„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 6. Dezember 2011

Zur Ontologisierung der Lebenswelt

Käte Meyer-Drawe, Leiblichkeit und Sozialität. Phänomenologische Beiträge zu einer pädagogischen Theorie der Inter-Subjektivität, München 3/2001 (1984)
  1. Einseitig fundierte Wechselseitigkeit der Soziogenese und der Ontogenese?
  2. Inter-Subjektivität als Inter-Faktizität
  3. Pädagogischer Sinn und Verantwortung 
  4. Naturalisierung des Sinns
  5. Differenz von Sagen und Meinen in der Theorie und in der Kommunikation
  6. Differenz von Gemeinschaft und Gesellschaft
  7. Grenzen der Lebenswelt: Krankheit und Krise
  8. Ambiguität von Häresie und Affirmation
  9. Phänomenologie als Ontologie
Mit der Vorordnung des Anderen als sozialem Sinn vor der individuellen Person, mit der Bestimmung von sozialem Sinn als „Verwobenheit von Ich und Nicht-Ich, von Anderem und Nicht-Anderem“ (vgl. Meyer-Drawe 1984, S.30) steht nicht mehr die Bildung der individuellen Person im Fokus des pädagogischen Interesses. An die Stelle der Rousseauschen Perfektionierbarkeit der Individuen tritt die Perfektionierbarkeit konkreter Inter-Subjektivität: „Unsere konkrete Inter-Subjektivität hat nicht dann ihre höchste Form erreicht, wenn sie dem Subjektsein des eigentlichen Individuums dient, sondern wenn sie die Andersheit des Anderen am Rand des subjektiven Existenzfeldes akzeptiert, ohne sie als unbegreifbare Fremdheit auszuschließen.“ (Meyer-Drawe 1984, S.220)

An die Stelle einer Humanisierung des Individuums tritt also eine Humanisierung der Lebenswelt: als humane Rationalität. (Vgl. Meyer-Drawe 1984, S.32, 240f.) Daß die Lebenswelt aber nicht nur eine Genese hat, sondern auch eine eigene Bildsamkeit beinhaltet, ist tatsächlich ein merkwürdiger Gedanke. Dieser Gedanke beinhaltet, daß die Lebenswelt, der es wesentlich ist, als „Ambiguität“ „unserer Existenz latent“ zu bleiben – „als vorreflexive Bedingung der Wirklichkeit unserer Vollzüge“, als Idealisierung „des ‚und-so-weiter‘ und des ‚Ich-kann-immer-wieder‘“ (vgl. Meyer-Drawe 1984, S.149) –, die „Andersheit des Anderen“, das „Fremde“ nicht nur auszuhalten, sondern sogar zu akzeptieren vermag!

Wir haben es mit einem doppelten Paradoxon zu tun: (a) etwas, das die „Wirklichkeit unserer Vollzüge“ allererst ermöglicht, soll steigerbar sein, als wäre es selbst ein Vollzug unter Vollzügen, deren vorreflexive Bedingung es sein soll. Und dieses Etwas, das Meyer-Drawe mit Husserl als „Ich-kann-immer-wieder“ bestimmt, soll außerdem (b) eine Andersheit tolerieren können, die als Andersheit dieses „Ich-kann-immer-wieder“ doch prinzipiell in Frage stellt. – Das sind zwei Paradoxe zu viel, um mit ihnen eine Pädagogik zu begründen. Für eine Theorie der Bildsamkeit („höchste Form“) können wir nicht am Bewußtsein vorbei auf eine Faktizität hin argumentieren, die der bildenden Rückwirkung, also der Reflexion gar nicht zugänglich ist. Als ‚fungierender‘ und damit als Lebenswelt ist es unangemessen, der Inter-Subjektivität eine „höchste Form“ zuzusprechen und sie so zum Adressaten einer Pädagogik der Leiblichkeit zu machen.

In Meyer-Drawes einleitenden Thesen heißt es, daß „Kommunikation ... nur dann eine zentrale Kategorie pädagogischer Reflexion konkreter Praxis sein (kann), wenn sie ihren konstitutiven Sinn für soziale Erfahrungen erweisen kann und nicht lediglich nachträglich Fixierung bereits fungierender Vermittlung ist. Zu diesem Zweck muß mit der Tradition egozentrierter sozialer Sinnbildung radikal gebrochen werden.“ (Meyer-Drawe 1984, S.27f.)

Was den ersten Teil dieser These betrifft, kann ich nur zustimmen. In ihr steckt ein kritischer Impuls gegenüber der lebensweltlichen Vereinnahmung, die über die Hegelsche Gleichsetzung von Vernunft und Wirklichkeit hinausgeht. Eine ‚Pädagogik‘, die „bereits fungierende Vermittlung“ – und „fungierende Vermittlung“ meint nichts anderes als aktuelle, vorreflexive Inter-Faktizität – lediglich „fixiert“, ist ihres Namens nicht wert. Worauf wird aber nun ihre Konstitution zurückgeführt? Auf eben diese „vorreflexive Bedingung der Wirklichkeit unserer Vollzüge“, der sie als Bildungsziel lediglich deren eigene „höchste Form“ gegenüberstellt, also gewissermaßen Fleisch von derem Fleische, eben „inkarnierter“ Sinn. Das erklärt dann auch den Zusatz, wieso „mit der Tradition egozentrierter sozialer Sinnbildung radikal gebrochen werden muß.

Wie ich schon in meinem Post zu Waldenfels (vom 05.01.2011) geschrieben habe, führt diese Abkehr vom Ich dazu, daß es nicht mehr für sein Handeln verantwortlich gemacht werden kann. Es ist kein Handlungssubjekt mehr: „In unserem faktischen Existieren ergibt sich nicht die Frage nach sozialem oder individualem Sein; denn wir sind nie ganz Ich und nie ganz Nicht-Ich. Zwar erfahren wir uns als Aktionszentren, doch gleichzeitig können wir nie vollständig über die Situation, in der wir handeln, verfügen. Unser ausdrückliches und absichtsvolles Denken und Tun sind fundiert in zum großen Teil anonymen interpersonalen Vollzügen, wie z.B. Sitten und Gebräuchen, Sprache der Zeit und des Landes, politischen und ökonomischen Strukturen, die unseren Handlungsspielraum konstituieren und eingrenzen.“ (Meyer-Drawe 1984, S.14)

Meyer-Drawe drückt sich hier zwar noch vorsichtiger aus als Waldenfels, aber auch bei ihr bleibt dem ‚Subjekt‘ lediglich noch ein unbestimmtes Gefühl dafür, „Aktionszentrum“ zu sein. Aber die Fundierung seines ausdrücklichen und absichtsvollen Denkens und Tuns liegt nicht mehr in ihm, sondern „in zum großen Teil anonymen interpersonalen Vollzügen“. Deshalb spricht sie dem Subjekt nur noch eine begrenzte Verantwortung für sein „konkret-geschichtliches Handeln“ zu. (Vgl. Meyer-Drawe 1984, S.148) Es ist nun sicherlich so, daß die faktische individuelle Verantwortbarkeit eigenen und gesellschaftlichen Handelns begrenzt ist. Diese faktische Begrenztheit geht aber am Phänomen individueller Schuld völlig vorbei. Das Handlungssubjekt ergreift sich in seiner Verantwortung vor seinem Gewissen. Dieses Gewissen ist aber ein Grenzbegriff und nicht Bestandteil irgendeiner Lebenswelt. Durch dieses Gewissen wird uns überhaupt erst das Gefühl, Aktionszentrum zu sein, auferlegt. Und nur von hierher kann Kommunikation zur „zentrale(n) Kategorie pädagogischer Reflexion konkreter Praxis“ werden: nämlich als Kommunikation, d.h. als Vermittlung eines Gewissensanspruchs.

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