeutet das dann vor allem für die Ontogenese des menschlichen Bewußtseins? Diese zentrale Frage möchte ich in den folgenden Posts anhand des von Elisabeth Beck-Gernsheim und Ulrich Beck (B./B.-G.) geschriebenen Buches „Fernliebe“ (2011) diskutieren. B./B.-G. beschreiben mit den Worten „Fernliebe“ und „Weltfamilie“ einen gesellschaftlichen Zustand, für den es noch keine ausgearbeitete Theorie gibt. Ihre Methode ähnelt deshalb einer medizinischen Diagnose, die versucht, anhand von Symptomen ein noch unbekanntes Krankheitsbild zu identifizieren, ohne daß dabei schon alle anamnetischen Zusammenhänge durchschaut wären und auch schon eine geeignete Therapie zur Verfügung stünde.

B./B.-G.s „diagnostische Theorie“ (B./B.-G., S.15f., 225, 246) liefert also keine Prognosen über den weiteren Verlauf des gegenwärtig beobachtbaren Weltprozesses. Begriffe wie „Fernliebe“ und „Weltfamilie“ stellen lediglich „Sammelbegriffe“ (B./B.-G., S.245) dar, die bestimmte Merkmale zu Merkmalskomplexen zusammenfügen, ohne damit einen anderen Erklärungsanspruch als den zu erheben, Dinge sichtbar zu machen, die ansonsten unserer Aufmerksamkeit entgehen. Ein bißchen erinnert B./B.-G.s diagnostische Theorie an Blumenbergs Theorie der Unbegrifflichkeit (vgl. meinen Post vom 09.09.2011): ‚es‘ verändert sich etwas, und dieses ‚Es‘ ist zu wichtig, als daß wir es unbenannt lassen könnten. Da uns klare Begriffe dafür noch nicht zur Verfügung stehen, nennen wir es erstmal versuchsweise „Fernliebe“ oder „Weltfamilie“.

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