„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 30. Januar 2012

Zur dreifachen Gliederung der Person (Fortsetzung)

Im letzten Post war in bezug auf das Bewußtsein von den „zwei Ebenen der Präsenz und der Repräsentanz“ die Rede und davon, daß die Sinnesorgane als „Modalitäten“ Formen der Entsprechung zwischen Körper und Geist bilden. Darauf möchte ich in diesem Post noch einmal im Detail eingehen, und zwar anhand einer Graphik, die ich schon in meinem Post vom 01.06.2011vorgestellt hatte und die ich für den aktuellen Post überarbeitet habe.




Grundlage dieser Graphik ist der Zusammenhang der Einheit der Sinnesorgane mit der Einheit der Person. Wenn nämlich diese Person eine Einheit bildet, so in dreifach gegliederter Weise als Körper, Seele und Geist. Die Sinnesorgane bilden eine etwas anders gegliederte Einheit, die in ihrer Gliederung auch nicht eindeutig definierbar ist. Eine Gliederungsmöglichkeit besteht in der Unterscheidung zwischen Gegenstandssinnen (Gesicht, Getast) und Zustandssinnen (Gehör, Getast, Geruch, Geschmack etc.). Schon in dieser Differenzierung befindet sich der Tastsinn in beiden Gliederungsbereichen. Eine weitere Gliederungsmöglichkeit besteht in der Unterscheidung zwischen geist-nahen (Gesicht, Gehör) und sinnfreien (Getast, Geruch, Geschmack etc.) Sinnesorganen. Wo sich das Gehör in der ersten Gliederungsmöglichkeit auf der Seite der Zustandssinne befindet, befindet es sich bei der zweiten Gliederungsmöglichkeit auf der Seite der ‚geistigen‛, für sich schon sinnhaften Sinnesorgane.

Hinzu kommt als weitere gegliederte Einheit die des Bewußtseins, das sich in zwei, wiederum in sich gegliederte Ebenen aufteilt: die repräsentative Ebene als Ebene des Selbstbewußtseins, der Reflexion, des ‚Geistes‛ und die präsentative Ebene als Ebene der Präsenz, des Gefühls, der Wahrnehmung, der ‚Seele‛.

Im Grunde haben wir also drei gegliederte Ganzheiten: Sinnesorgane, Bewußtsein und Person, deren Strukturen sich nicht eins zu eins entsprechen, die aber dennoch ineinandergreifen und für einander funktional sind. Wie stellt man so etwas dar? Die Pyramide, auf die sich Plessner selbst bezieht (vgl. Plessner 1975/1928, S.65f.), bringt vor allem die Einheit der Person zur Darstellung. Die Stufen der Pyramide reichen dabei von der Spitze der bewußten Aufmerksamkeit über die Haltung als einer Balance zwischen Reflexion und Naivität und der Lebenswelt als Dominanz der Naivität bis zum Körper und seiner Physiologie hinab. Die Stufe der ‚Lebenswelt‛ meint die „Einheit der Person mit ihrer Umwelt“ (Plessner 1980/1923, S.313), denn die Lebenswelt ist nur die ‚objektive‛, d.h. intersubjektive Seite der Seele.

Als weitgehend vorbewußte Sphäre des Bewußtseins sind Lebenswelt und Seele ein Thema der Literatur. So bin ich z.B. bei Ernst Jünger in „Stahlgewitter“ auf die schöne Formulierung vom dunklen Land hinter dem Bewußtsein gestoßen. Und ganz aktuell in "Der Name des Windes" bei Patrik Rothfuss spricht einer der Lehrer von Kvothe vom "schlafenden Geist", der mehr weiß als unser Wachbewußtsein, z.B. – im Falle von Kvothe – den Namen des Windes. Was übrigens an Merleau-Pontys Theorem vom ursprünglichen Sprechen erinnert.

Der spezifisch geistige, also weitgehend selbstbewußte Teil der Pyramide reicht von der bewußten, repräsentativen Aufmerksamkeit bis zur Haltung mit ihren vorbewußten, präsentischen Anteilen, während der spezifisch seelische, weitgehend vorbewußte Teil der Pyramide die Stufen der Haltung und der Lebenswelt umfaßt. Über die Haltung, zu der auch die gesprochene Sprache gehört, greifen Seele und Geist ineinander und über die Sinnesphysiologie reichen sie hinab bis in den Körper. An dieser Stelle war es für mich schwierig, zu entscheiden, ob ich den Körper selbst noch dem seelischen Bereich zuordne oder nicht. Ich habe mich dann dagegen entschieden, obwohl die Emotionen mit physiologischen Prozessen identifiziert werden könnten. Statt also die Seele auch die Stufe des Körpers umfassen zu lassen, habe ich dafür nochmal eigens den Körperleib in Anspruch genommen, der die Stufen des Körpers, der Lebenswelt und der Haltung umfassen soll, also inklusive der ‚Seele‘, aber mit dem Akzent auf der Sinnfreiheit der körperlichen Physiologie, da ‚von unten her‘ die biologische Evolution in ihn hineinragt, also die Evolution der Menschheit (Gattung), auf der die Basis der Pyramide als Einheit der Person aufliegt. – Diese dreigegliederte Einheit der Person entspricht übrigens unserem allerersten Post zu den drei Entwicklungslogiken, mit dem wir im April 2010 diesen Blog einleiteten.

Die Sinnesorgane gewährleisten nun zweierlei, – einen Gegenstandsbezug und einen Realitätsbezug: „Die Modalitätstheorie der Wahrnehmung und der Wahrnehmungserkenntnis ermöglicht die Verbindung erstens zwischen Bewußtsein und Körpergegenstand oder das intentionale Verhältnis von Subjekt und Objekt. Sie ermöglicht zweitens die Verbindung von Seele und Körperleib oder das reale Verhältnis psychischer und physischer Faktoren in der Einheit der menschlichen Person wie in der Einheit der Person mit ihrer Umwelt.“ (Plessner 1980/1923, S.313) – Das intentionale Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt wird auf der repräsentativen Ebene des Bewußtseins organisiert, während es bei dem realen Verhältnis der Person zu sich und ihrer Umwelt vor allem um das Realitätsbewußtsein geht, also um die Fähigkeit zwischen Realität und Irrealität zu unterscheiden. Das ist eine der wichtigsten Aufgaben der präsentativen Ebene des Bewußtseins.

Das repräsentative Bewußtsein untergliedert Plessner in seine schematischen, syntagmatischen und thematischen Funktionen, und das präsentative Bewußtsein untergliedert er in seine anschauenden, innewerdenden und füllenden Funktionen. Einigen dieser Funktionen werden einzelne Sinnesorgane zugeordnet, – aber nicht allen. Und die Zuordnungen sind auch nicht wirklich eindeutig. So wird der schematischen Funktion des repräsentativen Bewußtseins das Gesicht zugeordnet. Die Schematisierbarkeit des Gesichts beschreibt Plessner am Beispiel der Geometrie. Der thematischen Funktion des repräsentativen Bewußtseins ordnet er das Gehör zu. Das Beispiel für dessen Thematisierbarkeit bildet die Musik, deren ‚Themen‛ ja auch nicht eindeutig und explizit sind, sondern ‚gedeutet‛ werden müssen. So kann ein und dasselbe Musikstück (Thema) auf verschiedene Weise in ‚Worte‛ bzw. in Lieder gefaßt, also gesungen werden.

Ein spezifisches Sinnesorgan für die syntagmatische Funktion des Bewußtseins nennt Plessner nicht. Allerdings spricht er von der einzigartigen Verbindung von Zeichen (Gesicht) und Klang (Gehör) im gesprochenen Wort, so daß man sagen kann, daß in dieser Bewußtseinsfunktion mindestens zwei Sinnesorgane zusammenkommen müssen, um sie zu ermöglichen.

Der schematischen Funktion des repräsentativen Bewußtseins entspricht die anschauende Funktion des präsentativen Bewußtseins, so daß das Gesicht nicht nur der schematischen Funktion dient, sondern auch der Anschauung, und hier natürlich nicht nur das Gesicht, sondern auch Getast, Gehör, Geschmack und Geruch. Der syntagmatischen Funktion des repräsentativen Bewußtseins entspricht die innewerdende Funktion des präsentativen Bewußtseins, wobei das ‚Innewerden‛ die Empfänglichkeit des psychischen Zwischenreichs für die geistige Sinngebung (Artikulation) meint. Der thematischen Funktion des repräsentativen Bewußtseins entspricht die füllende Funktion des präsentativen Bewußtseins, womit die raumergreifende Voluminosität des Klangs gemeint ist, der eine Sinnfülle zum Ausdruck bringt, die sich jeder artikulierenden Verengung und Vereinseitigung entzieht.

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Zur dreifachen Gliederung der Person

Wenn ich gegen eine Verschmelzung von Denken und Sein, von Ausdruck und Sinn und von Leib und Lebenswelt argumentiere, so stütze ich mich dabei auf eine Dreigliederung der menschlichen Person, wie sie Plessner in „Die Einheit der Sinne“ beschreibt und wie sie auch in der Pyramide (vgl. meinen Post vom 01.06.2011) zum Ausdruck kommt. Zwischen Körper und Geist verortet Plessner eine psychische Zwischenschicht, die er auch als „Leib“ bezeichnet. (Vgl. meinen Post vom 14.07.2010) Der Leib, den Plessner in „Die Stufen des Organischen und der Mensch“ (1975 (1928)) als internes Modell des Gehirns vom Körper beschreibt (vgl. ebenda, S.230f.), bildet hier in Form eines arbeitsteiligen Systems von Sinnesorganen eine Art Verbindungsglied zwischen Körper und Geist.

Plessner zufolge bilden die Sinnesorgane „Modalitäten“ bzw. „Qualitäten“ der Entsprechung zwischen Körper und Geist. (Vgl. meinen Post vom 14.07.2010) Dabei stellen sie weder „absolute Seinszustände“ dar, noch sind sie als bloß subjektive Zustände zu verstehen. (Vgl. Plessner 1980 (1923), S.310) Bei Plessner kommt es also zu keiner Verschmelzung zwischen Denken (Geist) und Sein (Körper). Stattdessen spricht er von einer „Akkordanz“ zwischen den Modalitäten der Sinnesorgane und den verschiedenen Arten des präsentativen und repräsentativen Bewußtseins. Wir haben es also bei den Sinnesorganen mit einer zwar notwendigen Einheit der Sinne zu tun, die aber keine Verschmelzung von Denken und Sein bedeutet, sondern allererst ihre Ausdifferenzierung und damit eine exzentrische Positionierung des Menschen ermöglicht. Der Untersuchung dieser Akkordanz dient Plessners Programm einer „Ästhesiologie des Geistes“.

Die Sinnesorgane ‚organisieren‘ ‚Modalitäten‘ in zwei Richtungen: in Richtung auf das Bewußtsein und seine zwei Ebenen der Präsenz und der Repräsentanz und in Richtung auf die Materie in ihren gegenständlichen, dem Bewußtsein widerstehenden Aspekten. In dieser zwischen Bewußtsein und Stoff/Materie vermittelnden Funktion unterscheiden sich die Sinnesorgane selbst noch einmal in ihrer „gegenstandsbildenden Qualität“ (vgl. Plessner 1980 (1923), S.289f.). Den im engeren Sinne gegenstandsbildenden Sinnesorganen des Gesichts und des Tastsinns stehen die Zustandssinne gegenüber (Geschmack und Geruch, Getast und Schmerz, Temperatursinn, Gleichgewichtssinn und Wollust (vgl. Plessner 1980 (1923), S.267f.)), die eine Art psychisches Zwischenreich bilden, das einerseits als ein physiologischer Mechanismus beschrieben werden kann, aber andererseits zugleich einer syntagmatischen Gliederung durch die Sprache zugänglich ist. (Vgl. meinen Post vom 15.07.2011)

Das psychische Zwischenreich gehört also gleichermaßen zum präsentativen wie zum repräsentativen Bewußtsein, was in etwa der Differenz zwischen Vollzug und Reflexion bei Meyer-Drawe entspricht. (Vgl. meinen Post vom 10.01.2012) Indem wir unsere Gefühle artikulieren (syntagmatisch gliedern), versetzen wir sie also aus dem Bereich der Präsenz in den Bereich der Repräsentanz, wodurch wir sie in ihrer Qualität verändern. Indem sie offen werden für einen Eingriff des Geistes, eröffnet sich für diesen wiederum die Möglichkeit, über den Klang der Worte, also der die Artikulation tragenden Stimme, auf den Körper einzuwirken. Zeichen und Klang werden in der mündlichen Sprache miteinander zu etwas Neuem verbunden, so daß es „etwas grundsätzlich anderes (ist), ob ich einer Erregung, Stimmung, Zuständlichkeit des Geistes und der Seele in der Haltung des Leibes spezifisch gestalteten Ausdruck gebe und sie gewissermaßen sich selbst ausdehnen und entladen lasse oder ob ich ihr Ausdruck gebe, indem ich sie meine und in Worte fasse.“ (Vgl. Plessner 1980 (1923), S.214f.)

Dieser Zusammenhang von Stimme und Artikulation bildet ebenfalls eine Art ‚Haltung‛, wie sie Merleau-Ponty als „Sprachgebärde“ bezeichnet. Aber diese Sprech- und „Verstehenshaltung“ (vgl. meinen Post vom 21.07.2011) zielt bei Plessner nicht auf eine Verschmelzung von Denken und Sein. Sie beinhaltet vielmehr als spezifisch menschliche Haltung eine grundsätzliche Differenz zwischen Meinen und Sagen und zwischen Wollen und Handeln. Dabei ermöglicht das psychische Zwischenreich in seiner syntagmatischen Empfänglichkeit für die geistige Artikulation, daß wir mit Hilfe des Sprechens unsere Gefühle regulieren können. Wir müssen unser Wollen nicht mehr unmittelbar in Handeln umsetzen. Das Sprechen bringt mit Hilfe der syntagmatischen Gliederung unserer psychischen Zustände „Erregung, Spannung und Entspannungstendenz“ hervor und hilft uns so dabei, unsere Weltwahrnehmung zu organisieren, ohne zu handeln. (Vgl. Plessner 1980 (1923), S.246)

Die Sprache reicht also in beide Bereiche des Bewußtseins, in den präsentativen und den repräsentativen, hinein und bezieht diese aufeinander, ohne ihre Differenz aufzuheben. Sie ermöglicht eine Art ‚Kooperation‛ zwischen präsentativem und repräsentativem Bewußtsein und damit ermöglicht sie einen personalen, subjektiven Bezug auf die Welt: „Der Geist arbeitet von zwei Seiten sprachbildend, vom Sinn her syntagmatisch, von der Anschauung her anteilnehmend und muß von diesen beiden Seiten her kooperierend vorgehen, um die Welt zu bedeuten.“ (Plessner 1980 (1923), S.246)

Bedeutung und Sinn als Formen eines subjektiven Bezugs auf die Welt entstehen also aus der syntagmatischen Kooperation von leib-psychischen und psychisch-geistigen Momenten der Person, denen jeweils die Zustandssinne und die Gegenstandssinne entsprechen. Dabei ist das „besondere Kennzeichen der Zustandssinnesorgane“ ihre „Sinnfreiheit“ (vgl. Plessner 1980 (1923), S.270). Damit ist gemeint, „daß in ihrem Material keine eigene Sinngebung stattfindet, während wir eben bei Gesicht und Gehör solche spezifischen Vergeistigungsmöglichkeiten antreffen.“ (Vgl. Plessner 1980 (1923), S.269)

Genau diese ‚Sinnfreiheit‘ des psychischen Zwischenreiches macht es gerade so geeignet, die materiale Seite der Welt einerseits ins Bewußtsein zu heben und dieses ‚Material‛ zugleich zu artikulieren, d.h. ihm Bedeutung zu verleihen. Der psychische Zustand befindet sich zu Beginn der menschlichen Ontogenese sozusagen im Wartestand; er wartet auf seine ‚Prägung‛ auf und durch Gegenstände: „Gestaltete Einheiten ohne jeden Hinweis auf Sinnesdaten, Tendenzen und Verbindungen ohne Empfindungsstofflichkeit beherrschen das bewußte Seelenleben. Getragen und getrieben wird es von der unbewußten seelischen Realität.“ (Vgl. Plessner 1980 (1923), S.271)

Hier ist noch alles möglich, – auch jede Perversion, in der Schädliches als lustvoll und Nützliches als unangenehm und angsteinflößend erlebt wird. Unsere soziale Welt, die Lebenswelt, liefert uns in unseren ersten Lebensjahren viele Deutungsmöglichkeiten für das, was uns widerfährt, und die psychische Zwischenwelt richtet sich darauf ein, weil sie für jede Artikulationsmöglichkeit so empfänglich ist.

Hier in der Zwischenwelt haben wir auch jenen Aspekt des Bewußtseinslebens, der einer Verschmelzung von Denken und Sein am nächsten kommt. Denn ungeachtet der in der Brechung des Intentionsstrahls (vgl. meinen Post vom 29.10.2010) zum Ausdruck kommenden grundlegenden Differenz zwischen Ausdruck und Sinn und zwischen Leib und Lebenswelt ist die Plastizität, die Prägbarkeit des Seelenlebens auf eine bestimmte Wahrnehmungsstruktur enorm. Wir haben es mit einer fließenden Seinsform zu tun, die sich den verschiedensten Sinngebungen anzupassen vermag: „Sie erschöpft sich nie im Gewordenen, sondern passiert dieses Stadium der Bestimmtheit und Erschöpftheit nur, um wieder ins Werden, in die lebendige Aktualität überzugehen. Aus einem unauslotbaren Quellgrund, dem Innern, steigen ihre schwer faßbaren Qualitäten ins Licht des Bewußtseins, an dem sie wieder wie alle echten Geschöpfe der Nacht zergehen. Die Seele ist allemal zweideutig, ihre Geheimnisse weichen vor jedem Versuch der Enträtselung in andere Tiefen zurück. Jedes Seelische hat also eine Bestimmtheit, die Laune, der Schmerz, die Liebe, das echte Gefühl, die falsche Freude lassen sich fassen, aber erfaßt zerrinnen sie unter dem Griff der Wahrnehmung, wie wir erwachen, wenn wir träumen, daß wir träumen. Aus dem Urgrundcharakter, noch besser sagte man Ungrundcharakter der Psyche, aus ihrer Quellnatur folgt also, daß sie mehr ist als bloßer Strom oder Gerinnen der Strömung zu fester Gestaltung. Sie ist Werden und Sein in einem, weil sie zugleich die Genesis von beiden ist.“ (Plessner, Grenzen der Gemeinschaft, 2001 (1924), S.62)

Als psychisches Zwischenreich haftet die Seele an keinem bestimmten Sein, und wenn sie es doch tut und sich zu verfestigen beginnt, drohen die erwähnten Perversionen. – „Weil eben die Seele nur in extremen Fällen quasi dinghafte Momente und Seiten (‚Komplexe‘) gewinnt, unter deren objektiver Macht die Person dann leidet, im Normalfall aber in einer eigenartigen aktuellen und zugleich gestalteten Vollzugsform eines ewigen Überganges von Strebung zu Strebung lebt ...“ (vgl. Plessner, 2001 (1924), S.63), deshalb ist eine ihrer wichtigsten Eigenschaften die Berührungsempfindlichkeit, die ein solches Verschmelzen mit einem bestimmten Sein, das ‚Gerinnen‛ zu einer unbeweglich gewordenen Lebenszwangswelt verhindert. Plessner spricht vom „Noli me tangere“ der Seele: „Seele ist ein ‚Noli me tangere‘ für das Bewußtsein, das in die Tiefe des Unbewußten strebt, um die ganze Kraft des Menschen zu mobilisieren, in einheitliche Richtung zu bringen und in den Dienst seiner Ziele zu stellen.“ (Plessner 2001 (1924), S.65)

Der syntagmatischen Zugänglichkeit der psychischen Zwischenschicht für alle Formen der Artikulation entspricht deshalb eine seelische Scheu, sich im gefundenen Ausdruck ‚ding‛-fest machen zu lassen. Dies ist eine weitere Version der Brechung des Intentionsstrahls im je gefundenen Ausdruck: daß sich die Seele, kaum in ihrer Befindlichkeit ausgesprochen, wieder in sich zurückzieht und den gefundenen Ausdruck nur als eine leere Hülle zurückläßt. Die Seele fürchtet die Sichtbarkeit als eine Form der Nacktheit und Schutzlosigkeit: „Alles Psychische, das sich nackt hervorwagt, es mag so echt gefühlt, gewollt, gedacht sein, wie es will, es mag die Inbrunst, die ganze Not unmittelbaren Getriebenseins hinter ihm stehen, trägt, indem es sich hervorwagt und erscheint, das Risiko der Lächerlichkeit. Der pure Affekt, das Sich-loslassen der Seele in den Ausdruck hinein, die Unmittelbarkeit der Äußerung, die wahrhafte Rückhaltlosigkeit in der Manifestation der Urteile ebenso wie der Handlungen oder des Mienenspiels wirkt – vielleicht nicht notwendig, aber immer möglicherweise – lächerlich.“ (Plessner 2001 (1924), S.70)

Plessners Gliederung der Person in Körper, Seele und Geist beinhaltet also eine Anthropologie, die jenseits einer bloß traditionellen Begrifflichkeit auf eine Grundbefindlichkeit des menschlichen In-der-Welt-Seins hinzielt. In diesen Begriffen kommen jahrtausendealte kulturelle Intuitionen zur Sprache, die man nicht leichtfertig aufgeben sollte. Mir ist dabei vor allem wichtig, daß sich hier ‚Spielräume‛ eröffnen, denen das individuelle Bewußtsein seine Beweglichkeit verdankt, – und zwar nicht die Beweglichkeit einer Marionette. Nur im wechselseitigen Bezug von präsentativem und repräsentativem Bewußtsein, von Seele und Geist, von Naivität und Kritik entsteht der Freiraum für einen eigenständigen Verstandesgebrauch.

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Dienstag, 24. Januar 2012

Käte Meyer-Drawe, Diskurse des Lernens, München 2008

  1. Prolog zum Stand der Literatur
  2. Lebenswelt: Inanspruchnahme und Suspension
  3. Vollzug und Reflexion, Naivität und Kritik
  4. Anfangen, Loslassen und die Kunst des Bogenschießens
  5. Welt, Wahrnehmung und Halluzinationen
  6. Lernbegriffsirrwege
  7. Hirnforschung: Wo die stumme Natur wieder zu sprechen beginnt.
  8. Informationen, Netzwerke und geschlossene Systeme
  9. Bewußtsein und Sinn
  10. Plessner versus Merleau-Ponty: „Es gibt keine Verschmelzung von Denken und Sein“!
  11. Zur Funktion der Geometrie in Platons Sklavenszene
Zum Schluß möchte ich mich noch einmal einem Thema zuwenden, das in der Pädagogik immer viel diskutiert worden ist, bei dem aber auch oft gravierende Fehler gemacht wurden und werden. Es handelt sich um die berühmte Sklavenszene in Platons Dialog „Menon“. Diese Sklavenszene enthält eine mathematische Problemstellung, die für mathematische Laien offensichtlich so verwirrend ist, daß die entscheidende Fragestellung immer wieder falsch wiedergegeben wird, was dazu führt, daß auch das damit verbundene Problem – nämlich ob Tugend lehrbar ist – überhaupt nicht verstanden wird.

Ich selbst bin in gewisser Weise ein Opfer dieser Verwirrung, weil ich in zahlreichen Lehrveranstaltungen an der Universität schon so oft versucht habe, meinen Studenten die mathematische Problemstellung verständlich zu machen und dabei immer wieder über die entscheidende mathematische Frage, wie sie Sokrates dem Sklaven stellt, gestolpert bin. Sokrates’ Aufgabenstellung besteht darin, daß der Sklave ein vorgegebenes Quadrat von 2 Fuß Seitenlänge verdoppeln und dann die Seitenlänge des doppelt so großen Quadrates angeben soll: „Wohlan denn, versuche mir zu sagen, wie lang jede Seite desselben sein wird. Die Seite unseres Viereck hier ist zwei Fuß lang; wie lang wird nun aber die Seite des doppelten sein?“ (Menon, 82 St.)

Für jeden geschulten Mathematiker ist wahrscheinlich sofort klar, worin hier das Problem liegt. Aber für einen mathematischen Laien – und der Sklave ist ganz offensichtlich so ein mathematischer Laie – ist dieses Problem ganz und gar nicht so offensichtlich. Die schnelle Antwort, die hier auf der Hand liegt, lautet 4 Fuß, weil man einfach die Seitenlänge verdoppelt, ähnlich wie man die 4 Quadratfuß des gegebenen Quadrats zum 8 Quadratfuß großen Quadrat verdoppelt. Und schon ist man dem Sokrates in die Falle getappt, denn die Antwort ist falsch.

Wenn man, wie ich, mathematischer Laie ist und auch sonst – von den eigenen leidvollen Schulerfahrungen her – eher die Neigung hat, der Mathematik aus dem Weg zu gehen und deshalb nicht so genau hinsieht, greift man zum einen gern auf die Darstellungen anderer zurück, die die Sklavenszene ebenfalls nicht so genau gelesen haben, und reproduziert deren Fehler, oder – wenn man sich denn dazu durchringt, die Sklavenszene selbst zu lesen – man liest sie so oberflächlich, daß einem der Unterschied zwischen der Seitenlänge und der Fläche des doppelt so großen Quadrates nicht bewußt wird und spricht weiterhin – wie ich in meinen Lehrveranstaltungen – nur von der Fläche und nicht von der Seitenlänge. Das ist mir nicht nur selber so ergangen; ich habe es auch immer wieder bei anderen Autoren so gelesen, die Sokrates’ Frage so verdrehten, daß sie ihn nicht nach der Seitenlänge, sondern nach der Fläche fragen ließen.

Dabei ist die Fläche überhaupt kein Problem, denn Sokrates und der Sklave sind sich von Anfang an einig, daß das doppelt so große Quadrat eine Fläche von 8 Quadratfuß hat. Nur bei der Seitenlänge findet der Sklave einfach keine Lösung. Alle Zahlen, die er und Sokrates als mögliche Lösungen in Betracht ziehen, erweisen sich als falsch. Dabei kreisen sie den Bereich der in Frage kommenden Zahlen zunächst so weit ein, daß die gesuchte Zahl irgendwo zwischen 2 und 4 Fuß liegen muß. Denn 2 Fuß beträgt die Seitenlänge des gegebenen Quadrates und 4 Fuß beträgt die Seitenlänge eines Quadrates, das nicht doppelt so groß, sondern vierfach so groß ist wie das gegebene Quadrat. Dabei stellen sie fest, daß die Lösung auch nicht 3 Fuß sein kann, weil das entsprechende Quadrat mit 9 Quadratfuß immer noch größer ist als das gesuchte doppelt so große Quadrat mit seinen 8 Quadratfuß. Letztlich muß also die gesuchte Zahl irgendwo zwischen 2 und 3 Fuß liegen.

An dieser Stelle wiederholt Sokrates nochmal seine Aufgabenstellung und deutet dabei schon auf die mögliche Lösung hin: „Sokrates. Also auch die dreifüßige Seite ergibt noch nicht das achtfüßige Quadrat. / Sklave. Offenbar noch nicht. / Sokrates. Aber wie groß muß sie denn sein? Versuche es uns genau anzugeben; und wenn du es nicht ausrechnen willst, so zeige uns in der Figur die betreffende Linie.“ (Menon, 83 St.f. (Hervorhebung – DZ))

Die Zahl, die irgendwo zwischen 2 und 3 Fuß liegen muß, ist nämlich keine normale Zahl mehr, sondern irrational. Der Sklave kann sie gar nicht berechnen, denn jeder Versuch, die Zahl zu bestimmen, führt zu einer endlosen Ziffernreihe. Man kann den Bereich, in dem sich die gesuchte Zahl befindet, immer weiter verkleinern und kommt dann im Verlauf weiterer Rechenschritte auf irgendwo zwischen 2,8 und 2,9 und so immer weiter. Ich weiß von einem Kollegen, der in seinen Lehrveranstaltungen die Studenten immer kleinere Zahlenbereiche berechnen ließ. Das ist sicher eine nützliche mathematische Übung, aber dabei droht man völlig aus dem Auge zu verlieren, daß es Sokrates um etwas völlig anderes ging als um die Bestimmung einer arithmetischen Ziffernfolge.

Denn daß die Seitenlänge arithmetisch nicht auf den Punkt gebracht werden konnte, war für die griechische Philosophie damals ein Desaster. Bis zur Entdeckung der irrationalen Zahlen war man davon ausgegangen, daß alles immer mit ganzen Zahlen berechnet können werden muß. Als man feststellte, daß es Größenverhältnisse gibt, die sich nicht in ganzen Zahlen ausdrücken lassen – und das ist bei der Seitenlänge des 8 Quadratfuß großen Quadrates der Fall –, verlor die Arithmetik ihre bis dahin unbestrittene philosophische Bedeutung (Stichwort Pythagoräer!). Bei Platon trat die Geometrie an die Stelle der Arithmetik und wurde in seiner Akademie zur wichtigsten philosophischen Disziplin.

Warum die Geometrie? Weil mit ihrer Hilfe die gesuchte Seitenlänge konstruiert und so anschaulich gemacht werden konnte. Wenn man durch das gegebene 4 Quadratfuß große Quadrat die Diagonale zieht, hat man die gesuchte Seite des doppelt so großen Quadrates gefunden. Man sieht sie mit seinen eigenen Augen! Man kann zwar immer noch nicht ihre Zahl berechnen, aber man kann sie sehen! Das macht die Geometrie der Arithmetik so überlegen. Was bedeutet das nun für die Lehrbarkeit der Tugend? – Darauf werde ich am Ende dieses Posts zurückkommen.

Zunächst zu Meyer-Drawe: auch sie bezieht sich in „Diskurse des Lernens“ auf die Sklavenszene und liefert eine eigene Deutung. Dabei macht sie den schon beschriebenen Fehler, indem sie die Fragestellung durcheinanderbringt: „Der Sklave soll nämlich dieses Quadrat in seinem Flächeninhalt verdoppeln, ohne dass es seine Gestalt verändert. Vor dem Hintergrund der damaligen Mathematik bedeutet dies, dass nach einer Lösung zu suchen ist, zu der man auf anschaulichem Wege nicht gelangen kann.“ (M.-D. 2008, S.204)

Auch hier haben wir wieder den Bezug auf den Flächeninhalt, nicht auf die Seitenlänge. Das führt bei Meyer-Drawe zu einer seltsamen Problemformulierung, in der das Problem nicht mehr in der Berechenbarkeit, sondern in der Anschaulichkeit liegt. ‚Seltsam‘ mutet es deshalb an, weil es einerseits überhaupt kein Problem bei der Verdopplung der Quadratfläche gibt: das Doppelte von 4 Quadratfuß sind nun mal 8 Quadratfuß. Das kann jedes Kind und auch der Sklave berechnen! Außerdem gibt es überhaupt kein Problem dabei, ein Quadrat zu vergrößern, ohne daß es seine Gestalt verliert; denn auch ein doppelt so großes Quadrat ist immer noch ein Quadrat und kein Trapez oder Raute und auch kein Rechteck mit jeweils nur zwei gleichen Seiten etc.

Auch bei den Zahlen bringt Meyer-Drawe einiges durcheinander. Zunächst wird noch einmal das Problem mit der Seitenlänge angesprochen, – nur daß diese hier nicht mehr das Ziel der Fragestellung ist, sondern nur ein Weg, über den man zu dem gesuchten doppelt so großen Quadrat gelangen kann: „Seine (des Sklaven – DZ) anschauliche Lösung, nämlich die Seitenlänge zu verdoppeln, führt allerdings in die Irre, wie er durch eigene Rechnung bestätigen kann ...“ (M.-D. 2008, S.204) – Für den Sklaven stellt sich also nach Meyer-Drawe zunächst das Problem, das doppelt so große Quadrat über die Berechnung der Seitenlänge zu finden, – nicht etwa, weil ihm Sokrates genau diese Seitenlänge zur Aufgabe gestellt hätte, sondern weil es angeblich einzig und allein um die Verdopplung der Quadratfläche geht und die Berechnung seiner Seitenlänge dabei helfen würde, das doppelt so große Quadrat zu konstruieren.

Dabei bringt Meyer-Drawe auch die arithmetische Inkommensurabilität von Quadrat und Diagonale zur Sprache, – nur eben nicht als aktuelle, vom Sklaven zu bewältigende Aufgabe, sondern als altbekanntes Wissen. (Vgl.M.-D. 2008, S.204) Da es hier also auf die Seitenlänge nicht so sehr ankommt, fällt es dann auch nicht weiter auf, wenn Meyer-Drawe die gesuchte Zahl nicht irgendwo zwischen 2 und 3 verortet, sondern „zwischen 3 und 4“. (Vgl. ebenda)

Die Sklavenszene wird also in ihrer Aufgabenstellung völlig verdreht und sogar die Zahlenverhältnisse werden verfälscht wiedergegeben. Worauf will Meyer-Drawe dann aber hinaus? – Sie führt tatsächlich eine ganz neue Lehrer-Schüler-Konstellation ein, die in der Szene so gar nicht besteht. So wird z.B. aus dem Umstand, daß der Sklave griechisch spricht (vgl.M.-D. 2008, S.203f.), geschlossen, daß er sich in der damaligen griechischen Mathematik gut auskennt. Dann wird auch noch eine in der Sklavenszene gar nicht thematisch werdende Form der Mathematik eingeführt, die der Sklave ‚anwendet‘: „Der Sklave wendet die ihm vertraute Gnomonmathematik an, welche die Sonnenuhr als geometrisches Modell der Welt voraussetzt.“ (M.-D. 2008, S.204)

Aber der Sklave ‚wendet‘ an keiner Stelle irgendetwas ‚an‘! Es ist vielmehr Sokrates, der den Sklaven mit Fragen traktiert und ihm auch gleich selbst die in Betracht kommenden Antworten in den Mund legt, so daß dem Sklaven zumeist nichts anderes übrigbleibt, als mit „Ja!“ und „Nein!“ die Ausführungen des Sokrates zu begleiten und zu bestätigen. Sokrates wiederum zeichnet zwar verschieden große Quadrate in den Sand, um die gesetzmäßigen Größenverhältnisse zwischen ihnen zu veranschaulichen, aber nicht um irgendwelche gnomonmathematische Problemstellungen zu thematisieren, sondern um jene vertrackte Seitenlänge des doppelt so großen Quadrates ausfindig zu machen. Die Gnomonmathematik wird von Meyer-Drawe einfach von außen der Szene hinzugefügt, hat aber mit der von Platon erzählten Szene selbst nicht das geringste zu tun, – es sei denn, man wertet die übereinander gestaffelten Quadrate als Hinweise auf die Gnomonmathematik.

Indem der Sklaven jetzt aber – trotz seiner offensichtlichen mathematischen Unbedarftheit (Sokrates glaubt, ihm eigens erklären zu müssen, was eine Diagonale ist (vgl. Menon, 85 St.)) – zu einem Experten der Gnomonmathematik stilisiert und ihm ein aktiverer Anteil an der Konstruktion der Quadrate zugebilligt wird, als er in der Szene tatsächlich hat, kann nun Sokrates selbst in die Rolle des Schülers versetzt werden, so daß wir jetzt kein einseitiges Lehrer-Schüler-Verhältnis mehr haben: „Aus dem ihm vertrauten Umgang mit der Gnomonmathematik war der Sklave bislang davon überzeugt, durch Ergänzung Flächen unproblematisch vergrößern zu können, ohne dass diese Flächen ihre Gestalt verlieren. Sokrates wird vom Sklaven gleichsam an die vergessenen Möglichkeiten der Gnomonmathematik erinnert, der Sklave an die Grenzen anschaulicher Lösungen. Beide sind benommen: der eine, weil er sich als Nichtwissender in der Sache erkennt, der andere, weil er sich als Unwissender im Hinblick auf eine andere Weise des Wissens durchschaut.“ (M.-D. 2008, S.204)

Damit aber hat Meyer-Drawe den Sinn der ursprünglichen Sklavenszene in sein völliges Gegenteil verkehrt. Anstatt an den Grenzen der Arithmetik mit Hilfe der Geometrie die Bedeutung der Anschauung hervorzuheben und so auch einer Lösung für die Frage nach der Lehrbarkeit der Tugend näher zu kommen, dient die Sklavenszene jetzt ganz im Gegenteil dazu, die Grenzen der Anschauung deutlich zu machen und auf die Wechselseitigkeit des Lehr-Lernprozesses hinzuweisen.

Ich denke, daß ich mit meiner eigenen Deutung näher an der grundlegenden Problemstellung der Sklavenszene dran bin. Zunächst bleibt festzuhalten, daß die Sklavenszene – zusammen mit dem Mythos von der Seelenwanderung – eingeführt wird, um die Frage nach der Lehrbarkeit von Tugend zu beantworten. Zur Lehrbarkeit gehört Sokrates und Menon zufolge deren Definierbarkeit. Nur wohl definiertes Wissen kann auch gelehrt werden. Also muß auch die Tugend, soll sie lehrbar sein, eine Form des Wissens sein. Interessant ist nun, daß im Anschluß an die Sklavenszene die Frage nach der Definition der Tugend keine Rolle mehr spielt. Im Folgenden wird nur noch die Lehrbarkeit diskutiert, nicht aber mehr die Definierbarkeit der Tugend.

Irgendwie scheinen also Menon und Sokrates der Ansicht zu sein, daß mit dem Mythos von der Seelenwanderung und aufgrund der Sklavenszene die Frage nach der Definierbarkeit von Tugend nicht mehr so dringend sei. Ich habe jedenfalls den Eindruck, daß Sokrates hier zumindestens eine vorläufige Klärung herbeigeführt zu haben glaubt. Und diese besteht nach meiner Ansicht nicht in der Arithmetik, also in den Zahlen – die sich ja als ‚irrational‘ erwiesen haben –, sondern in der Geometrie. Die Geometrie basiert aber auf Anschauung.

Inwiefern trägt nun also die Anschauung zur Klärung der Frage nach der Tugend bei? Insofern sie an die Stelle der Definierbarkeit tritt: was wir anschauen können, brauchen wir nicht mehr zu definieren!

Im weiteren Dialogverlauf werden dann auch entsprechende Anschauungs-‚Objekte‘ für die Tugend vorgeführt: Themistokles, Aristides, Perikles, Thukydides. (Vgl. Menon, 93 St.-94 St.) Über die Tugendhaftigkeit dieser Männer besteht zwischen Anytos, mit dem Sokrates den Dialog an dieser Stelle fortführt, und Sokrates selbst kein Zweifel. Warum? Weil sie eine Definition von Tugend gefunden haben? Eben nicht! – Sondern nur, weil sie eine gemeinsame Anschauung von diesen Männern haben, die über jeden Zweifel erhaben ist.

Für die Lehrbarkeit von Tugend ist diese Anschauung aber keineswegs hilfreich. Denn soweit diese tugendhaften Männer Söhne hatten, waren sie nicht in der Lage, diese auch zur Tugend zu erziehen. Themistokles hat dabei bei seinem Sohn Kleophantos, der sich zum Tunichtgut entwickelt hatte, regelrecht versagt. Was ist das also für eine Art ‚Wissen‘, das auf Anschauung beruht, aber wegen fehlender Definierbarkeit nicht gelehrt werden kann? Sokrates schlägt vor, dieses Wissen als „wahre Meinung“ zu klassifizieren. Wir haben es also bei der Tugend mit einem Wissen zu tun, das auf Intuitionen beruht, was ja selbst wieder nur ein anderes Wort für ‚Anschauungen‘ ist.

Wir kommen also immer wieder auf den Aspekt des Anschauens zurück, wie eben auch die Auflösung der Frage in der Sklavenszene in einer geometrischen Demonstration besteht und nicht etwa in einer arithmetischen Formel. Wenn also angesichts der Eleganz der geometrischen Demonstration von Grenzen der Anschauung die Rede sein soll, dann liegen sie nicht in der Geometrie, sondern in der Tugend, bei der wir uns zwar auf das anschauliche Beispiel tugendhafter Männer durchaus einigen können, wo wir aber zugleich feststellen müssen, daß diese tugendhaften Männer es nicht geschafft haben, ihre Tugend an ihre Söhne weiterzugeben. Die Grenze der Anschauung liegt also darin, daß wir richtige bzw. ‚wahre‘ Intuitionen nur für uns selbst haben und sie nicht an andere weitergeben können.

Dennoch ‚gibt‛ es die Tugend, obwohl sie weder definiert noch gelehrt werden kann. Denn es gibt eine Form der Anschauung, die ‚Wissen‛ beinhaltet, also allgemeingültig ist, auch wenn sie nur individuell einsehbar ist. Dafür steht bei Platon die Seitenlänge des achtfüßigen Quadrates, so daß sie ganz ähnlich wie das Schöne bei Kant zu einen Symbol des Guten wird. Als solches hält die Geometrie die praktische Möglichkeit der Tugend offen, auch wenn keiner sagen kann, was sie ist.

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Montag, 23. Januar 2012

Käte Meyer-Drawe, Diskurse des Lernens, München 2008

  1. Prolog zum Stand der Literatur
  2. Lebenswelt: Inanspruchnahme und Suspension
  3. Vollzug und Reflexion, Naivität und Kritik
  4. Anfangen, Loslassen und die Kunst des Bogenschießens
  5. Welt, Wahrnehmung und Halluzinationen
  6. Lernbegriffsirrwege
  7. Hirnforschung: Wo die stumme Natur wieder zu sprechen beginnt.
  8. Informationen, Netzwerke und geschlossene Systeme
  9. Bewußtsein und Sinn
  10. Plessner versus Merleau-Ponty: „Es gibt keine Verschmelzung von Denken und Sein“!
  11. Zur Funktion der Geometrie in Platons Sklavenszene
Als ich mich in meinen Posts vom 20.11.2011 bis zum 24.11.2011 an einem Vergleich zwischen Plessner und Merleau-Ponty versuchte, wählte ich ein Kapitel aus Merleau-Pontys „Phänomenologie der Wahrnehmung“: „Der Leib als Ausdruck und die Sprache“. Einerseits schreckte ich davor zurück, das ganze, sehr umfangreiche und inhaltsschwere Buch zu lesen und geistig verarbeiten zu müssen, andererseits hatte ich den Eindruck, daß dieses Kapitel für einen Vergleich zwischen Plessner und Merleau-Ponty besonders ergiebig sein könnte. Ich hatte dabei einige Textstellen aus Waldenfelsens Buch „Das leibliche Selbst“ vor Augen, in dem Waldenfels sich gegen das Subjekt und insbesondere gegen den Begriff „Ausdruck“ wendet. (Vgl. meine Posts vom 05.01.2011 und 08.01.2011) Da sich Waldenfels dabei in seiner Argumentation u.a. ausgerechnet auf Plessner beruft, der eine sehr pointierte Position zur Expressivität des Menschen bezieht, glaubte ich, daß dies ein ‚Knackpunkt‘ auch für einem Vergleich zwischen Plessner und Merleau-Ponty sein könnte.

Aus dem genannten Kapitel zog ich den Schluß, daß Merleau-Ponty mit dem Begriff des ursprünglichen Sprechens auf eine Verschmelzung von Ausdruck und Sinn hinaus wollte. (Vgl. meinen Post vom 21.11.2011) Als „ursprüngliches Sprechen“ bezeichnet Merleau-Ponty eine bestimmte Phase des Sprechenlernens, die man insbesondere bei Kindern beobachten kann, wenn sie ihre Muttersprache erlernen. Hier kommen die Dinge, die ansonsten stumm bleiben, selbst zur Sprache, und zwar auf einer Ebene, in der die ganze leibliche Sinnlichkeit des Sprechen lernenden Kindes mit den Dingen – genauer: mit der Wahrnehmung der Dinge – verschmilzt. Ich hatte dieses ästhesiologische Zusammenspiel von Körper, Seele und Geist im Sprechen in meinem Post vom 21.07.2011 schon als ‚Verstehenshaltung‘ beschrieben. Dabei ging es mir aber vor allem um die verschiedenen ‚Schichten‘ des Bewußtseins, die in der Einheit der Person zusammenspielen, zum Teil auf fungierende, also lebensweltliche Weise, zum Teil aber eben auch ein explizites Selbstbewußtsein ermöglichend.

Bei Merleau-Ponty führt das aber zu einer Verschmelzung von Wort und Sinn. Bei Kindern – die so auch zu Urbildern für das sekundäre Sprechen der Erwachsenen werden – bezeichnen die Worte der Muttersprache die Dinge nicht nur, sondern sie sprechen sie aus. In ihnen kommt eine ansonsten stumme Erfahrung zu Wort. An dieser Stelle greift Merleau-Ponty ein altes phänomenologisches Anliegen auf: „Wie ein Motto fungiert die von Husserl an eine deskriptive Bewusstseinslehre gerichtete Aufgabe: ‚die reine und sozusagen noch stumme Erfahrung‘ zur Aussprache ihres eigenen Sinns zu bringen.“ (M.-D. 2008, S.137f.)

Da ich selbst mit Plessner davon ausgehe, daß es sich bei ‚Bedeutung‘ und ‚Sinn‘ um Differenzerfahrungen handelt (vgl. meinen Post vom 07.07.2011), in denen wir die Erfahrung des Scheiterns bei der Realisierung unserer Intentionen zur Sprache und damit zu Bewußtsein bringen, hatte ich diese Stellen deshalb auch entsprechend kritisiert, indem ich Merleau-Ponty vorwarf, ein Denker der Authentizität zu sein und nicht ein Denker der Masken- und Rollenspiele wie Plessner. Merleau-Pontys Beschreibung der Schauspielerei als Verschmelzung von Person und Rolle am Beispiel der Phädra bestätigte mich in dieser Auffassung.

Um so erstaunter war ich, als ich zunächst bei meiner Lektüre von Meyer-Drawes „Leiblichkeit und Sozialität“ (1984 (vgl. meine Posts vom 04.12.2011 bis zum 09.12.2011)) immer wieder auf gegenteilige Behauptungen stieß, – sowohl von Meyer-Drawe wie auch von Merleau-Ponty selbst, die beide beteuern, daß er kein Denker der Verschmelzung von Denken und Sein sei, sondern ein Denker ihrer prinzipiellen Nicht-Koinzidenz: „Wie wir an mehreren Stellen unserer Ausführungen betont haben, besteht eine radikale Nicht-Koinzidenz von Vollzug und Reflexion. Das gilt für die Reflexion der Sozialgenese, die immer zugleich auch Individualgenese ist, genauso wie für eine Theorie der Sprachentwicklung.“ (M.-D. 1984, S.161) – Gerade die Schlußbemerkung zur Sprachentwicklung verweist auf die Unstimmigkeit einer Theorie vom ursprünglichen Sprechen.

Dennoch stieß ich auch bei Meyer-Drawe immer wieder auf Formulierungen wie vom „inkarnierten Sinn“ (M.-D. 1984, S.134 u.ö.), der doch sehr an jenes ursprüngliche Sprechen erinnert, in dem Worte und Dinge miteinander – mir fällt hierfür einfach kein anderer Ausdruck ein – ‚verschmelzen‘. Wenn Merleau-Ponty tatsächlich ein konsequenter Denker der Nicht-Koinzidenz wäre, könnte es eben auch keinen inkarnierten Sinn geben; denn wie sollte man sich eine Inkarnation von Sinn vorstellen, in der Denken und Sein nicht koinzidieren?

Auf zwei Ebenen scheint es mir gerechtfertigt, Merleau-Ponty gegenüber – entgegen seiner eigenen Selbsteinschätzung – von ‚Verschmelzung‘ zu sprechen: auf der Ebene von Ausdruck und Sinn als ursprünglichem Sprechen und auf der Ebene von Sozialität und Leiblichkeit, als einer Ebene der Erfahrung, die jedem individuellen Bewußtseinsakt vorausgeht. Und beides beinhaltet letztlich die individuelle Unentrinnbarkeit der Lebenswelt. Ihr gegenüber wären wir dann prinzipiell unfrei, – was aber letztlich beinhaltet, daß wir tatsächlich immer unfrei wären. Damit wäre Bewußtsein als individuelles tatsächlich unmöglich.

In ihrem Buch „Diskurse des Lernens“ nimmt Meyer-Drawe aber nun durchgängig eine andere Position ein. Hier geht es nicht mehr um Sozialität und Leiblichkeit, sondern eben mit dem Lernen um gerade diese individuelle Freiheit. Dabei wird nicht länger der Frage nachgegangen, wie Sinn inkarniert, sondern es geht mit Plessner um vermittelte Unmittelbarkeit: „Im Lernen zeigt sich wie beim menschlichen Existieren überhaupt das, was Plessner die vermittelte Unmittelbarkeit und die natürliche Künstlichkeit nannte.“ (M.-D- 2008, S.32)

Weder ‚vermittelte‘ Unmittelbarkeit noch ‚natürliche‘ Künstlichkeit meinen so etwas wie ‚inkarnierte‘ Unmittelbarkeit oder ‚inkarnierte‘ Künstlichkeit. Die natürliche Künstlichkeit verweist vor allem darauf, daß dem Menschen seine Künstlichkeit so ‚natürlich‘ ist, wie den Tieren ihre Natur. Eine Unmittelbarkeit kann es bei ihm nicht auf unmittelbare Weise geben, sondern nur als prekären, jederzeit bedrohten Erwerb, wie etwa die Lebenswelt, in die wir hineinwachsen. Die Lebenswelt ist so eine Form vermittelter Unmittelbarkeit, der wir uns nie vollkommen sicher sein können, auch wenn wir um die Lebensweltlichkeit unseres Bewußteinslebens nicht wissen. Deshalb ist es hier unangemessen, von einem inkarnierten Sinn zu sprechen.

Letztlich formuliert Meyer-Drawe selbst genau diese Einsicht, wenn sie schreibt: „Es gibt keine Verschmelzung von Denken und Sein, auch nicht für den Fall, dass das Ich sein eigenes Sein denkt. Die Zweideutigkeit unserer Existenz mündet nicht in eine ursprüngliche Integrität.“ (M.D. 2008, S.139) – Zu dieser Aussage stehen die Theoreme des ursprünglichen Sprechens und des inkarnierten Sinns im Widerspruch.

Letztlich kommt es aber vor allem darauf an, daß Meyer-Drawe Plessners grundlegende These, daß menschliches Bewußtsein erst im Scheitern seiner Intentionen zum ‚Ausdruck‘ kommt, voll und ganz bestätigt: „In dieser Brechung sind sie (die Dinge – DZ) uns zugänglich. Jenseits dieser Matrix breitet sich die Nacht der Identität aus, die jede Artikulation unmöglich macht. Dass unsere Erfahrung nicht mit den Dingen und nicht mit unserer eigenen Vergangenheit verschmelzen kann, bedeutet ‚keine schlechte oder verfehlte Wahrheit, sondern eine privative Nicht-Koinzidenz‘ ..., einen grundsätzlichen Entzug, welcher Sinngebung möglich macht. Um die Welt zu verstehen, darf sie nicht selbstverständlich sein.“ (M.-D. 2008, S.140) – Und: „Gerade der Entzug des Sinns nötigt uns zur Sinngebung, die nicht pure Gebung ist.“ (M.-D. 2008, S.183)

Sinn widerfährt uns dann – wie eine Ohrfeige (vgl.M.-D. 2008, S.189) – und zugleich reflektieren wir ihn und bringen ihn in Form von Sprache zum Ausdruck, ohne daß Denken und Sein verschmelzen. Wir haben es mit zwei Ebenen zu tun, mit Vollzug und Reflexion (vgl. meinen Post vom 10.01.2012), die niemals in einem Sein koinzidieren.

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Käte Meyer-Drawe, Diskurse des Lernens, München 2008

  1. Prolog zum Stand der Literatur
  2. Lebenswelt: Inanspruchnahme und Suspension
  3. Vollzug und Reflexion, Naivität und Kritik
  4. Anfangen, Loslassen und die Kunst des Bogenschießens
  5. Welt, Wahrnehmung und Halluzinationen
  6. Lernbegriffsirrwege
  7. Hirnforschung: Wo die stumme Natur wieder zu sprechen beginnt.
  8. Informationen, Netzwerke und geschlossene Systeme
  9. Bewußtsein und Sinn 
  10. Plessner versus Merleau-Ponty: „Es gibt keine Verschmelzung von Denken und Sein“!
  11. Zur Funktion der Geometrie in Platons Sklavenszene
Wenn man bedenkt, wie sehr im Gefolge der Husserlschen Phänomenologie das Bewußtsein von der Irrationalität des Leiblichen und der Lebenswelt her in Frage gestellt wurde und wie sehr es z.B. Phänomenologen wie Merleau-Ponty und Waldenfels darauf anlegten, das Bewußtsein zu überwinden, ist es schon seltsam, daß einer der Hauptvorwürfe der kritischen Theorie (u.a. Adorno und Habermas) gegen Husserls Phänomenologie immer gewesen ist, daß es sich hier um eine Bewußtseinsphilosophie handelt. Daß die Kennzeichnung als „Bewußtseinsphilosophie“ überhaupt als Makel und Vorwurf verstanden wurde und wird, ist mir völlig unverständlich. Das hat sicher etwas damit zu tun, daß sich die Kritische Theorie vor allem an Kategorien der Gesellschaftstheorie und der Psychoanalyse orientiert. Aber da es der Kritischen Theorie dabei immer um Fragen der Identität und der Nicht-Identität ging und das sich den Begriffen entziehende Nicht-Identische das Grundmotiv in Adornos Negativer Dialektik bildet, liegen Phänomenologie und Kritische Theorie gar nicht so weit auseinander: ironischer Weise gerade dort, wo sich bei beiden philosophischen Positionen letztlich eben diese Bewußtseinskritk durchsetzt.

Dabei bietet gerade Husserl ein erstes, anerkennenswertes Beispiel für das antithetische Festhalten am Bewußtsein: „Seine (Husserls – DZ) Phänomenologie bleibt den Leistungen des Bewusstseins treu, aber nicht ohne Irritationen durch das, was dem Bewusstsein fremd ist.... Wie ein Motto fungiert die von Husserl an eine deskriptive Bewusstseinslehre gerichtete Aufgabe: ‚die reine und sozusagen noch stumme Erfahrung‘ zur Aussprache ihres eigenen Sinns zu bringen.“ (M.-D. 2008, S.137f.)

Dabei geht es allerdings nicht nur darum, am Bewußtseinsbegriff trotz der undurchschaubaren Fülle bewußtseinsfremder Phänomene festzuhalten: „Trotz der Achtung für die leibliche Verwicklung in eine organisierte Wahrnehmungswelt hält Gurwitsch am Primat des Bewusstseins und damit an der Freiheit des Ichs fest ... Merleau-Ponty, der seiner Befassung mit Gurwitsch vieles verdankt, war skeptisch im Hinblick auf die Freiheit in der leiblichen Erfahrung.“ (M.-D. 2008,  S.116) – Es ist aber keine Frage des Abwägens von Für und Wider, ob Freiheit in oder gegenüber der leiblichen Erfahrung möglich ist oder nicht. Wenn Gurwitsch am Bewußtsein festhält – trotz der leiblichen Verwicklung in eine organisierte Wahrnehmungswelt –, dann hat das einen guten Grund, dem bloßer Skeptizismus nichts anhaben kann: „Das Eigentümliche an konkreten Erfahrungsvollzügen ist, dass sie uns als vertraute nah, aber als erkannte fern sind. Die Reflexion kommt niemals an den Ort ihres Entspringens zurück. ... Manche Phänomenologen wie etwa Aron Gurwitsch, aber auch Jean-Paul Sartre haben daraus den Schluss gezogen, dass schließlich doch am Ende wieder das Bewusstsein steht, selbst wenn es für die leibliche Existenz Position ergreift.“ (M.-D. 2008,  S.211)

Es geht letztlich darum, zu verstehen, daß das Bewußtsein sowohl in dem Fremden seiner Herkunft, zu der es nicht zurückzukehren vermag, wie auch in dem Fremden seiner Gegenstände, mit denen es nicht verschmelzen kann, seinen Grund und seine Notwendigkeit hat. Diese Unmöglichkeiten einer Rückkehr zum Ursprung und einer Verschmelzung mit der Welt eröffnen den Raum einer Freiheit, in dem wir unserem Leben seinen Sinn erst geben müssen. Denn wir müssen unser Leben führen, wie Meyer-Drawe mit Bezug auf Plessner schreibt. (Vgl.M.-D. 2008, S.32)

Es ist also schlicht sinnwidrig, im Namen einer bewußtseinsunabhängigen „Sinnbildung“ den Anteil des Bewußtseins an der Sinnbildung zu leugnen. Denn es ist das Bewußtsein selbst, das sich am Widerstand des Bewußtseinsfremden seiner selbst bewußt wird: „Auch Phänomenologen glauben nicht, an die Dinge selbst heranzugelangen. Sie begegnen jemandem oder etwas stets in der Differenz des etwas als etwas. ... Im Unterschied zum Konstruktivismus zeigen phänomenologische Überlegungen allerdings, ‚wie sich die Wirklichkeit im Bewusstsein selbst als bewusstseinsunabhängig herausstellt.‘ ... Es gibt eine Sinnbildung, die nicht von der Sinngebung des Bewusstseins ausgeht. Etwas ist anregend. Etwas stört.“ (M.-D. 2008,  S.163)

Indem also das Fremde stört, stößt es das Bewußtsein aus seiner Lebenswelt heraus. Und obwohl die Lebenswelt selbst ein Bewußtseinsphänomen ist, kommt dieses Bewußtsein erst durch dieses Herausfallen zu sich selbst. Es löst sich aus der Bindung des immer-schon-Wissens und des immer-schon-Könnens und stellt sich einem ihm fremden Anspruch: „Das Bewusstsein kommt nicht allein für den Sinn auf. Es antwortet auf einen ihm fremden Anspruch, durch den es wie durch eine Ohrfeige getroffen werden kann. Bewusstsein ist nicht alles. Erfahrung meint damit die Öffnung zu einer Welt, die sich mitunter aufdrängt und fungierenden Erwartungen in die Quere kommen kann.“ (M.-D. 2008,  S.189)

Genau dieses Herausfallen, dieses Herausgestoßenwerden aus dem Paradies – dieser biblische ‚Sündenfall‘ – weckt das Bewußtsein und steht nicht im Widerspruch zu ihm. Das Bewußtsein ‚macht‘ zwar nicht das Herausfallen, aber es geht aus diesem Herausfallen hervor! Bewußtsein sollte deshalb nicht als Gegensatz von Erfahrung beschrieben werden. Ist die Erfahrung eine „Öffnung zu einer Welt“, so ist sie dies nicht nur als Widerfahrnis, sondern auch als Bewußtsein, insofern dieses aus der Widerfahrnis hervorgeht.

Bewußtsein ist der Raum zwischen der Erfahrung und den Dingen, mit denen die Erfahrung nicht verschmelzen kann, weil sie zur Außenwelt gehören, also fremd sind; und es ist der Raum zwischen der Erfahrung und unserer Vergangenheit, mit der sie ebenfalls nicht verschmelzen kann, weil sie uns fremd geworden ist. Bewußtsein ist die Nicht-Koinzidenz von Innenwelt und Außenwelt: „Dass unsere Erfahrung nicht mit den Dingen und nicht mit unserer eigenen Vergangenheit verschmelzen kann, bedeutet keine ‚schlechte oder verfehlte Wahrheit, sondern eine privative Nicht-Koinzidenz‘ ..., die grundsätzliche Versagung einer Vereinigung, welche Sinngebung erst möglich macht. Die Welt muss ihre Verlässlichkeit einbüßen, um uns fraglich und damit für uns zum Gegenstand werden zu können. Bewusstsein von der Welt und Welt selbst bleiben einer vollendeten Synthese beraubt, weil es eines Bruchs mit der Vertrautheit der Welt bedarf, damit ein Bewusstsein von Welt überhaupt entstehen kann.“ (M.-D. 2008,  S.97)

Der Bruch, der Hiatus, die Nicht-Koinzidenz, das Nicht-Identische, – das sind alles Beschreibungsformen für die Notwendigkeit eines Bewußtseins, das nicht einfach Sinn stiftet – etwa in Form einer lebensweltlichen Omnipräsenz –, sondern das Sinn stiften muß, weil es eben nicht omnipräsent ist. Der Mensch muß sein Leben führen, weil er sich zu seiner „Verhältnishaftigkeit“ ins Verhältnis setzen muß. (M.-D. 2008,  S.32)

Letztlich ist es der Bewußtseinsbegriff, der den beobachtbaren Hirnaktivitäten überhaupt erst eine Bedeutung verleiht. Hier macht Meyer-Drawe einen interessanten Unterschied zwischen „Syntax“ und „Semantik“: „Unsere Umgangssprache legt nahe, dass wir uns, falls wir uns informieren, immer auch über etwas informieren. Der kybernetische Begriff der Information bezieht sich aber nur auf ein formales Symbol. Neurobiologisch kommen Signale ins Spiel, die in bestimmten Veränderungen der Nervenzell-Ensembles räumlich abgelegt werden. Die spezifischen Bedeutungen von Erinnerungen z.B. sind formal nicht darstellbar. Diese Differenz von Syntax und Semantik ist zentral und fordert die präzise und konsequente Unterscheidung von Gehirn und Bewusstsein.“ (M.-D. 2008,  S.192)

Daß Nervenimpulse nur Signale darstellen, ist ein dezenter Hinweis auf ihre ‚Bedeutungslosigkeit‘. Signale habe ich schon in einem Post vom 23.08.2011 als Elemente von Reflexbögen beschrieben, – als Reize, die Reaktionen auslösen. Meyer-Drawe fügt dem noch den Begriff der Syntax hinzu. Damit scheint sie vor allem den internen Differenzierungsprozeß von formalen Zeichen zu meinen, während sie den Begriff der Bedeutung (Semantik) für den Bezug auf Gegenstände verwendet: wir reden über etwas, und deshalb reden wir miteinander. Nervenzellen kommunizieren aber nicht über etwas, sondern geben nur Signale weiter. Die ‚Infra-Struktur‘ dieses Austausches von Signalen, also die interne, funktionelle Anatomie des zentralen Nervensystems, bezeichnet Meyer-Drawe als Syntax.

Dieser Gebrauch des Syntax-Begriffs unterscheidet sich von dem bei Tomasello, der die extravagante Syntax als eine den Bedeutungsumfang erweiternde semantische Funktion beschreibt. (Vgl. meinen Post vom 27.04.2010) Bei Meyer-Drawe gibt es keine derartige Kontinuität zwischen Semantik und Syntax: „Allerdings führt keine Brücke von syntaktischen Strukturen zu semantischen Feldern. Dem Verstehen sind Grenzen gezogen. Neuropsychologische Untersuchungen zum Zusammenhang von Fühlen und Denken, die sich spezifischer Bilder bedienen, arbeiten mit einer Imagination hohen Ausmaßes, indem sie nicht konsequent unterscheiden zwischen neuronalen Prozessen im Sinne kausaler Beziehungen notwendiger Art und intentionalen sowie responsiven Strukturen hinreichender Art, welche nicht Ursachen, sondern Bedeutungen meinen.“ (M.-D. 2008, S.209)

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Freitag, 20. Januar 2012

Käte Meyer-Drawe, Diskurse des Lernens, München 2008

  1. Prolog zum Stand der Literatur
  2. Lebenswelt: Inanspruchnahme und Suspension
  3. Vollzug und Reflexion, Naivität und Kritik
  4. Anfangen, Loslassen und die Kunst des Bogenschießens
  5. Welt, Wahrnehmung und Halluzinationen
  6. Lernbegriffsirrwege
  7. Hirnforschung: Wo die stumme Natur wieder zu sprechen beginnt.
  8. Informationen, Netzwerke und geschlossene Systeme
  9. Bewußtsein und Sinn
  10. Plessner versus Merleau-Ponty: „Es gibt keine Verschmelzung von Denken und Sein“!
  11.  Zur Funktion der Geometrie in Platons Sklavenszene
Ich selbst hatte in einem Post vom 10.09.2011 schon einmal Parallelen zwischen dem Verstehen und der Emergenz als Kontextphänomenen gezogen. Die Parallele bezog sich vor allem auf den Irrationalismus des Übergangs vom Nicht-Wissen zum Wissen (Verstehen) einerseits und von der Gestaltlosigkeit zur Gestalt (von Agglomerationen zu Schwärmen) andererseits. Als ich dann in weiteren Posts Plessner und Merleau-Ponty miteinander verglich, hob ich vor allem den Widerspruch zwischen einer exzentrischen Bewußtseinsorientierung und einer dezentralisierten Leibphilosophie hervor, in dem ‚Gestalt‘ und ‚Emergenz‘ zwei antinomische Bewußtseinsprozesse darstellen. (Vgl. auch meine Posts vom 16.08.2011 und 24.11.2011)

‚Gestalt‘ ‚emergiert‘ nicht, sondern ‚transgrediert‘, d.h. sie fällt nicht aus Kontexten zufällig heraus, sondern aktualisiert einen konkreten Sinn, der sich ungeachtet seiner vielfältigen Bezüge auf identifizierbare Weise durchhält. Gestalten bilden ein aus Teilen bestehendes Ganzes, von dem die Teile sich nicht trennen können, ohne zugrunde zu gehen. ‚Schwärme‘ hingegen ‚transgredieren‘ nicht, sondern ‚emergieren‘, d.h. sie fallen spontan aus Kontexten heraus und aktualisieren eine kurzfristige Illusion von Zusammengehörigkeit. Sie bilden ein heterogenes Ganzes, von dem die Teile sich trennen können, ohne zugrunde zu gehen.

In meiner Auseinandersetzung mit Meyer-Drawes Weiterentwicklung der Merleau-Pontyschen Phänomenologie wendete ich mich insbesondere gegen jenen Aspekt seiner Leibphilosophie, der das Bewußtsein zugunsten einer Aufwertung von dezentralisierten und depersonalisierten Leibphänomenen entwertet. (Vgl. meine Posts vom 06.12.2011 und 08.12.2011) Nachdem ich in diesem Blog die Parallele zwischen Verstehen und Emergenz als Kontextphänomenen also schon angesprochen hatte, witterte ich hier bei Merleau-Ponty und Meyer-Drawe vor allem die Gefahr einer schleichenden Vereinnahmung phänomenologischer Denkansätze durch einen neuen, pseudo-naturwissenschaftlich fundierten Irrationalismus der Komplexitätsforschung, – ‚pseudo-wissenschaftlich‘ vor allem wegen der magischen Suggestivität einer mittels neuester Computertechnologien umgesetzten ‚narrativen Mathematik‘, deren bedenklichster Effekt darin besteht, uns in Platons Höhle zurückzuversetzen, so gebannt von den Computermonitoren, daß es anderer Fessellungen nicht mehr bedarf. (Vgl. meinen Post vom 31.08.2011)

An dieser Stelle aber berühren sich Meyer-Drawes Besorgnisse hinsichtlich der Hirnforschung (vgl. meinen letzten Post vom 19.01.2012) und meine eigenen Besorgnisse. Die hergestellten, konstruierten Realitäten hochtechnologischer naturwissenschaftlicher Forschungsmethodiken verlieren ihren aufklärerischen Wert und tragen nur noch zur Entmündigung des Menschen bei. In Meyer-Drawes Buch „Diskurse des Lernens“ bildet nun die dezentrale Struktur keine begrüßenswerte Alternative mehr zur beklagten Einseitigkeit von Subjekt-Objekt-Differenzierungen, die es zu überwinden gelte. Vielmehr haben wir es hier nur noch mit einer „(h)ervorstechende(n) Eigenschaft des Internets als Netz der Netze“ zu tun. (Vgl. Meyer-Drawe 2008, S.37)

Weit davon entfernt, die Bewußtseinsphilosophie und ihre Subjekt-Objekt-Dualismen überwinden zu wollen, wird nun beklagt, daß die „souveräne Gestalt von Subjektivität ... dem Knoten im Netz Platz gemacht (hat).“ (Vgl. Meyer-Drawe 2008, S.37) – Denn eines kann keine Schwarmintelligenz, kein Netzwerk begreiflich machen: „... wie das Gehirn als ‚extrem dezentral organisiertes System‘ zu einer ‚zusammenhängenden Deutung von Welt‘ gelangt.“ (Vgl. Meyer-Drawe 2008, S.188) – Meyer-Drawe ist offensichtlich durch die Entwicklung des letzten Vierteljahrhunderts, seit Erscheinen ihres Buches „Leiblichkeit und Sozialität“ (1984), angesichts der wissenschaftlichen Entwicklung empfindlich geworden für diese schleichende Entmündigung des Verstandes, zu dessen Stärkung dieser Blog vor allem beitragen soll: „Die Tabuisierung rationaler Aufklärung lässt stets aufhorchen. Die Grenzen der Vernunft sollten durch sie selbst bestimmt und nicht diktiert werden.“ (Meyer-Drawe 2008, S.111)

Die Neigung der Phänomenologen, dem Irrationalen das Wort zu reden, gegen rationalistische Verengungen von Wahrnehmung und Erfahrung Position zu beziehen, rührt von einem feinen Gespür für die Gefahren des wissenschaftlichen und technologischen Fortschritts. Phänomenologen wie Hermeneutiker wissen um die enorme Bedeutung des Vorwissens und – insbesondere wiederum die Phänomenologen – auch um die Bedeutung außersprachlicher Bewußtseinsphänomene. Das ist ihre Stärke und zugleich ihre Schwäche, wie man am Beispiel Merleau-Pontys sehen kann, der gerade die außer- und vorsprachlichen Bewußtseinsphänomene gegen das Bewußtsein selbst wendet und es so in Frage stellt.

Aber aktuell liegt die Gefahr vor allem darin, daß solche Ansätze gerade von denen bestätigt werden, gegen die sich die phänomenologische Wissenschaftskritik einmal gewandt hatte. Hirnforschung und Phänomenologie begegnen sich in der Destruktion des Bewußtseins. Wo die einen den Leib und seine Vollzüge gegen das Bewußtsein setzen, sprechen die anderen von Informationen, die über Nervenfasern kommuniziert werden (vgl. Meyer-Drawe 2008, S.208), was diese nur noch untereinander und mit sich selbst tun, sich selbst organisierend und geschlossen gegenüber der Außenwelt: „Hirnphysiologisch kann gezeigt werden, dass das Gehirn auf sich selbst reagiert, dass es wie ein selbstreferentielles, operativ geschlossenes System funktioniert.“ (Meyer-Drawe 2008, S.191)

Subjekt ist nicht mehr der Mensch, sondern das Gehirn: „Cerebrale Agenten wie das entscheidende, wählende, kommunizierende und fühlende Gehirn treten an die Stelle des modernen Subjekts.“ (Meyer-Drawe 2008, S.210) – Und: „Sie (die neuronale Maschine – DZ) funktioniert wie ein Datenverarbeitungssystem, das geschlossen operiert, weil es nur auf interne Signale reagiert. Das menschliche Gehirn ist in diesem Zusammenhang zum absoluten Souverän avanciert. Nicht mehr das autonome Subjekt ist das Zentrum, um das alles kreist, sondern das Gehirn, das denkt, kommuniziert, bewertet, entscheidet, interpretiert und lernt.“ (Meyer-Drawe 2008, S.162)

Nicht mehr eine phänomenologische Kritik des Bewußtsein ist also an der Zeit, sondern seine phänomenologische Stärkung: daß der Mensch selbst es ist, der seinen Verstand gebraucht und nicht eins seiner Organe! Und daß es unsere Sinnesorgane sind, die uns mit der Realität konfrontieren, und nicht apparative Technologien, deren Funktionalität wir nicht mehr durchschauen! In der Verteidigung dieser Humanität kommt Meyer-Drawe schließlich zur letzten Konsequenz jeder Leibphilosophie, – der Verknüpfung von Verstand und Körper, zum Körperleib: „Unserem Denken ist eine Auslieferung an die Welt eingeschrieben, welche unüberwindlich ist, so dass wir unsere Vernunft, unseren Verstand oder auch unseren Geist verfehlen, wenn wir sie ohne Körper begreifen wollen.“ (Meyer-Drawe 2008, S.212)

Hierin, in dieser Verknüpfung von Verstand und Körper, hat der phänomenologische Hang zum Unmittelbaren und zum Irrationalen sein Recht. Das eine darf aber nicht gegen das andere ausgespielt werden.

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Donnerstag, 19. Januar 2012

Käte Meyer-Drawe, Diskurse des Lernens, München 2008

  1. Prolog zum Stand der Literatur
  2. Lebenswelt: Inanspruchnahme und Suspension
  3. Vollzug und Reflexion, Naivität und Kritik
  4. Anfangen, Loslassen und die Kunst des Bogenschießens
  5. Welt, Wahrnehmung und Halluzinationen
  6. Lernbegriffsirrwege
  7. Hirnforschung: Wo die stumme Natur wieder zu sprechen beginnt. 
  8. Informationen, Netzwerke und geschlossene Systeme
  9. Bewußtsein und Sinn
  10. Plessner versus Merleau-Ponty: „Es gibt keine Verschmelzung von Denken und Sein“!
  11. Zur Funktion der Geometrie in Platons Sklavenszene
Rousseau verwendet in seinem Roman „Emile oder über die Erziehung“ große Sorgfalt auf die Frage, wie Emile am besten lernt, seinen eigenen Verstand zu gebrauchen. (Vgl. hierzu auch meinen Post vom 05.06.2010) Um zu vermeiden, daß er sich daran gewöhnt, sich der Autorität anderer, erfahrenerer Menschen als er selbst zu unterwerfen, schlägt er vor, seine Erziehung in der Kindheit, also bis in die Vorpubertät, ganz auf die Ausbildung seiner Sinnesorgane zu konzentrieren. (J.-J. Rousseau, Emile, Stuttgart 1963,S.109ff., 2. & 3. Buch) Emile soll lernen, ihre jeweiligen Leistungen zu unterscheiden und zu prüfen, um nicht zu falschen Schlußfolgerungen hinsichtlich dessen zu gelangen, was er mit ihrer Hilfe wahrnimmt. Die Natur ist hierbei Gegenstand und Lehrmeister in einem. Sie stellt sowohl die Gegenstände als auch die Mittel ihrer Wahrnehmung in Form der Sinnesorgane bereit, ohne irgendwelche an sie gerichteten Fragen zu beantworten. Die Antworten muß sich Emile im übenden Gebrauch seiner Sinnesorgane mithilfe seines Verstandes selbst geben: „Da er gezwungen ist, sich alles selbst beizubringen, braucht er seinen eigenen Verstand und nicht den anderer: denn um nichts auf die Meinung der anderen zu geben, darf man auch nichts auf die Autorität geben. Die Mehrzahl unserer Irrtümer kommt viel weniger aus uns selbst als von den anderen.“ (Rousseau 1963, S.435)

Dabei sind es bis zur Pubertät vor allem Fragen der Nützlichkeit und der Notwendigkeit (Rosseau 1963, S.209f.), die den Verstand des Kindes beschäftigen, und nicht die letztlich metaphysischen oder moralischen Fragen nach dem Wesen der Dinge: „Er versucht keineswegs, die Dinge an und für sich zu erkennen, sondern nur in den Beziehungen, die ihn angehen.“ (Rousseau 1963, S.436)

Das herausragende Kennzeichen einer Erziehung durch die Natur und die Dinge ist deren Stummheit. (Vgl. Rousseau 1963, S.109ff.) Alle beredten Erkenntnisquellen von den Mitmenschen bis zu Büchern oder Unterrichtsmedien in Form von Modellen und Apparaten hindern das Kind daran, seinen eigenen Verstand zu gebrauchen, weil sie ihn mit schon vorgefertigten Antworten in Form von Vorurteilen vereinnahmen:„Unsere ersten Philosophielehrer sind unsere Füße, unsere Hände, unsere Augen. Das alles durch Bücher zu ersetzen, heißt nicht, uns denken lehren, sondern uns der Gedanken anderer bedienen, es heißt, uns lehren, viel zu glauben und nie etwas zu wissen.“ (Rousseau 1963, S.276)

Als Beispiel für die Unbrauchbarkeit von Modellen führt Rousseau ein aus Pappen und Drähten zusammengehaltenes Modell des Sonnensystems an, das dem Kind falsche Informationen über die wirklichen Größenverhältnisse im Sonnensystem liefert und außerdem das Auge durch die zusätzliche Papp- und Drähtemechanik in die Irre führt. (Vgl. Rousseau 1963, S.361) Indem sich das Kind der ‚Autorität‛ dieses Modells beugt, wird es also nicht nur mit falschen Informationen belastet, sondern es lernt auch, den eigenen Sinneseindrücken zu mißtrauen. Bei abendlichen und frühmorgendlichen Spaziergängen zur Beobachtung des Sonnenuntergangs und Sonnenaufgangs lernt Emile mehr über das Sonnensystem, als ihm irgendwelche Modelle und Apparate vermitteln können. (Vgl. Rousseau 1963, S.356ff.)

Wenn also unser Verstand durch Modelle und Apparaturen entmündigt wird, weil diese sich zwischen die Natur und die Dingwelt auf der einen Seite und den menschlichen Sinnen auf der anderen Seite schieben und den Verstand so mit einer schon vorstrukturierten Welt konfrontieren, was bedeutet das dann für die gegenwärtige Konjunktur der Hirnforschung? Meyer-Drawe zufolge beginnt die stumme Natur hier nämlich wieder zu sprechen. Ähnlich wie Rousseau den von Menschen gemachten Modellen mißtraut, weist Meyer-Drawe auf den mehrfachen Artefaktcharakter (vgl.M.-D. 2008, S.31, 74) der mittels mathematischer Verfahren sichtbar gemachten Schnittbilder des Gehirns hin: „Bilder der funktionellen Magnetresonanztomographie oder der Positronen-Emissions-Tomographie verstehen sich nicht von selbst. Wir haben die Formen bereitgestellt, in denen die Natur unseren Fragen Antwort gibt. Wie kommen wir darauf, dass sie plötzlich wieder von selbst spricht?“ (M-D. 2008, S.92)

Nicht nur, daß mittels aufwendiger technologischer Apparaturen und chemischer und physikalischer Zugriffe auf die Gehirnaktivitäten der Eindruck naturwissenschaftlicher Objektivität erzeugt wird und mittels mathematischer Verfahren aus dem überkomplexen ‚Rauschen‛ von zig Milliarden von Nervenimpulsen ‚Informationen‛ herausgefiltert werden, mit deren Hilfe wiederum Computerbilder generiert werden, die suggerieren, wir hätten es hier mit „Abbilder(n) der Natur“ (M.-D. 2008, S.31) zu tun, – darüber hinaus wird auch den subjektiven Äußerungen von Versuchspersonen zu subjektiven Willensakten der Status empirisch erhobener Daten zugesprochen: „Die Versuchsleiter bleiben bei der Suche nach einem neuronalen Korrelat des Vollzugs auf die Antwort der Probanden angewiesen, also letztlich auf Introspektion sowie Glaubwürdigkeit und damit auf vorwissenschaftliche, wenn nicht gar unwissenschaftliche Größen. Beide wurden seit Beginn der Etablierung empirischer Erforschungen menschlicher Möglichkeiten stets verdächtigt, für objektive Aussagen untauglich zu sein. Nun wächst ihnen bei jeder Auslegung der Bilder einer enorme Bedeutung zu.“ (M-D., 2008, S.77)

Wo die Naturwissenschaft sonst den Einfluß des subjektiven Bewußtseins in ihren Laboren und Experimenten auszuschalten versucht, wo immer sie kann, um zu ‚objektiven‛ Ergebnissen zu kommen, werden plötzlich Methoden der mathematischen Quantifizierung mit subjektiven ‚Eindrücken‛ korreliert, und siehe da: die daraus hervorgehenden Schnittbilder, die bestimmte Bereiche des Gehirns farbig hervorheben, werden zu objektiven Forschungsergebnissen, deren Aussagekraft wir uns unterwerfen müssen, weil wir den verborgenen Interpretationsprozeß, aus dem sie hervorgegangen sind, nicht mehr durchschauen können. – Hier hatten Pappe und Drähte zu Rousseaus Zeiten immerhin noch den Vorteil, dort, wo sie das Auge verwirren, die künstliche Mechanik sichtbar zu machen.

An dieser Stelle kommen wir nun zu einer weiteren Ehrenrettung der bislang in diesem Blog stets so negativ besprochenen Lebenswelt. Wo sie von mir sonst immer als Behinderung eines eigenständigen Verstandesgebrauchs dargestellt wurde, hat sie nun nicht nur selbst etwas zu diesem Verstandesgebrauch beizutragen, sondern sie wird jetzt sogar zu der Plattform, auf der sich unser Verstand gegenüber den pseudo-realistischen Schnittbildversionen von Bewußtseinsprozessen zu behaupten vermag: „Wer kann daran zweifeln, dass sich uns in der Theorie entzieht, was in unserem Alltag fungiert: die Verständigung mit anderen, die Vertrautheit mit uns selbst sowie schließlich das Erkennen der Dinge. Wie fremd muss man sich geworden sein, um das Schnittbild eines menschlichen Gehirns für anschaulicher zu halten als die eigene Erfahrung des freien Willens?“ (M.-D. 2008, S.174f.)

Die Lebenswelt, in der wir uns verhalten, hat ihre eigene Anschaulichkeit, ihre eigene phänomenale Würde. Daß wir uns nicht zu ihr verhalten können, macht uns einerseits ihr gegenüber unfrei, bildet aber zugleich, in Form des leiblichen Weltglaubens (vgl. meinen Post vom 13.01.2012), eine unbezweifelbare Basis, die wir nur aufgeben können, wenn wir uns selbst und unsere geistige Gesundheit aufgeben. Daß diese geistige Gesundheit tatsächlich bedroht ist, zeigt Meyer-Drawes Schlußbemerkung im letzten Zitat, daß wir nämlich begonnen haben, Artefakten (Schnittbildern) mehr zu glauben als der eigenen leiblich-sinnlichen Anschauung.

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Montag, 16. Januar 2012

Käte Meyer-Drawe, Diskurse des Lernens, München 2008

  1. Prolog zum Stand der Literatur
  2. Lebenswelt: Inanspruchnahme und Suspension
  3. Vollzug und Reflexion, Naivität und Kritik
  4. Anfangen, Loslassen und die Kunst des Bogenschießens
  5. Welt, Wahrnehmung und Halluzinationen
  6. Lernbegriffsirrwege
  7. Hirnforschung: Wo die stumme Natur wieder zu sprechen beginnt.
  8. Informationen, Netzwerke und geschlossene Systeme
  9. Bewußtsein und Sinn
  10. Plessner versus Merleau-Ponty: „Es gibt keine Verschmelzung von Denken und Sein“!
  11. Zur Funktion der Geometrie in Platons Sklavenszene

Von den lernbehindernden, ökonomische Interessen verbrämenden Pseudotheorien des lebenslangen Lernens und des Lernens des Lernens war hier schon die Rede gewesen. (Vgl. meinen Post vom 12.01.2012) Dabei hat die Formel vom „Lernen des Lernens“ eine lange Tradition, die bis zu Wilhelm von Humboldt zurückreicht. (Vgl.W.v. Humboldt, Der Königsberger und der Litauische Schulplan (1809), in: Werke in fünf Bänden, Bd. IV, Schriften zur Politik und zum Bildungswesen, hrsg.v. Andreas Flitner und Klaus Giel, Darmstadt 3/1982, S.168-195: 170) Humboldt hatte darunter ein spezifisches Universitätspropädeutikum verstanden: während die Grundschule auf die Schule vorbereiten sollte, indem sie die Grundlagen für das Lernen zur Verfügung stellt (lesen und schreiben, rechnen), sollte die Schule auf das Universitätsstudium vorbereiten, indem die Schüler dort das Lernen lernen, d.h. selbständiges Lernen, ohne Unterwerfung – wie Kant sagen würde – unter einen fremden Verstand.

Die Schule ist zu Ende, wenn der Lehrer überflüssig geworden ist. Der Student an der Universität hat dann keine Lehrer mehr. Er lernt und besucht seine Vorlesungen und Seminare in eigener Verantwortung. Es gibt keine Examina und keine Prüfungen, sondern nur die wechselseitige Prüfung des ‚Wissens‘ durch Professoren und Studenten im Gespräch. Im Sinne dieser Unabschließbarkeit ist das Studium für Humboldt dann tatsächlich auch eine Art des lebenslangen Lernens, bis entweder das Interesse erlischt oder finanzielle Engpässe den Berufseinstieg erzwingen.

Das ‚Lernen des Lernens‘ war also nicht als Berufspropädeutik gedacht und vor allem war es nicht gedacht als formale, von Inhalten abgelöste Kompetenz. Denn Humboldt ließ keinen Zweifel daran, daß sich das Lernen des Lernens einzig am Gegenstand ‚vollzieht‘ und daß es hier vor allem darauf ankommt, seinen Gegenstand vollständig zu ergründen. (Humboldt 3/1982, S.191) Mit ‚vollständig‘ meinte Humboldt, daß der Mensch ein Bedürfnis nach Vollständigkeit hat, so daß das Maß dieser Vollständigkeit eben auch in diesem Bedürfnis besteht.

Auf den Schulunterricht bezogen heißt das, daß eine Unterrichtsreihe solange ‚trägt‘, wie beim Schüler das Interesse daran reicht. Und dabei hatte Humboldt wiederum keine gelangweilten, auf Spaß getrimmten Schüler vor Augen, die man entsprechend motivieren muß: mit Interesse am Gegenstand ist eben nicht einfach Spaß am Lernen gemeint. Der Spaß ist hier weder ein Mittel noch das Ziel, sondern allenfalls ein Nebenprodukt. Hier macht das Wort selbst, als inter-esse, noch einmal auf den aporetischen Zusammenhang von Vollzug und Reflexion aufmerksam. Der Lernende befindet sich ‚zwischen‘ den Dingen, d.h. er ist von ihnen absorbiert, – was an die Inter-Faktizität bei Merleau-Pnty erinnert, weshalb beim Lernen des Lernens alles darauf ankommt, in der richtigen Weise zwischen ihnen zu sein. Für diese richtige Weise, zwischen den Dingen zu sein, hat Humboldt die Begriffe „Achtung“ und „Liebe“. (Vgl. W.v.Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen, Werke in fünf Bänden. I: Schriften zur Anthropologie und Geschichte, hrsg.v. Andreas Flitner und Klaus Giel, Darmstadt 3/1980 1960, S.56-233: 78)

So viel zur Ehrenrettung der Formel vom Lernen des Lernens, einer Formel, die gemeinsam mit der Phrase vom lebenslangen Lernen am lautesten und eifrigsten von jenen Bildungspolitikern gepredigt wird, die von deren Herkunft von Humboldt her keine Ahnung haben oder einfach nur nicht wissen, wie sie einmal gedacht gewesen war. Das ist übrigens bei den meisten pädagogischen ‚Begriffen‘ im alltäglichen reformpädagogischen Sprachgebrauch der Fall.

Für die schlimmsten Verirrungen des Lernbegriffs ist aber nicht nur die Bildungsvergessenheit des aktuellen Zeitgeistes verantwortlich. Sie haben durchaus ebenfalls ihre geschichtliche Tradition und reichen nach Meyer-Drawe bis in das 17. und 18. Jahrhundert zurück: bis zur Aufklärungspädagogik und den Philanthropen (S.57, 84), wobei letztere oft als Vorläufer der Reformpädagogen vom 20. Jhdt. gelten. Hier geht Meyer-Drawe sogar soweit, diese Philanthropen in eine geschichtliche Reihe mit den Behavioristen zu stellen, auf die wir in diesem Blog ebenfalls schon öfter zu sprechen gekommen sind. (U.a. in meinem Post vom 15.05.2011) Die Parallele sieht Meyer-Drawe darin, daß die Aufklärungspädagogen aufgrund des Fortschrittsoptimismus und Rationalismus ihrer Zeit Pädagogik als eine Art Wartungs- und Reparaturveranstaltung am sich entwickelnden Menschen verstanden: „Maschinenähnliche Zurichtungen der gelehrigen Körper wurden durch Disziplinierungen während der Aufklärungszeit zur Normalität.“ (M.-D. 2008, S.84) Das wichtigste Hilfsmittel dieser mechanistischen Erziehungsvorstellung bestand in der „Dressur“ (M.-D. 2008, S.57) zur Selbstdressur: „ihr oberstes Ziel“ war die „Selbstbeherrschung zur Subjekt-Objekt-Differenzierung“ (vgl. M.-D. 2008, S.54).

Gegenstand der pädagogischen Maßnahmen war bei den Philanthropen deshalb weniger der innere Zustand bzw. das Denken ihrer ‚Zöglinge‘ als vielmehr ihr Verhalten, über das dieser innere Zustand ‚reguliert‘ werden sollte; und: „Im Gegensatz zu Kant setzten die Menschenfreunde als Praktiker kein allzu großes Vertrauen in den selbstständigen Gebrauch des Verstandes.“ (Vgl. M.-D. 2008, S.84)

Diese besondere Aufmerksamkeit auf die „Dressur“ und ihr „Maschinenglaube()“ machten die Philanthropen nun tatsächlich zu Vorläufern der Behavioristen, – und in dieser Reihe auch zu Vorläufern der Kybernetiker, Konstruktivisten und der Luhmannschen Systemtheorie (vgl. M.-D. 2008, S.33, 36, 161, 162ff., 176f., 188, 192). Die Behavioristen vervollständigten den Maschinenglauben, indem sie die gesamte Breite des menschlichen Bewußtseins schlicht zur Blackbox erklärten, also zu einer terra incognita, die, weil es nichts darüber zu wissen gibt, sich auch nicht zu erforschen lohnt. Heute spricht man dem wissenschaftspolitischen Zeitgeist entsprechend vom „selbstreferentielle(n), operativ geschlossene(n) System“ (vgl.M.-D. 2008, S.191). – Und: „Angeregt vor allem durch neurobiologische Forschungen, geht der so genannte Radikale Konstruktivismus davon aus, dass unspezifische Reize in den sensorischen Oberflächen unserer Sinnesorgane physikalische Ereignisse auslösen, die dann im Nervensystem verarbeitet werden. Kognition wird also zu einer Interpretation von internen und Umweltreizen. Erst das kognitive System mit Hauptsitz im Gehirn, erzeugt Information, kurz: Es konstruiert. Es reagiert auf sich selbst.“ (M.-D. 2008, S.162f.)

Diese wissenschaftspolitische, vor allem von Kybernetik, Konstruktivismus und Systemtheorie propagierte Einstellung wurde – insbesondere da sie ja auf gemeinsame Wurzeln in der Pädagogik selbst zurückgeführt werden konnte – immer schon gerne eins zu eins in die Pädagogik übernommen: „Ohne im Einzelnen danach zu fragen, wann der Gründungsakt der empirischen Lernforschung aus heutiger Sicht zu datieren ist, kann festgehalten werden, dass es stets um die Untersuchung assoziativer Verknüpfungen von räumlich bzw. zeitlich Nahem geht sowie darum, die unsichtbaren inneren Prozesse auszuklammern und nur das Mess- sowie Beobachtbare zu berücksichtigen.“ (M.-D. 2008, S.17)

Die aktuelle Hirnforschung treibt diesen Lernbegriffsirrweg auf die Spitze und kann dabei tatsächlich – wen wundert es angesichts der mit dieser Geschichte verbundenen Wehrlosigkeit des pädagogischen Mainstreams? – immer wieder auf reformpädagogische ‚Einsichten‘ und ‚Erkenntnisse‘ verweisen: „Selbst wenn man diese Reaktion (die Ablösung des Bildungsbegriffs durch Konzepte der Selbstorganisation und der Emergenz – DZ) auf reale Ohnmachtserfahrungen und die übereilte Übernahme externer Theorieangebote für eine bloße Ausnahme halten möchte, kommt man nicht umhin, die auffällige Attraktivität systemtheoretischen Denkens im Sinne von Luhmann für pädagogische Entwürfe feststellen und die Faszination didaktischer Konzeptionen von Theoriefragmenten des Radikalen Konstruktivismus bemerken zu müssen.“ (M.-D. 2008, S.164)

Dabei passen sich die erziehungswissenschaftlichen Begrifflichkeiten nicht nur dem ökonomischen Zeitgeist mit seinem entpädagogisierten, bildungsfremden Gebrauch pädagogischer und bildungsphilosophischer Grundbegriffe an, sondern sie wirken auch wieder als nun natur-wissenschaftlich geadelte Erkenntnisse der (Reform-)Pädagogik auf die Pädagogik zurück. Die Welt verändert sich in Richtung auf eine zunehmende Entmenschlichung der globalisierten Ökonomie in allen Bereichen des menschlichen Lebens: „Es handelt sich aber nicht nur um eine Demontage moderner pädagogischer Utopien und Hoffnungen auf Erkenntnis, sondern diesseits des wissenschaftlichen Rahmens ist unsere reale Lebenswelt bedroht. Konstruktivistische Konzepte spiegeln in dieser Hinsicht zentrale Merkmale unserer heutigen Zeit. Wir kennen kein Schicksal, sondern die Welt ist das, als was wir sie denken. In den Hintergrund tritt die unausweichliche Tatsache, dass wir jede Zerstörung unserer Welt auch uns selbst zufügen.“ (M.-D. 2008, S.164)

Diesem aktuellen Sachstandsbericht gibt es nichts hinzuzufügen.

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Freitag, 13. Januar 2012

Käte Meyer-Drawe, Diskurse des Lernens, München 2008

  1. Prolog zum Stand der Literatur
  2. Lebenswelt: Inanspruchnahme und Suspension
  3. Vollzug und Reflexion, Naivität und Kritik
  4. Anfangen, Loslassen und die Kunst des Bogenschießens
  5. Welt, Wahrnehmung und Halluzinationen
  6. Lernbegriffsirrwege
  7. Hirnforschung: Wo die stumme Natur wieder zu sprechen beginnt.
  8. Informationen, Netzwerke und geschlossene Systeme
  9. Bewußtsein und Sinn
  10. Plessner versus Merleau-Ponty: „Es gibt keine Verschmelzung von Denken und Sein“!
  11. Zur Funktion der Geometrie in Platons Sklavenszene
Daß die Lebenswelt Momente der Naivität beinhaltet, die jenseits einer bloßen Behinderung von Reflexion diese sogar allererst ermöglichen, hatte ich schon in meinem Post vom 09.01.2012 angesprochen. Dort hatte ich sie im Sinne einer zweiten Naivität verstanden, in der diese Naivität in Form von Intuitionen zu einem Mittel des Erkenntnisprozesses werden könnte. Denn erst auf der Basis von (naiven) Intuitionen erhält unser Verstand das Material, an dem er sich ‚abarbeiten‘ kann. Erst über die Intuition erhält das Bewußtsein seine Gegenstände. In diesem Sinne bin ich in besagtem Post sogar so weit gegangen, zu behaupten, daß dem Bewußtsein seine Gegenstände zum größten Teil aus der Lebenswelt zuwachsen.

Das gegenstandskonstitutive Moment der Lebenswelt, von dem hier die Rede ist, läßt sich auch als „Weltglaube“ beschreiben, oder als „Wahrnehmungsglaube“, wie Meyer-Drawe auch schreibt (vgl. M.-D. 2008, S.28, 138f., 206): „Die Vorstruktur des Verstehens wurzelt in einem in erster Linie leiblich konstituierten Weltglauben, welcher die Existenz der Welt nicht bezweifelt und stattdessen die Frage danach ermöglicht, was es für uns bedeutet, dass eine Welt existiert. Dieser Wahrnehmungsglaube ist nicht das Gegenteil der Reflexion, sondern ihre ständige Voraussetzung.“ (M.-D. 2008, S.28; vgl. auch S.206)

In diesem Zitat tut sich nun allerdings eine leibliche Differenz zum Begriff der Lebenswelt auf. Es ist eben nicht von einem lebensweltlichen Weltglauben, sondern von einem leiblichen Weltglauben die Rede. Dieser leibliche Weltglaube ‚fungiert‘ nun tatsächlich ähnlich wie die Lebenswelt, d.h. im Hintergrund und ohne unser bewußtes Dazutun. Was diesen leiblichen Weltglauben einem lebensweltlichen Weltglauben so zum Verwechseln ähnlich macht, ist sein Innenhorizont, zu dem es keinen Außenhorizont gibt. Oder mit Plessner: es gibt keine exzentrische Positionalität zu diesem Weltglauben. Unser Leib ist nicht negativ! Die Welt negieren und sich so ihr gegenüberstellen zu können, ist eine genuine Bewußtseinsleistung und keine Leistung unseres Leibes! Nur das menschliche Bewußtsein ist zu Negationen in der Lage, – nicht der animalische Leib, um es in Abwandlung eines Plessnerschen Satzes zum Ausdruck zu bringen. (Vgl. meinen Post vom  21.10.2010) – Zwar bezog sich Plessner an dieser Stelle tatsächlich auf die Wahrnehmung, aber eben nicht im Sinne eines Wahrnehmungsglaubens, sondern im Sinne einer den Menschen vom Tier unterscheidenden Figur-Grund-Differenzierung. Erst diese Differenzierung zwischen Figur und Grund ermöglicht als Negationsleistung die Beschreibung und Analyse abstrakter Sachverhalte, zu denen nach Plessner Tiere, die es immer nur mit Feldverhalten zu tun haben, eben nicht fähig sind.

Der Wahrnehmungsglaube selbst aber ist unserem Bewußtsein grundsätzlich entzogen. Auch wenn wir reflektierend die Außenwelt leugnen, können wir doch nicht umhin, uns in unserem Verhalten den Bedingungen der Wahrnehmungswelt zu beugen. Es ist also die prinzipielle Unmöglichkeit, dem Weltglauben der Wahrnehmung zu entrinnen, der prinzipiellen Befangenheit im Binnenhorizont der Wahrnehmungswelt, die den leiblichen Weltglauben der Lebenswelt so ähnlich macht, daß es jetzt eigentlich nicht mehr schwerfällt, zu verstehen, warum es bei Merleau-Ponty zu einer Verschmelzung von Inter-Subjektivität (als Inter-Faktizität) und Leiblichkeit kommt, – auch wenn er selbst diese Verschmelzung seltsamerweise immer bestritten hat. (Aber dazu in einem späteren Post mehr.)

Daß leiblicher Weltglaube und Lebenswelt auf verwechselbare Weise am Bewußtsein vorbei ‚fungieren‘, sollte aber nicht die grundlegende Differenz übersehen machen, daß der Wahrnehmungsglaube die Reflexion nicht etwa behindert, sondern allererst ermöglicht, während die Lebenswelt die Reflexion nur insofern zu unterstützen vermag, als sie erst in Form einer zweiten Naivität zu derem Werkzeug wird.

Dennoch kann nicht geleugnet werden, daß es nicht nur zwischen dem Wahrnehmungsglauben und der Lebenswelt eine gewisse Affinität gibt, sondern auch zwischen Wahrnehmungsglauben und Halluzinationen: „Wir kommen dem Verständnis von Halluzinationen nur dann näher, wenn wir auf das Gegenbild eines sich selbst vollständigen Bewusstseins verzichten, wenn wir also den Keim der Abweichung (von der Realität) in uns selbst entdecken. Von der Halluzination können wir lernen, dass wir uns niemals vollständig selbst besitzen, dass die Illusion nicht das Gegenteil der Wahrnehmung ist, sondern zu ihr gehört. ... Sie können herrschen, weil auch sie den Charakter eines Urglaubens haben.“ (M.-D. 2008, S.139)

So wie es also eine Parallele zwischen Wahrnehmungsglauben und Lebenswelt hinsichtlich ihres gemeinsamen Charakters als Binnenhorizont gibt, gibt es also auch eine Parallele zur Halluzination. Das ergibt sich aus der Binnenhaftigkeit, der Implizität des Bewußtseins selbst. An der Grenze zur Außenwelt bleibt es auf sich zurückverwiesen und muß damit umgehen lernen, daß seine unbezweifelbarsten Gewißheiten über den Status eines bloßen Glaubens nicht hinausreichen. Das ist ja auch der Grund für seine Expressivität, für sein Bedürfnis, sich nach außen zu wenden, um sich so seiner Gewißheiten zu vergewissern. Trotz aller früheren Versuche, die Inter-Faktizität als Inkarnation sozialen Sinns und als „Vollzug primordialer Inter-Subjektivität“ (vgl. meinen Post vom 09.12.2011) der subjektiven Kritik zu entziehen, kann Meyer-Drawe deshalb nicht umhin, von den „virtuellen Momenten unserer faktischen Lebenswelt“ zu sprechen. (M.-D. 2008, S.38)

Was aber unterscheidet dann den Weltglauben von den Halluzinationen, wenn nicht der Urglauben, daß das, was wir erleben, real ist? – Es macht eben doch einen Unterschied, in uns selbst nämlich, als „Keim der Abweichung“ von der Realität. ‚Halluzination‘ heißt abweichen, sich abwenden von der Welt; ‚Wahrnehmung‘ heißt, sich zuwenden zur Welt.

Allein der Weltglaube ermöglicht, so Meyer-Drawe, die Frage danach, „was es für uns bedeutet, dass eine Welt existiert.“ (M.-D. 2008, S.28, 206) – Die Frage danach, was es für uns bedeutet, daß eine Welt existiert, führt unweigerlich zu der Frage, was wir tun sollen. Das ist eine der drei berühmten Fragen, die Kant aufwirft: was können wir wissen, was dürfen wir hoffen, was sollen wir tun? Alle diese Fragen führen die Frage danach, was es für uns bedeutet, daß eine Welt existiert, weiter und differenzieren sie aus. Wer diese Fragen stellt, halluziniert nicht mehr. Würden wir dabei stehen bleiben, daß wir es immer und überall nur mit Halluzinationen zu tun haben, würden wir aufhören, zwischen ‚richtig‘ und ‚falsch‘ zu unterscheiden. Wenn wir den Eindruck haben, daß es nicht gleichgültig ist, was wir tun und wie wir leben, dann liegt das vor allem an unserem Weltglauben. Auch das ist ein Merkmal, daß ihn von der Lebenswelt unterscheidet.

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Donnerstag, 12. Januar 2012

Käte Meyer-Drawe, Diskurse des Lernens, München 2008

  1. Prolog zum Stand der Literatur
  2. Lebenswelt: Inanspruchnahme und Suspension
  3. Vollzug und Reflexion, Naivität und Kritik
  4. Anfangen, Loslassen und die Kunst des Bogenschießens 
  5. Welt, Wahrnehmung und Halluzinationen
  6. Lernbegriffsirrwege
  7. Hirnforschung: Wo die stumme Natur wieder zu sprechen beginnt.
  8. Informationen, Netzwerke und geschlossene Systeme
  9. Bewußtsein und Sinn
  10. Plessner versus Merleau-Ponty: „Es gibt keine Verschmelzung von Denken und Sein“!
  11. Zur Funktion der Geometrie in Platons Sklavenszene
In meinem Post vom 09.01.2012 war es schon angeklungen: es gibt ein grundlegendes Problem des Lernens mit dem Anfangen. Lernen bildet eine spezielle Vollzugsform, die sich von anderen Erfahrungsvollzügen wie etwa „sich freuen, sich täuschen oder auch geboren werden, altern und aufwachen“ (vgl. M.-.D. 2008, S.151) darin unterscheidet, daß wir nicht darauf warten können, daß sie sich zur rechten Zeit einstellt. Das gilt zwar u.a. auch für das Aufwachen, aber dafür stehen uns technische Mittel wie der Wecker zur Verfügung, so daß wir das Aufwachen problemlos herbeiführen können. Daß auch der Zeitpunkt für das Geborenwerden medizintechnisch herbeigeführt werden kann, ist ebenfalls bekannt, wenn das auch nicht so problemlos ist wie das Wecken. Insgesamt aber haben wir es hier bei diesen Vollzügen damit zu tun, „dass wir selbst daran beteiligt sind, ohne sie auszulösen.“ (Vgl. ebenda)

Das Lernen können wir aber heutzutage weder einfach sich selbst überlassen, indem wir gelassen darauf warten, daß es sich zur rechten Zeit von selbst vollzieht, noch können wir es mit Hilfe von Weckern oder Medikamenten herbeiführen, obwohl letzteres – Stichwort enhancement – inzwischen tatsächlich zu einer weitgehend tolerierten Modeerscheinung geworden ist. Trotz dieser bezeichnenden Verzweiflungsakte, Lernen zu erzwingen, ist und bleibt es ein pädagogisches Paradox von der Art eines „Sei spontan!“. So wenig wir damit anfangen können, spontan zu sein, können wir aufgrund einer einfachen Willensentscheidung damit anfangen zu lernen.

Hinzu kommen pädagogische Pseudotheorien, die das Verständnis und damit einen adäquaten Umgang mit dem Lernanfangsproblem zusätzlich erschweren. Bei diesen pädagogischen Pseudotheorien, oft mit reformpädagogischen Schlagworten verquickt, handelt es sich um Phrasen wie „lebenslanges Lernen“ (M.-D. 2008, S.147) oder „Lernen des Lernens“ (M.-D. 2008, S.187). Die Phrase vom „lebenslangen Lernen“ verdeckt nämlich, daß Lernen immer einen Anfang nehmen muß, daß Lernen also eine besondere Erfahrungsform darstellt. Sie suggeriert, daß eigentlich alles Lernen ist und daß wir deshalb immer schon lernen. Und weil wir eigentlich immer schon lernen, brauchen wir damit gar nicht erst anzufangen.

Woran erinnert das? – In meinem Post vom 30.09.2011 zu Sloterdijk hatte ich schon darauf hingewiesen, daß dessen so radikal klingende Formel „Du mußt Dein Leben ändern!“ letztlich folgenlos bleibt, weil Sloterdijk feststellt, daß wir unser Leben sowieso ständig ändern, und deshalb gar nicht eigens damit anfangen müssen. So ist es auch mit dem lebenslangen Lernen: da wir schon immer lernen, brauchen wir auch gar nicht mehr damit anzufangen:„Dass dies überhaupt ein Problem ist, wird heute mitunter kaum bemerkt, weil Lernen als ein lebenslanger Prozess betrachtet wird, der kein Ende findet und welcher bereits vor der Geburt beginnt.“ (M.-D. 2008, S.147)

Dieser lernverhindernde Effekt der Phrase von lebenslangen Lernen wird durch die Phrase vom „Lernen des Lernens“ verstärkt. Letztere suggeriert nämlich, daß es gar nicht mehr auf die Inhalte ankommt, auf das, was gelernt wird, sondern nur auf die ständige Bereitschaft und Fähigkeit, sich den wechselnden Umständen, insbesondere den jeweiligen beruflichen Anforderungen erfolgreich anzupassen. Eine „reibungslose, hochtourige Anpassung in einer stressfreien Atmosphäre (ist) das Ideal der Zeit ... In den derzeitigen Technologien zur Produktion von Mitgliedern der globalisierten Gesellschaft gibt es keinen Raum für einen Mangel. Kumulation ist das entscheidende Stichwort ..., Anpassung die erfolgreiche Aktion.“ (M.-D. 2008, S.15)

So führt also gerade das Verständnis von Lernen als kontinuierlicher Kumulation von Informationen zu einer „Inhaltsarmut“ (M.-D. 2008, S.207) des Lernbegriffs, die die Welt gerade jener Gegenstände entleert, die echte Lernanfänge veranlassen könnten. Auch mit der Phrase vom Lernen des Lernens wird also einerseits der Umfang des Lernbegriffs ‚immens ausgeweitet‘, wie Meyer-Drawe schreibt, und zugleich wird der Lernbegriff jeder Bedeutung beraubt: „Der Preis dieser immensen Ausweitung des Lernverständnisses ist eine zunehmende Verallgemeinerung, bei der schließlich die Differenz zu anderen Veränderungen und die Lerninhalte keine Rolle mehr spielen. Die genuin pädagogische Auffassung gerät aus dem Blick, dass nämlich jedes Lernen Lernen von etwas durch jemand Bestimmten, bzw. durch etwas Bestimmtes ist.“ (M.-D. 2008, S.18)

Das wissenschaftliche Problem mit dem Lernanfang besteht einfach in dem aporetischen Verhältnis von Vollzug und Reflexion. Der Lernanfang läßt sich weder beobachten noch reflektierend auf den Begriff bringen: „Viel häufiger ist wohl ein Anfangen, das sich als solches erst im Rückblick erweist und das sich didaktisch sowie methodisch nur sehr schwer verwirklichen lässt. Es reagiert nicht auf einen Mangel an Erkenntnis, sondern nistet in einem Überschuss an Welterfahrung. Dabei handelt es sich um ein erstes Mal, das ohne Zeugen bleibt, weil es um die Eröffnung eines neuen Verständnishorizontes geht, wenn etwa im schulischen Lernen die spezifische wissenschaftliche Blickweise gegen das lebensweltliche Meinen gesetzt wird.“ (M.-D. 2008, S.146)

So haben wir es also beim Lernanfang mit einem grundlegenden anthropologischen Phänomen zu tun: „Die Frage nach dem Anfang des Lernens nähert sich der Frage nach dem Anfang der menschlichen Existenz.“ (M.-D. 2008, S.147) – Meyer-Drawe verortet das Lernen damit auf einer existentiellen Ebene, und sie verwendet dabei Beschreibungsformen, die mich an Eugen Herrigels „Zen in der Kunst des Bogenschiessens“ (o.O. 20/1981) erinnern. Dort wird der Schüler im Bogenschießen als „Anfänger“ beschrieben, der tatsächlich ein Problem mit dem Anfangen hat. Als dieser sich bei seinem Meister beklagt, daß es ihm einfach nicht gelingen will, nach dem Spannen des Bogens und den damit verbundenen Konzentrationsübungen, die er sich mühsam in einem jahrelangen Prozeß der Versenkung und des Trainings (Sloterdijk!) angeeignet hat, die Bogensehne loszulassen, antwortet dieser: „Sie haben nur zu gut beschrieben ... wo für Sie die Schwierigkeit liegt. Wissen Sie, weshalb Sie auf den Abschuß nicht warten können und weshalb der Atem in Not gerät, bevor er gefallen ist? Der rechte Schuß im rechten Augenblick bleibt aus, weil Sie nicht von sich selbst loskommen. Sie spannen sich nicht auf die Erfüllung hin, sondern warten auf Ihr Versagen. Solange dem so ist, bleibt Ihnen keine andere Wahl, als ein von Ihnen unabhängiges Geschehen selbst hervorzurufen, und solange Sie es hervorrufen, öffnet sich Ihre Hand nicht in der rechten Weise ...“ (Herrigel 20/1981, S.40f.)

Damit haben wir in diesem Zitat alle Momente eines echten Vollzugs, wie Meyer-Drawe ihn beschreibt und auf die ich schon zu sprechen gekommen bin: das Problem, daß etwas beginnen muß, an dem ich beteiligt bin, das ich aber nicht planend bzw. reflektierend herbeiführen kann. Wir haben es beim Bogenschießen im Sinne des Zen mit einem „unabhängigen Geschehen“ zu tun, also mit einem Vollzug. Und es wird vom „rechten Augenblick“ des Loslassens gesprochen, was an den „Kairos“ im Meyer-Draweschen Sinne erinnert. (Vgl. meinen Post vom 07.12.2011) In „Diskurse des Lernens“ spricht Meyer-Drawe von der mit dem Problem des Lernanfangs verbundenen Frage nach dem richtigen Augenblick: „Die Frage drängt sich auf, wie man auf etwas stößt, was fungierende Selbstverständlichkeiten sowohl im Hinblick auf die Selbsteinschätzung als Wissender als auch die Überzeugung, sich in Bezug auf die Sache auszukennen, außer Kraft setzt. ... Diese eigentümliche Struktur eines kritischen Moments im Lern- und Lehrprozess soll im Folgenden mit Hilfe des Verständnisses von kairos erläutert werden ...“ (M.-D. 2008, S.141; vgl. auch: S.145)

Bei „fungierenden Selbstverständlichkeiten“ handelt es sich immer um die Lebenswelt, die in gewisser Weise selber ein „Vollzug“ ist, so wie das Lernen: wir sind an ihr auf subjektlose Weise ‚beteiligt‘. Aber anders als z.B. das Lernen hat die Lebenswelt keinen Anfang und kein Ende. Sie fungiert, d.h. sie bestimmt uns im Hintergrund, ohne daß es uns bewußt wird. Der Kairos ist nun jener Moment, der uns aus der Lebenswelt heraus-‚stößt‘ oder – wie ich es hier immer gerne formuliere – aus ihr ‚herausfallen‘ läßt. Dabei steckt im ‚Kairos‘ eine Menge mehr an Subjektivität, als wir dem Lernvollzug hier bislang zugebilligt hatten. Er bezeichnet nämlich genau jenen Moment des Ergreifens einer Gelegenheit, den der Zen-Meister in Herrigels Buch mit dem Öffnen der Hand beim Loslassen der Bogensehne beschreibt. Es ist also ein Ergreifen und Loslassen in einem, nicht anders als das Lachen oder Weinen bei Plessner, wo wir ebenfalls uns selbst loslassen und uns im Akt des Loslassens aus einer ausweglosen Situation befreien. – Daß aber Lernen möglicherweise etwas mit der Kunst des Bogenschießens zu tun haben könnte, wird vielen Spaßideologen und Effektivitätsfanatikern der derzeit gängigen Lerntheorien sicher nicht gefallen.

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