„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 21. Februar 2012

Rekursivität und vertikale Verankerung

In meinem Post vom 05.02.2011 hatte ich Assmanns Begriff der vertikalen Verankerung mit dem Begriff der Haltung als einer individuellen Positionierung des Menschen im Raum und in der Zeit verknüpft. Damit wollte ich auf einen Grenzbegriff im Sinne der Plessnerschen exzentrischen Positionalität hinaus, also im Sinne einer Grenze zwischen Innen und Außen (räumlich) und zwischen Vergangenheit und Zukunft (zeitlich). Ich hatte dabei noch nicht an die damit zusammenhängende Thematik der Rekursivität gedacht, wie sie von Tomasello am Beispiel der menschlichen Kommunikation diskutiert worden ist. (Vgl. meinen Post vom 25.04.2010)

Erst im letzten Post vom 12.02.2012 ist mir klar geworden, daß die Rekursivität des menschlichen Selbstbewußtseins einer haltgebenden Struktur bedarf, wenn wir uns nicht auf den verschiedenen Ebenen unserer vielfältigen intentionalen Akte im Unendlichen verlieren wollen. Dieses Problem ist in der Philosophie als regressus ad infinitum bekannt. Letztlich ist die Rekursivität (ich weiß, daß ich weiß, daß ich weiß ...) ein Aspekt der Reflexivität. Zunächst scheint es sich um ein recht banales Problem von wechselseitigen Spiegelungseffekten zu halten, etwa wenn sich jemand zwischen zwei Spiegeln aufhält und seine Person in einer sich unendlich fortsetzenden Reihe gespiegelt sieht.

Aber diese Spiegelungen unterscheiden sich nicht im einzelnen voneinander. Sie sind identisch. Es macht also qualitativ keinen Unterschied, ob ich in einen Spiegel oder in zwei Spiegel schaue und mich nur einmal gespiegelt sehe oder unendlich oft: ob ich also denke, daß ich denke, oder ob ich denke, daß ich denke, daß ich denke usw. Von dieser Art ist auch das sokratische „Ich weiß, daß ich nichts weiß!“, das inhaltlich völlig unbestimmt ist. Hier macht es überhaupt keinen Sinn eine weitere Metaebene hinzuzufügen: „Ich weiß, daß ich weiß, daß ich nichts weiß!“ – Die dritte Ebene fügt den anderen beiden Ebenen nichts hinzu. Es würde auch keinen Sinn machen, Bejahungen und Verneinungen zu variieren, weil nur logischer Nonsens dabei rauskommen würde, etwa: „Ich weiß nicht, daß ich weiß!“

Aber es macht sehr wohl einen Unterschied, ob ich weiß (A), daß ich den Kaffeeautomaten abgeschaltet habe (B), als ich in den Urlaub fuhr, oder ob ich denke (A), daß ich weiß (B), daß ich den Kaffeeautomaten abgeschaltet habe (C), als ich in den Urlaub fuhr. Es macht einen Unterschied, ob ich glaube (A), daß der Passant, den ich nach dem Weg gefragt habe, den richtigen Weg weiß (B), daß er verstanden hat (C), daß ich diesen Weg wissen will, und daß er bereit ist (D), mir sein Wissen mitzuteilen, so daß ich problemlos an mein Ziel gelange; oder ob ich glaube (A), daß der Passant, den ich nach dem Weg gefragt habe, den richtigen Weg weiß (B), und daß er verstanden hat (C), daß ich diesen Weg wissen will,

–    dieser Passant aber leider nur glaubt (D'), daß er den Weg, nach dem ich ihn gefragt habe, weiß (E'), so daß er zwar bereit ist (F'), mir dieses ‚Wissen‘ mitzuteilen, dieses Wissen aber leider falsch ist (G'), wie ich kurz darauf feststelle (H'), nachdem ich mich hoffnungslos verfahren habe;

–    oder dieser Passant den Weg tatsächlich weiß (D''), daß er aber trotz seiner Absicht (E''), mir den richtigen Weg zu beschreiben, bei der Beschreibung (F'') die Straßen durcheinanderbringt, so daß die Wegbeschreibung leider falsch ist (G''), wie ich kurz darauf feststelle (H''), nachdem ich mich hoffnungslos verfahren habe;

–    oder dieser Passant den Weg tatsächlich weiß (D'''), daß er sich aber einen Spaß daraus macht (E'''), mir den falschen Weg zu beschreiben (F'''), so daß die Wegbeschreibung leider falsch ist (G'''), wie ich kurz darauf feststelle (H'''), nachdem ich mich hoffnungslos verfahren habe.

Rekursivität im Tomaselloschen Sinne beinhaltet also zwar auch die Möglichkeit einer prinzipiell unabschließbaren Aufspaltung und Vervielfältigung von Bewußtseinsebenen, so wie auch die Reflexivität. Aber die Rekursivität geht über bloß logische Spiegelungen hinaus. Die verschiedenen Bewußtseinsebenen sind inhaltlich qualifiziert. An der Grenze zwischen Innen und Außen und zwischen Vergangenheit und Zukunft erstrecken sich die intentionalen Akte in die jeweiligen Richtungen nach innen und nach außen (mich selbst und den Passanten betreffend), nach hinten und nach vorne (ich selbst als derjenige, der die Kaffeemaschine ausgemacht hat oder nicht, und als derjenige, der inzwischen in den Urlaub gefahren ist).

Die prinzipiell unabschließbare Aufspaltbarkeit selbstbewußter Intentionalität bedarf, wie schon im letzten Post angedeutet, einer haltgebenden Struktur, die wir als Haltung oder mit Assmann als vertikale Verankerung bezeichnen können. Haltung bzw. vertikale Verankerung ermöglichen es uns, uns an der Gegenwartsgrenze zwischen gerade vergangen und noch nicht geschehen zu ‚halten‘, ohne in die Vergangenheit oder in die Zukunft hinein abzustürzen. Sie ermöglichen es uns, zu verhindern, daß wir nach innen als ‚Ich‘ zersplittern oder uns nach außen ins ‚Du‘ oder ‚Wir‘ verlieren.

Letztlich aber ist Rekursivität noch mehr als ein dynamischer Prozeß des menschlichen Selbstbewußtseins. In all ihrer Ambivalenz bildet Rekursivität doch auch ein Moment innerer Freiheit. Wie sehr wir auch manipulativen Medien und Zwängen ausgesetzt sein mögen: welche rekursiven Reaktionen nach innen sie letztlich wirklich auslösen, ist unkontrollierbar. In diesen rekursiven Reaktionen analysiert und bewertet das Individuum alles, was ihm widerfährt. Ob es dabei auf bestimmten Ebenen verharrt oder plötzlich auf eine andere Ebene springt, wo sich alles in einem völlig neuen Licht darstellt, kann keine Macht der Welt determinieren.

Rekursivität ermöglicht es sogar, den Spieß umzukehren, wie ich es in diesem Blog schon mehrmals am Beispiel der zweiten Naivität beschrieben habe. (Vgl.u.a. meinen Post vom 24.01.2011) Indem ich mich über eine Intentionsebene, auf der ich einen bestimmten Bewußtseinsakt naiv vollziehe, erhebe und diesen in seiner Naivität durchschaue, kann ich über diese Naivität verfügen, wie z.B. der Passant, der sich über die Situation des Nach-dem-Weg-Fragens erhebt und sie in einen persönlichen Spaß verwandelt, indem er eine falsche Auskunft gibt. Daß er sich selbst dabei wiederum naiv verhält, durchschaut er entweder nicht oder es ist ihm egal.

Durchschauen wir die Naivität unserer Bewußtseinsvollzüge, so stehen uns prinzipiell zwei Wege offen: wir werden (a) zu Zynikern, wie der Passant, der spaßeshalber eine falsche Auskunft gibt, oder wir nutzen unsere Naivität (b), um situationsadäquate Entscheidungen zu treffen. Rekursivität eröffnet uns also eine Chance: nämlich anstatt der ersten Naivität beliebig viele Naivitätsebenen hinzuzufügen das Einnehmen einer ‚Haltung‘ oder auch: vertikale Verankerung.

Nachtrag 03.03.2012: Ein schönes Beispiel für Rekursivität liefert der Film „Slumdog Millionär“. Ein Junge aus den Slums von Bombay nimmt an einer Quizsendung teil und steht vor der Beantwortung der 10 Millionen-Rupien-Frage: zwei mögliche Antworten, eine richtige, eine falsche. Der Moderator gibt dem Jungen auf der Toilette einen Tip. Als Motiv erzählt er ihm, er wäre auch mal ein Slumdog gewesen, und er sei bisher der einzige, der es geschafft habe, sich zum Millionär hochzuarbeiten. Nun könne er gut mitempfinden, was der Junge gerade durchmache.

Wieder auf Sendung wählt der Junge nicht die Antwort, die ihm der Moderator vorgesagt hat, sondern die andere. Diese Antwort ist richtig; der Moderator hatte gelogen.

Welche Metaebenen spielte der Junge im Kopf durch? Folgender innerer Monolog ist denkbar: Der Moderator sagt (A), daß er selbst einmal ein Slumdog gewesen ist (B), daß er deshalb (C) mit mir mitempfindet und (D) mir helfen will. Er sagt mir, daß ich (E) die Antwort „B“ wählen soll. Ich weiß (A), daß der Moderator (B) mich von Anfang an in der Sendung vor dem Publikum lächerlich gemacht und mich nicht für voll genommen hat. Ich habe die Erfahrung gemacht (C), daß uns Slumdogs (D) das eigene Hemd näher ist als das Wohl des anderen und daß deshalb (E) Mitleid und Solidarität bei uns Fremdwörter sind. Ich glaube deshalb (F), daß es wahrscheinlicher ist, daß (G) der Moderator mich reinlegen will. Ich werde deshalb (H) in der Show die Antwort „D“ wählen.

Nun ist das mit solchen rekursiven Überlegungen so eine Sache: sie sind instabil, und bei der kleinsten Veränderung von Situationen springt man von einer Metaebene in die andere, wie Elektronen in ihrer Wolke Quantensprünge machen. Moderatoren wissen das und fragen in solchen Quizsendungen gerne nach: „Du willst also ‚D‘ wählen? Bist Du Dir da ganz sicher?“  ̶  Normalerweise reicht das schon aus, um den Rater zu verunsichern und sich anders entscheiden zu lassen. Aber so hartnäckig der Moderator auch bohrt,  ̶  der Junge bleibt bei seiner Antwort: „Nein, ich bin mir nicht sicher!“  ̶  „Aber Du bleibst bei Deiner Antwort?“  ̶  „Ja!“

Das ist vertikale Verankerung. In der ganzen Quizsendung, die sich über mehrere Tage oder Wochen erstreckt, bleibt der Junge bei seinen Entscheidungen. Er läßt sich kein einziges Mal durch den Moderator verunsichern. Er vertraut seinen Intuitionen und weiß von den Fallstricken der Naivität. Das hat er als Slumdog gelernt. So kann ihm die Naivität  ̶  als zweite Naivität  ̶  zum Mittel werden, und er hat es nicht mehr nötig, seinen eigenen Verstand dem Moderator unterzuordnen.

Nebenbei erfährt man übrigens etwas darüber, was Bildung ist: nicht das, was Universitätsprofessoren wissen. Ausgebildete Akademiker sind nämlich schon viel früher aus der Quizsendung ausgeschieden als der Slumdog. Der Slumdog aber verbindet mit allen Fragen, die ihm gestellt werden, Lebenserfahrungen. Und diese Lebenserfahrungen haben einen Sinn. Sogar der Benjamin Franklin auf der Hundertdollarnote, nach dem er in der Quizsendung gefragt wird, hat einen Sinn im Leben des Jungen. Nur deshalb ist er sich zwar nicht seiner Antworten, aber seiner selbst sicher. Dieser Sinn verankert ihn, läßt ihn eine innere Haltung finden. Worin dieser Sinn besteht?  ̶  Da müßt Ihr Euch den Film schon ansehen ...

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Sonntag, 12. Februar 2012

Transparenz versus Wahrnehmung?

Thomas Metzinger, Die Selbstmodell-Theorie der Subjektivität: Eine Kurzdarstellung in sechs Schritten (http://www.ifzn.uni-mainz.de/Metzinger.pdf)

1.    Der Mensch als informationsverarbeitendes System
2.    Transparenz und Wahrnehmungsglaube
3.    Was heißt ‚interne Quellen‛?
4.    Differenz von Vollzug und Reflexion (Naivität und Kritik)
5.    Selbstbewußtsein als „Interface“
6.    Narrativität und Rekursivität

Auf die Narrativität bin ich in diesem Blog ebenfalls schon so oft eingegangen, daß ich hier auf keine bestimmten Posts verweisen möchte. Von der Rekursivität war erstmals in einem Post vom 25.04.2010 zu Tomasello die Rede gewesen. In einem weiteren Post zu Tomasello bin ich dann auch im Zusammenhang mit dem Problem der Referentenverfolgung auf die narrative Komponente in der menschlichen Kommunikation zu sprechen gekommen. (Vgl. meinen Post vom 27.04.2010)

Man könnte sagen, daß Rekursivität und Narrativität folgendermaßen zusammengehören: Bei der Rekursivität geht es darum, daß Menschen voneinander wechselseitig Vermutungen über den Geisteszustand ihres jeweiligen Gegenübers haben, über seine Intentionen, über seine Gefühle und über sein Wissen. Diese Vermutungen können sich über mehrere Metaebenen erstrecken. Diese rekursive Ordnung von Metaebenen des „ich weiß, daß du weißt, daß ich weiß, daß du weißt ...“ kann nun auf einen bestimmten Gegenstand fokussiert werden. Die Gesprächspartner können sich z.B. darauf einigen, was sie gemeinsam zu tun beabsichtigen. Je komplexer die Zusammenhänge sind, in die die Gesprächspartner und ihr gemeinsamer Gegenstand eingebettet sind, um so komplexer sind auch die Metaebenen rekursiv verschachtelt. Um da den gemeinsamen Gegenstand nicht aus den Augen zu verlieren, bedarf es Tomasello zufolge einer extravaganten Syntax, sprich: einer narrativen Struktur, die dabei hilft, den Gegenstand im Auge zu behalten bzw. den ‚Referenten‘ zu ‚verfolgen‘.

Metaebenen lassen sich eben nicht beliebig oft hintereinander fügen, maximal bis zur vierten oder fünften Ebene. (Vgl. meinen Post vom 25.07.2011) Wenn es komplizierter wird, brauchen wir eine haltgebende narrative Struktur.

Nun spricht Metzinger davon, daß der „bewusste Mensch ... ein System (ist), das bei einzelnen repräsentationalen Akten die Repräsentationsbeziehung selbst noch einmal ko-repräsentieren kann. Der Inhalt höherstufiger Formen des Selbstbewusstseins ist immer eine Relation: das Selbst im Moment des Erkennens ..., das Selbst im Akt des Handelns.“ (S.25f.) – Der Mensch hat also für sich selbst und zu sich selbst, als Selbstbewußtsein, eine rekursive Struktur. Er kann seine Repräsentationsbeziehung selbst noch einmal ko-repräsentieren, was nichts anderes heißt, als daß er sich seines eigenen Wissens und seiner eigenen Intentionen auf einer höheren Ebene, eben der des Selbstbewußtseins, noch einmal bewußt sein kann: ich weiß, daß ich weiß, was ich tue. Oder bezogen auf die im Post vom 10.02.2012 angesprochenen Meta-Informationen zum Realitätsgehalt bestimmter Informationen: ich weiß, daß ich nicht weiß, was ich gerade sehe.

Um hier nicht in einer Unendlichkeit der rekursiven Selbstprojektion abzustürzen, bedarf es wiederum einer haltgebenden narrativen Struktur. Das Zentrum dieser narrativen Struktur bildet das „virtuelle Selbst“, das wir in unseren Selbstprojektionen gewissermaßen ‚verfolgen‘. Das virtuelle Selbst bildet Metzinger zufolge „eine funktional adäquate Konfabulation“, die die Ebenen des Erkennens und Handelns zusammenhält. (Vgl.S.26)

An dieser Stelle finde ich nun tatsächlich keinen Unterschied zu meinem eigenen Bewußtseinskonzept. Allerdings bin ich mir nicht ganz sicher, ob meine Interpretation der entsprechenden Textstellen bei Metzinger wirklich den Intentionen des Autors entspricht. In diesem Sinne: ich weiß nicht, ob Metzinger das weiß, von dem ich glaube, daß er es weiß.

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Transparenz versus Wahrnehmung?

Thomas Metzinger, Die Selbstmodell-Theorie der Subjektivität: Eine Kurzdarstellung in sechs Schritten (http://www.ifzn.uni-mainz.de/Metzinger.pdf)

1. Der Mensch als informationsverarbeitendes System
2. Transparenz und Wahrnehmungsglaube
3. Was heißt ‚interne Quellen‛?
4. Differenz von Vollzug und Reflexion (Naivität und Kritik)
5. Selbstbewußtsein als „Interface“
6. Narrativität und Rekursivität

In Metzingers Konzept vom phänomenalen Selbstmodell entsteht (emergiert?) das Selbst als „funktionale(r) Mittelpunkt des phänomenalen Darstellungsraums“ aus den schon beschriebenen vier internen Quellen (vgl. meinen Post vom 10.02.2012) und „besitzt“ deshalb „kein Gehirn, kein Motorsystem und keine Sinnesorgane“. (Vgl.S.26) Deshalb bildet es ja auch keine substantielle, sondern nur eine funktionale Mitte, deren Funktion darin besteht, dem informationsverarbeitenden System ‚Mensch‘ als „benutzerfreundliche Oberfläche“ zur Verfügung zu stehen. In gewisser Weise ist das phänomenale Selbstmodell ein „virtueller Agent“, der dem hinter dem Agenten fungierenden System als „Interface“ dient: „Er (der Agent – DZ) ist das Interface, welches das System benutzt, um sich seine eigene Hardware funktional anzueignen, um autonom zu werden.“ (S.26)

Ich selbst habe schon mehrfach auf die Metapher der Oberfläche zurückgegriffen, um das menschliche Bewußtsein zu beschreiben. (Vgl. meine Posts vom 13.06.2010, 04.02.2011, 05.03.201121.11.2011 und vom 07.12.2011) Dabei hatte ich aber mehr an eine Oberfläche von der Art eines sehenden Auges oder einer tast-, schmerz- und temperaturempfindlichen Haut gedacht. Die Parallele zwischen einem Interface und einer Oberfläche wie z.B. der Haut liegt darin, daß beide eine Vielfalt von Sinnesorganen umfassen bzw. vereinen. Während aber das Interface vor allem den kontrollierenden, steuernden und berechnenden Aspekt des Mensch-Welt-Verhältnisses hervorhebt, stellt die Haut eine Grenzfläche dar, die nicht nur ein Inneres einschließt, sondern dieses zugleich zu einem Äußeren hin öffnet.

Das phänomenale Selbstmodell als Interface steht also für ein geschlossenes kybernetisches System: „Das, was wir eben als ‚Transparenz‘ kennen gelernt haben, ist eine Art, die Geschlossenheit dieser multimodalen, hochdimensionalen Oberfläche zu beschreiben.“ (S.26) – Es gibt keine Berührungsempfindlichkeit – es sei denn nach innen in Form eines Touchscreens oder eines Keyboards – und damit gibt es auch kein Einfallstor für das Fremde.

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Samstag, 11. Februar 2012

Transparenz versus Wahrnehmung?

Thomas Metzinger, Die Selbstmodell-Theorie der Subjektivität: Eine Kurzdarstellung in sechs Schritten (http://www.ifzn.uni-mainz.de/Metzinger.pdf)

1. Der Mensch als informationsverarbeitendes System
2. Transparenz und Wahrnehmungsglaube
3. Was heißt ‚interne Quellen‛?
4. Differenz von Vollzug und Reflexion (Naivität und Kritik)
5. Selbstbewußtsein als „Interface“
6. Narrativität und Rekursivität

Es gibt verschiedene Aspekte an Metzingers phänomenalem Selbstmodell, die mich an die Differenz von Vollzug und Reflexion erinnern. Wie ich schon in meinem Post zu Meyer-Drawe vom 10.01.2012 geschrieben habe, geht es bei dieser Differenz um den Bruch (Hiatus) zwischen Fühlen und Denken und zwischen Handeln und Denken, also ganz allgemein zwischen Erlebnis und Reflexion. Die Reflexion – oder die bewußte Wahrnehmung oder die bewußte Entscheidung – ist gegenüber vorbewußten Prozessen, aus denen die bewußte Wahrnehmung hervorgeht bzw. die die bewußte Entscheidung anbahnen, immer ‚verspätet‘. Diese Verspätung des Bewußtseins besteht nicht nur in einer bloßen Unterbrechung des Reflexbogens, sondern beinhaltet auch eine ‚Dichte‘ bzw. ‚Dauer‘, die wir nicht mit den Mitteln der Reflexion durchdringen bzw. kurzschließen können.

In der Neurophysiologie wird diese Differenz immer wieder als Beleg für die Unfreiheit des menschlichen Willens gedeutet. Daß wir uns frei entscheiden können bzw. daß wir die Wahl haben, ist nur eine Illusion, weil die eigentlichen Entscheidungsprozesse auf einer vorbewußten Ebene ablaufen. Für Phänomenologen wie Meyer-Drawe sind diese vorbewußten ‚Vollzüge‘ hingegen Voraussetzungen unserer Freiheit, weil sie uns in Form von Störungen aus dem Schlaf des Bewußtseins wecken und uns so überhaupt erst vor die Möglichkeit einer Wahl stellen. Einig sind sich beide Seiten darin, daß wir diesen vorbewußten Prozessen gegenüber insofern unfrei sind, als wir sie nicht kontrollieren können.

Diese ‚Vollzüge‘ gibt es auf zwei Ebenen: als leiblichen Weltglauben und als Lebensweltglauben. Metzingers Begriff der phänomenalen Repräsentation kann man als leiblichen Weltglauben und die Begriffe des phänomenalen Selbstmodells und des phänomenalen Darstellungsraums kann man als Lebenswelt interpretieren. Akzeptiert man diese Parallelen, so kann man Metzingers Begriff der Transparenz als einen vorbewußten Vollzug verstehen: „Man kann sich nicht einfach aus dem phänomenalen Modell der Wirklichkeit ‚hinausdenken‘, indem man seine Meinungen über dieses Modell ändert: Die Transparenz phänomenaler Repräsentationen ist kognitiv nicht penetrabel, phänomenales Wissen ist nicht dasselbe wie begrifflich-propositionales Wissen.“ (S.24)

Meyer-Drawes Begriff des Vollzugs entspricht in vielerlei Hinsicht den Plessnerschen Beschreibungen vom präsentativen Bewußtsein. (Vgl. meinen Post vom 30.01.2012) Auch hierzu kann man bei Metzinger eine Parallele finden, wenn er vom „phänomenale(n) Gegenwartsfenster“ (vgl.S.26f.) spricht: „Weil die Virtualität des Selbstmodells und die Virtualität des Gegenwartsfensters nicht auf der Ebene des subjektiven Erlebens verfügbar sind, wird das in ihnen dargestellte System zu einem jetzt anwesenden Subjekt.“ (S.27)

Insoweit also das phänomenale Selbstmodell und die Vollzüge des bewußten Wahrnehmens und Erlebens (als „Gegenwartsinsel(n) im physikalischen Fluss der Zeit“ (S.27)) nicht kognitiv verfügbar sind, also nicht reflektierend eingeholt werden können, haben wir es hier mit einer Differenz im Sinne des Plessnerschen Hiatus zu tun. Aber der Unterschied zu einer Phänomenologie der Wahrnehmung macht sich gleich wieder am Begriff der Virtualität fest. Phänomenologen trennen einfach nicht zwischen Wirklichkeit und Wahrnehmung. (Vgl. meine Posts vom 04.06.2010 und vom 05.06.2010) Das ist nur im Rahmen einer (digitalen) Informationstheorie des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses möglich, weil hier von den sinnlichen (analogen) Eigenschaften der Gegenstandswahrnehmung abstrahiert wird.

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Freitag, 10. Februar 2012

Transparenz versus Wahrnehmung?

Thomas Metzinger, Die Selbstmodell-Theorie der Subjektivität: Eine Kurzdarstellung in sechs Schritten (http://www.ifzn.uni-mainz.de/Metzinger.pdf)

1. Der Mensch als informationsverarbeitendes System
2. Transparenz und Wahrnehmungsglaube
3. Was heißt ‚interne Quellen‛?
4. Differenz von Vollzug und Reflexion (Naivität und Kritik)
5. Selbstbewußtsein als „Interface“
6. Narrativität und Rekursivität

Das phänomenale Selbstmodell wird von Metzinger als geschlossenes System beschrieben: „Das Selbstmodell ist die einzige repräsentationale Struktur, die im Gehirn durch eine kontinuierliche Quelle intern generierten Inputs verankert ist.“ (S.19) – Das erinnert an das neurophysiologische Konzept vom Gehirn als einem autopoietischen System, das alle seine Impulse intern erzeugt. Die peripher erzeugten, über spezifische Sinnesorgane weitergeleiteten Signale entsprechen aufgrund ihrer binären Struktur unterschiedslos den internen zentralen Impulsen, so daß ihr spezifischer Gehalt erst vom Gehirn selbst erzeugt werden muß. Es macht also keinen Unterschied, woher die Impulse kommen. Im Vergleich zu den zentralnervösen Strukturen und Prozessen ist ihre Herkunft bedeutungslos und „abstrakt“ (vgl.S.23).

Dennoch spricht Metzinger von vier verschiedenen internen Quellen von Impulsen: vom Gleichgewichtssinn, vom Hintergrundgefühl, von den Bauchgefühlen und von der „homöostatischen Selbstregulation des ‚internen Milieus‛“. (Vgl.S.19f.) Plessner spricht hier von den Zustandssinnen, die er von den Gegenstandssinnen unterscheidet. (Vgl. meine beiden Posts vom 30.01.2012) Diese internen Quellen sollte man nicht mit den gehirnintern erzeugten Impulsen gleichsetzen, auch wenn Metzinger die homöostatische Selbstregulation im Hirnstamm lokalisiert. Denn welche Aufgabe haben diese internen Quellen?

Nach Damasio bilden sie die Bühne für Ereignisse, denen das Gehirn als „Auditorium“ aufmerksam folgt. (Vgl. meinen Post vom 05.05.2010) Das „Fleisch“, wie Damasio es nennt, bildet nicht nur irgendeine bedeutungslose Nährlösung, sondern ist in gewisser Weise der Sinn des Gehirns, ohne den seine ‚Aktivitäten‛ orientierungslos wären. Diesen Zusammenhang bezeichnet Plessner als Körperleib, d.h. als gleichzeitiges Ineinander und Gegenüber von Körper und Leib, in dem die exzentrische Positionalität des Menschen anatomisch verwurzelt ist. Auch Metzinger bringt diesen Sachverhalt andeutungsweise zum Ausdruck: „Die konstante Aktivität derjenigen Regionen des Körperselbstes, die unabhängig von externem Input sind, wird – das ist meine These – zum funktionalen Mittelpunkt des phänomenalen Darstellungsraums.“ (S.20) – Dieses innere Körperselbst ähnelt dem ‚Leib‘ bei Plessner, der der bewußten Kontrolle durch das Gehirn unterliegt, im Unterschied zum Gehirn im ‚Körper‘, das den physiologischen Prozessen des Gesamtorganismus unterworfen ist. Indem Metzinger aber interne und externe Inputs entkoppelt und den phänomenalen Darstellungsraum als einen rein intern erzeugten Funktionszusammenhang beschreibt, geht hier die Doppelaspektivität von Innen und Außen verloren, für die der Körperleib das Modell bildet.

Auch die Innen/Außen-Differenz des Körperleibs wird von Metzinger also nicht auf die Anatomie zurückgeführt – anders als bei Damasio, der zwischen Fleisch und Gehirn unterscheidet –, sondern als ein internes Produkt des informationsverarbeitenden Systems dargestellt: „Eine genuine Innenperspektive entsteht genau dann, wenn das System sich für sich selbst noch einmal als mit der Welt interagierend darstellt, diese Darstellung aber wieder nicht als Darstellung erkennt. Es besitzt dann ein bewusstes Modell der Intentionalitätsrelation. Sein Bewusstseinsraum ist ein perspektivischer Raum und seine Erlebnisse sind jetzt subjektive Erlebnisse.“ (S.25) – Die „Intentionalitätsrelation“ zwischen Subjekt und Objekt ist frei von jedem Bezug auf den vom Körperleib grundgelegten, von Sinnesorganen kinetisch und ästhetisch qualifizierten Gegenstand.

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Transparenz versus Wahrnehmung?

Thomas Metzinger, Die Selbstmodell-Theorie der Subjektivität: Eine Kurzdarstellung in sechs Schritten (http://www.ifzn.uni-mainz.de/Metzinger.pdf)

1. Der Mensch als informationsverarbeitendes System
2. Transparenz und Wahrnehmungsglaube
3. Was heißt ‚interne Quellen‛?
4. Differenz von Vollzug und Reflexion (Naivität und Kritik)
5. Selbstbewußtsein als „Interface“
6. Narrativität und Rekursivität

Metzingers Begriff der Transparenz beinhaltet einige Parallelen zu den Begriffen des Körperleibs und der Lebenswelt, wie ich sie in diesem Blog in zahlreichen Posts immer wieder thematisiert habe, so daß es mir schwerfällt, auf einige bestimmte Posts zu verweisen. Zunächst scheint der Begriff der Transparenz etwas unglücklich gewählt zu sein. Wörtlich bedeutet er ‚Durchsichtigkeit‘, gemeint ist aber ‚Unsichtbarkeit‘: „Transparenz ist eine besondere Form der Dunkelheit. In der Phänomenologie des visuellen Erlebens bedeutet Transparenz, dass wir etwas nicht sehen können, weil es durchsichtig ist.“ (S.22) – Am ehesten wird der Begriff der Transparenz als Durchsichtigkeit verständlich, wenn man an Medien wie Luft oder Wasser denkt, in denen Menschen und Fische sich bewegen und atmen, ohne sie wahrzunehmen. Luft und Wasser sind gleichzeitig so durchsichtig wie unsichtbar.

Metzinger vergleicht die Transparenz auch mit Halluzinationen (vgl.S.24), ähnlich wie Meyer-Drawe die Wahrnehmung (vgl. meinen Post vom 13.01.2012). In einer Halluzination bewegen wir uns ähnlich wie innerhalb einer Lebenswelt mit ihrem Lebensweltglauben, der mit dem leiblichen Weltglauben verschmilzt. Bricht aber die Realität von außen in diese Lebenswelt hinein, so trennt sich die Lebenswelt vom leiblichen Weltglauben oder wird sogar vollständig außer Funktion gesetzt. So auch bei Metzinger. Die Transparenz, in der wir leben und uns im unmittelbaren Kontakt mit der Wirklichkeit wähnen, wird getrübt, wenn sich diese Wirklichkeit zwischen uns und unsere Illusionen schiebt.

Plötzlich wird eine neue Art von Informationen verfügbar, eine Art Meta-Informationen, die uns etwas über die Qualität bzw. die Modalität jener Informationen mitteilt, auf die wir uns bislang so blind verlassen hatten: „Auch auf der Ebene des Erlebens selbst ist jetzt die Information verfügbar, dass Sie nicht auf die Welt schauen, sondern auf einen aktiven repräsentationalen Zustand, der im Moment allem Anschein nach kein gutes Instrument zur Wissensgewinnung ist.“ (S.24)

Mit dem „repräsentationalen Zustand“ ist jene bloß halluzinierte Realität gemeint, an der wir uns bislang orientiert hatten. Damit aber haben wir es bei der ‚wirklichen‘ Realität, die die Halluzination zerstört – die uns aus der Lebenswelt herausfallen läßt –, mit einer seltsamen Information zu tun: nämlich mit einer Information, die anderen Informationen widerspricht. Was aber macht diese Information wahrer als jene? Wieso ‚glauben‘ wir der Information, die uns darüber belehrt, daß eine andere Information falsch ist, mehr als jener? Eine Gegenstandstheorie der Wahrnehmung kann darauf eine Antwort geben: wir glauben der neuen Information, weil sie stört! Weil wir sie nicht kontrollieren können! Weil wir sie nicht gemacht haben!

Wir haben es also bei der Transparenz mit einem Wahrnehmungsglauben zu tun, daß das, was wir wahrnehmen, real ist und daß wir mit dem, was real ist, unmittelbaren Kontakt haben, so wie wir mit uns selbst unmittelbaren Kontakt haben. Diesen Wahrnehmungsglauben beschreibt Metzinger auch als „naiv-realistisches Selbstmissverständnis“: „Wir erleben uns selbst, als wären wir in direktem und unmittelbarem epistemischen Kontakt mit uns selbst.“ (S.24)

Bei Plessner ist dieser Wahrnehmungsglaube in sich gebrochen. Er ist eine „vermittelte Unmittelbarkeit“, weil es beim Menschen als exzentrischer Positionalität keine einfache Unmittelbarkeit gibt. Hier haben wir einen ersten Unterschied zu einer Informationstheorie des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses: Bei Metzinger ist das naiv-realistische Selbstmißverständnis prinzipiell undurchschaubar. Seine Transparenz hält uns unentrinnbar gefangen, weil hier leiblicher Weltglaube und Lebensweltglaube tatsächlich ein und dasselbe sind. Die neue Information, die uns über den illusionären Charakter der vorangegangenen Informationen aufklärt, stellt das Weltverhältnis des Menschen nicht grundsätzlich in Frage. Sie stört nicht grundsätzlich, sondern nur ein bißchen.

Es gibt also nur Simulation und keine Realität, weil jede neue Realität sofort wieder mit dem naiv-realistischen Selbstmißverständnis kontaminiert wird. Ein wenig erinnert mich Metzingers Transparenz an Konrad Lorenzens „Rückseite des Spiegels“ (1973). Metzinger beschreibt die Transparenz auch als „repräsentationalen Träger“ von „repräsentationale(n) Inhalt(en)“. (Vgl.S.23) Repräsentationale Träger sind die Sinnesphysiologie des Körpers und die Neurophysiologie des Gehirns. Mit ihrer Hilfe werden Informationen (Inhalte) transportiert. Ähnlich wie bei Konrad Lorenz die Wahrnehmung die Welt spiegelt, ohne daß wir die nichtspiegelnde Rückseite der Wahrnehmungsprozesse erkennen können, sind die repräsentationalen Träger von repräsentationalen Inhalten transparent, – also selbst nicht wahrnehmbar.

Was in dieser informationstheoretischen Beschreibung des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses nicht zur Sprache kommt, ist der Körperleib und der mit ihm verbundene Weltglaube. Denn der Körperleib bildet die Grundlage der Differenz, des Plessnerschen Hiatus von Innen und Außen, und unterscheidet sich noch einmal von dem Lebensweltglauben. Lägen wir nicht – aufgrund unserer Körperleiblichkeit – mit unserem eigenen Körper im Streit, wäre tatsächlich die Illusion total und es gäbe keine vermittelte Unmittelbarkeit. Da wir uns aber mit unserem Körper im Streit befinden, stören uns Störungen nicht nur ein bißchen, sondern grundlegend, und sind Wahrnehmungsprozesse nicht einfach nur Informationsverarbeitungsprozesse, sondern sie konfrontieren uns mit Gegenständen und mit einer Welt.

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Donnerstag, 9. Februar 2012

Transparenz versus Wahrnehmung?

Thomas Metzinger, Die Selbstmodell-Theorie der Subjektivität: Eine Kurzdarstellung in sechs Schritten (http://www.ifzn.uni-mainz.de/Metzinger.pdf)

1. Der Mensch als informationsverarbeitendes System
2. Transparenz und Wahrnehmungsglaube
3. Was heißt ‚interne Quellen‛?
4. Differenz von Vollzug und Reflexion (Naivität und Kritik)
5. Selbstbewußtsein als „Interface“
6. Narrativität und Rekursivität

Nachdem ich meine lose Folge von Posts von April bis Juni 2010 zu Metzingers „Ego-Tunnel“ abgeschlossen hatte, hatte ich nicht gedacht, daß ich mich nochmal dazu überreden lassen würde, mich wieder mit Texten von ihm zu beschäftigen. Nach einer Reihe von Kommentaren (vgl. meinen Post vom 13.05.2010) ist aber jetzt genau das der Fall. Metzingers Text zur „Selbstmodell-Theorie der Subjektivität“ hält auch das Versprechen, das mir gegeben wurde: Er beinhaltet eine in sich schlüssige Argumentation zu einer neurophysiologisch begründeten Theorie der Subjektivität. Dabei bleibt die theoretische, von Metzinger als Naturalismus bezeichnete Position offen für die Möglichkeit, daß nicht alle subjektiven Phänomene im Rahmen dieser Theorie erklärt werden können: „Wenn es sich zum Beispiel zeigen sollte, dass es ... etwas am menschlichen Selbstbewusstsein gibt, dass sich dem naturwissenschaftlichen Zugriff aus prinzipiellen Gründen entzieht, dann werden sie (die naturalistischen Philosophen – DZ) auch damit zufrieden sein.“ (S.6)

Mit diesem Zugeständnis an die phänomenale Komplexität des Themas entsteht aber gleich ein weiteres Problem: Was sind die begrifflichen Voraussetzungen, unter denen dieses Zugeständnis gilt? Welche Art von Allaussagen werden mit einer Totalität wie dem Selbstbewußtsein verknüpft und bestimmen damit als solche den Rahmen für Zugeständnisse an die prinzipielle Begrenztheit des naturwissenschaftlichen Zugriffs darauf?

Metzinger legt sich hier frühzeitig fest: Der Mensch ist für ihn allererst ein „informationsverarbeitendes System“ (vgl.S.9,10, 21) und das „bewusste Erleben eines Selbst (wird) als Resultat von Informationsverarbeitungs- und Darstellungsvorgängen im zentralen Nervensystem analysiert“. (Vgl.S.5) Wir haben es also bei Metzingers Selbstmodell-Theorie mit einer Informationstheorie zu tun, wie ich sie in meinen beiden Posts zur Informationstheorie und zur Gegenstandstheorie der Wahrnehmung beschrieben habe. (Vgl. meine Posts vom 25.10.2011) Je nach dem ob ich also von einer Informationstheorie oder von einer Gegenstandstheorie des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses ausgehe, ist auch die Vorstellung von der Begrenztheit des naturwissenschaftlichen Zugriffs auf das menschliche Selbstbewußtsein  selbstverständlich eine völlig andere.

Der wichtigste Unterschied liegt vor allem darin, daß in einer Informationstheorie des menschlichen Selbstbewußtseins dessen ‚Inhalte‛, also die Vorstellungen und Wahrnehmungen, ihm nicht fremd sein können. Empirisch und konkret können nur die beobachtbaren physiologischen Vorgänge im Gehirn sein, während die Bedeutung und der Sinn der ‚Informationen‛, also der von den Nervenbahnen weitergeleiteten Signale nur noch als abstrakt erscheinen: „Der Inhalt ist also eine abstrakte Eigenschaft des konkreten repräsentationalen Zustands in ihrem Kopf.“ (S.23) – Ist aber der Inhalt nur eine abstrakte Eigenschaft, so fehlt ihm der Widerfahrnischarakter, das, was ihn dem Bewußtsein fremd bleiben läßt, – also letztlich das, was ihn als dem Bewußtsein widerstehenden Gegen-Stand auszeichnet.

Damit hat Metzinger also schon eine begriffliche Vorentscheidung getroffen, und mit dieser Vorentscheidung hat er auch sein Zugeständnis an die prinzipielle Begrenztheit der naturwissenschaftlichen Zugriffs eingegrenzt. Zwar läßt sich nicht alles naturwissenschaftlich erklären, aber was sich erklären läßt, muß sich dem Konzept einer Informationstheorie des Menschen fügen. In den folgenden Posts wird es mir deshalb vor allem darum gehen, wie weit Metzingers Konzept mit dem Konzept einer Gegenstandsorientierung konform gehen kann und an welcher Stelle beide Beschreibungsformen des Menschen notwendigerweise miteinander unvereinbar sind.

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Montag, 6. Februar 2012

Zur dreifachen Gliederung der Person (Ende)

Im letzten Post war als wichtigste Aufgabe des präsentativen Bewußtseins vom Realitätsbewußtsein die Rede gewesen. Letztlich besteht das präsentative Bewußtsein in der Wahrnehmung und im Wahrnehmungsglauben, so daß man sich die von Plessner angesprochene, dem Realitätsbewußtsein zugrundeliegende Verbindung von Seele und Körperleib vielleicht am besten am Verhältnis von leiblichem Weltglauben (Wahrnehmungsglaube) und Lebensweltglauben verständlich machen kann (vgl. meinen Post vom 13.01.2012).

Der Lebensweltglaube besteht in der Unmöglichkeit, die eigene Lebenswelt zu reflektieren. Um sie zu reflektieren, müßte man ihr von außen gegenübertreten können. Sobald wir aber aus ihrem Binnenhorizont heraustreten, haben wir es nicht mehr mit einer Lebenswelt zu tun. Die Lebenswelt schließt schon den Gedanken an ein Außen von vornherein aus. Daß wir selbst in einer Lebenswelt befangen sind, kann uns nur durch das Fremde bewußt werden, das in sie eindringt: ob es sich nun um Außerirdische handelt oder um Konquistadoren.

Der leibliche Weltglaube hingegen besteht gerade in der Unbezweifelbarkeit eines Außen und in der unkontrollierbaren Doppelaspektivität von Außen und Innen, von Körper und Leib. Daß eine Welt da draußen existiert und daß wir ihr gleichzeitig gegenüberstehen und Teil von ihr sind, bildet die unbezweifelbare Wahrheit des Wahrnehmungsglaubens. Beides zusammen – leiblicher Weltglaube und Lebensweltglaube – ‚verschmilzt‘ zum Realitätsbewußtsein. Die Realität wird gleichzeitig unbezweifelbar und vertraut (Lebenswelt), wie sie uns widerständig und fremd bleibt. In dieser Verschmelzung liegt ihre unbezweifelbare Präsenz, ihr Jetzt und Hier. Aufgrund des Vollzuges von Jetzt und Hier als präsentatives Bewußtsein können wir nicht mehr zwischen leiblichem Weltglauben und Lebensweltglauben unterscheiden. Erst in Krisensituationen treten Körperleib und Lebenswelt wieder auseinander.

Wenn die Lebenswelt zerbricht, werden wir auf unsere singuläre Leiblichkeit (Existenz) zurückgeworfen. Dabei kann auch der leibliche Weltglaube selbst Schaden nehmen, so daß wir jede räumliche und zeitliche Orientierung verlieren. Mit dem leiblichen Weltglauben nähme dann auch die geistige und seelische Gesundheit Schaden. Das ist keine notwendige Folge des Lebensweltverlustes, aber eine mögliche. Es ist wie mit Kierkegaards „Krankheit zum Tode“, die immer zwei Gesichter hat: das zwanghafte Festhalten an der Lebenswelt ist genauso gefährlich wie ihr Verlust.

Ein weiterer Verweis muß hier noch hin: im letzten Post hatte ich mich auf Ernst Jüngers „Im Stahlgewitter“ (1920) bezogen, weil mir seine Metapher vom  „dunklen Land hinter dem Bewußtsein“ so gut gefiel. Jetzt bin ich mit dem Buch durch, und jetzt ist es mir eher peinlich. An der Art, wie Jünger die grauenvollen Erfahrungen des „Großen Krieges“ immer wieder einbettet in eine Lebenswelt, die längst nicht mehr ‚funktioniert‘ (bzw. fungiert), zeigt sich vor allem, wie er das Unrettbare zu retten versucht: Karl May – und das schreibe ich als eingeschworener Karl-May-Fan; an seinen Büchern habe ich das Lesen gelernt!  – im Schützengraben! Jünger versucht mit Worten, deren Pathos schon zur Zeit ihrer Niederschrift längst abgelebt war, eine in Fetzen zerrissene Lebenswelt zusammenzunähen. Wo Nishitani ein Niesen reicht, genügt Jünger der ganze erste Weltkrieg nicht. Am Ende ist eine ganze Welt zerstört, aber der einfache Krieger kehrt, zwar äußerlich verwundet, aber innerlich unerschüttert, in die ‚Heimat‘ zurück.

Jüngers Stil – der Pathos, die halbgare Philosophie, der auf Simplizität gestylte Humor – erinnert mich sehr an einige Reformpädagogen, mit denen ich mich beruflicherseits in einem DFG-Forschungsprojekt beschäftigen durfte und die ihren Schülern voran und diese hinter sich herziehend begeistert in diesen Krieg gezogen sind: an die vielen tausend „Kantoreks“, von denen in Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“ (1929) die Rede ist. Auch das ist Pädagogik!

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