„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 30. September 2011

Paul J. Crutzen/Mike Davis (Hg.), Das Raumschiff Erde hat keinen Notausgang, Berlin 2011

(Paul J. Crutzen, Die Geologie der Menschheit, S.7-10 / Michael D. Mastrandrea/Stephen H. Schneider, Vorbereitungen für den Klimawandel, S.11-59 / Mike Davis, Wer wird die Arche bauen? (2008/2009)/2010), S.60-92 / Peter Sloterdijk, Wie groß ist ‚groß‘? (2009), S.93-110)

1. Zur Brauchbarkeit einer Metapher
2. Technik: Teil der Lösung oder Teil des Problems?
3. Wie ignorant ist eigentlich wer?

Hier möchte ich nun auf die zweite Stelle in dem Zitat in meinem gestrigen Post zu sprechen kommen, in der Sloterdijk zwei Millionen Jahre der Menschheitsgeschichte und ihrer menschenähnlichen Vorläufer auf die Frage reduziert, ob sie etwas davon gewußt hatten, daß sie sich an Bord eines Raumschiffes befanden. (Vgl. Sloterdijk 2011/2009, S.95) Mit leichter Hand kennzeichnet Sloterdijk alles als ‚ignorant‘, was diesen „aktuellen Blickpunkt“ nicht teilt. Sloterdijk ist sicher nicht der erste, der die eigene Einsichtsfähigkeit als vorläufigen End- und Höhepunkt eines lang zurückreichenden Entwicklungsprozesses von der Dunkelheit zum Licht imaginiert. Aber die Gedankenlosigkeit, mit der er den kapitalistischen Raubbau an den Ressourcen der Erde als Ergebnis einer „spontane(n) Naturidee“ klassifiziert, die „die Geschichte der Menschheit bis gestern bestimmt (hat)“ und der zufolge die Natur „ein unendlich überlegenes und darum auch grenzenlos belastbares Außen“ darstellt (vgl. Sloterdijk 2011/2009, S.99), ist schon fast atemberaubend.

Wenn nämlich von „Ignoranz“ gegenüber den Grenzen der Naturressourcen gesprochen werden soll, dann ist das sicherlich in erster Linie auf das Industriezeitalter zu beziehen, also auf die letzten drei- bis vierhundert Jahre insbesondere der europäischen Geschichte. Die übrige Menschheitsgeschichte, sowohl historisch wie global, war sicher ebenfalls immer wieder von ökologischen und zivilisatorischen Katastrophen, teils naturbedingt, teils selbstverschuldet, heimgesucht worden. Dennoch finden wir außerhalb der kapitalistisch-marktwirtschaftlich begründeten Wachstumsorientierung auch nachhaltige Konzepte menschlichen In-der-Welt-Seins, auch ohne daß es in diesen Kulturen ein Bewußtsein davon gegeben hätte, sich an Bord eines Raumschiffs zu befinden.

So besucht z.B. Ulrich Grober das Museum, in dem sich die Mumie des berühmten ‚Ötzis‘ befindet, und er beschreibt anschaulich, wie perfekt dieser vor 5.000 Jahren gestorbene Mensch an die damalige, lebensfeindliche Bergwelt angepaßt gewesen war: „Die Mumie aus dem 4. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung ist überraschend schmalschultrig und feingliedrig. Die eingetrockneten Augen, denen noch anzusehen ist, dass ihre Iris einmal blau war, sind nach oben gerichtet. Die rechte Hand, mit der er das Beil führte und den Bogen spannte, greift ins Leere. Rings um den gläsernen Sarg sind die Überreste seiner Ausrüstung ausgestellt. Jedes Stück spiegelt seine halbnomadische Lebensweise. Alles ist bis ins Letzte durchdacht, alles perfekt seiner natürlichen Umwelt, seinen Bedürfnissen, seinen Zielen angepasst. Die Stiefel mit der Sohle aus Braunbärenfell, dem Oberteil aus Rindsleder und dem Innengeflecht aus Lindenbast sind absolut hochgebirgstauglich. Das Kupferbeil ist ein gusstechnisches Meisterstück, der Jagdbogen aus Eibenholz modernen Sportbögen an Reichweite und Durchschlagskraft beinahe ebenbürtig. Die Konstruktion des Außengestells am Rucksack gilt bei heutigen Outdoor-Ausrüstern als optimale Lösung für den Transport schwerer Lasten. Neun einheimische Arten von Holz sind verarbeitet. Für jeden Zweck hat er exakt die am besten geeignete Sorte ausgewählt. Die Sorgfalt, mit der er das volle Spektrum der heimischen Ressourcen nutzte, und die Eleganz der Einfachheit, die jedes seiner Artefakte auszeichnet, geben über die Jahrtausende hinweg den Blick frei – auf einen schöpferischen Geist. Der Gletschermann – der archetypische homo sustinens? Einer aus der langen Ahnenreihe der Erfinder der Nachhaltigkeit?“ (Die Entdeckung der Nachhaltigkeit. Kulturgeschichte eines Begriffs (2010), S.12f.)

Angesichts dieser Beschreibung von Ulrich Grober ist man fast versucht, von einer fünftausend Jahre alten High-Tech-Kultur zu sprechen, die der unseren in nichts nachsteht. Auch das ist Technik, – vielleicht nicht von der Art einer Raumfahrttechnologie, aber dafür eine menschliche Technologie, von der wir sicher sein können, daß dieser ‚Fremde‘ aus einer fernen Zeit von jedem einzelnen ‚Instrument‘ genau wußte, wie es funktionierte, wie es repariert werden und wahrscheinlich sogar wie es hergestellt werden konnte. Und Ulrich Grober fügt hinzu: „Die Idee der Nachhaltigkeit ist weder eine Kopfgeburt moderner Technokraten noch ein Geistesblitz von Ökofreaks der Generation Woodstock. Sie ist unser ursprünglichstes Weltkulturerbe.“ (Grober 2010, S.13)

Als ‚ignorant‘ erweist sich letztlich vor allem Sloterdijk selbst, – nämlich als ignorant gegenüber der Bedeutung der Lebenswelt. Schon in der seltsamen Begriffsbildung „spontane Naturidee“ zeigt sich, wie sehr Sloterdijk an dem Lebensweltphänomen vorbeifabuliert. Welchen Inhalts spontane Naturideen auch immer sein mögen, so ist ihnen allen doch gerade gemeinsam, aus den unterschiedlichen Entstehungskontexten bestimmter Lebenswelten bzw. ‚Kulturen‘ zu ‚emergieren‘. Nur in dieser Hinsicht ist es sinnvoll von einer ‚Spontaneität‘ dieser Naturideen zu sprechen. Hätten wir es bei den Naturideen mit ausgearbeiteten Begriffen zu tun, wie z.B. bei der Natur des Menschen im Sinne Rousseaus, könnte man sie kaum als ‚spontan‘ bezeichnen. Was soll man aber nun von einer ‚spontanen‘ Naturidee halten, die sich seit zwei Millionen Jahren unverändert durchgehalten hat? Eine  solche Naturidee ist eine gedankliche Monstrosität, aber bestimmt nicht Bestandteil irgendeiner Lebenswelt.

Auch die lebensweltliche Beschaffenheit religiöser Mythenbildungen verfehlt Sloterdijk mit einem Verweis auf Jesu Himmelfahrt, mit dem er das Maß der „Unwissenheit“ jener dunklen Zeiten zu veranschaulichen versucht, in denen man noch nichts vom Raumschiff Erde wußte: „Ich füge hinzu, daß uns deswegen der Rückgriff auf religiöse Überlieferungen in diesen Dingen nicht weiterhilft, weil die sogenannten Weltreligionen ausnahmslos einem prä-astronautischen Weltverständnis verhaftet sind – selbst Jesus konnte durch seinen Aufstieg in den Himmel zur Bedienungsanleitung des Raumschiffs Erde nichts Nennenswertes beitragen.“ (Sloterdijk 2011/2009, S.96)

Sloterdijks Verweis auf Jesu Himmelfahrt ist von ähnlicher Qualität wie der Spruch jenes Astronauten, der vom Weltraum aus verkündete, er könne hier nirgendwo einen Gott auffinden: d.h. er ist absolut dämlich. Jesus war sicherlich kein Astronaut Gottes, als er gen Himmel fuhr, aber seine Himmelfahrt bildet eine Metapher für die Fähigkeit des Menschen, sich aus seinen lebensweltlichen Verhängnissen und Verstrickungen zu befreien, seine lebensweltlichen Horizonte zu überschreiten, – eben gen Himmel zu fahren. Was jenem Astronauten, der im Weltraum keinen Gott finden konnte, offensichtlich nicht gelungen ist.

Jesus war also zwar kein Experte für den Weltraum, aber er war sehr wohl ein Experte für die menschliche Lebenswelt, ein Wissen, das dem Philosophen Sloterdijk offensichtlich völlig abgeht. Das hindert Sloterdijk aber nicht daran, sich bald nach seinem Verdikt über den Raumschiffsignoranten Jesus positiv auf Johannes den Täufer zu beziehen, der wie die heutigen Meteorologen „zur totalen Umkehr aufrief. Die Stimme aus der Wüste verlangte damals nicht weniger als eine Metanoia, die dazu gedacht war, das triviale egoistische Ethos des Alltags durch den moralischen Ausnahmezustand des Herzens zu ersetzen – dieser Ruf sollte die permanente Revolution auslösen, die wir Christentum nennen.“ (Sloterdijk 2011/2009, S.101)

Sloterdijk verweigert also Jesus nicht nur die Anerkennung als Astronaut, sondern auch die Anerkennung als Begründer des Christentums. Den an Jesu Stelle mit dieser Ehre ausgestatteten Johannes stellt Sloterdijk darüberhinaus noch mit den heutigen Meteorologen gleich, nämlich als Verkünder von mit der Klimaveränderung vergleichbaren Katastrophen. So springt Sloterdijk hin und her, behauptet mal dieses und mal jenes, aber alles summarisch und völlig undifferenziert und unter Verzicht auf detailliertere historische Begründungszusammenhänge. Immerhin hat diese Rede vor der UN-Klimakonferenz aber doch einen gewissen Erkenntniswert. Ungeachtet seines im gleichen Jahr erschienenen 723-seitigen, zur Lebensänderung aufrufenden Wälzers erweist sich Sloterdijk in dieser Rede selbst als der eigentliche Ignorant, – nämlich als Ignorant der Lebenswelt.

PS vom 12.10.2011: Es ist natürlich letztlich eine grobe Vereinfachung, Sloterdijk vorzuwerfen, daß er ein „Ignorant der Lebenswelt“ sei, weil gerade sein Buch „Du mußt Dein Leben ändern“ ein Bild vom Menschen zeichnet, das seinen Übungscharakter ins Zentrum stellt. ‚Übung‘ heißt aber bei Sloterdijk letztlich nichts anderes als ‚Einübung einer Lebenswelt‘. Sloterdijk beschreibt mit einem feinen Gespür für individual- und sozial-psychologische Mechanismen, wie sich die Menschen auf der Grundlage von Biologie und Kultur ein ‚Karma‘ zulegen. Über den einengenden, bindenden Zwangscharakter dieses Karmas – und über die freiheitsraubende Rolle, die die Technologie dabei innehat – täuscht uns Sloterdijk aber hinweg, indem er dieses Karma als ständiges Lebensänderungsprogramm kennzeichnet. Sloterdijk kennt sich also in den lebensweltlichen Mechanismen und Strukturen tatsächlich sehr gut aus, versieht sie aber mit einem verführerischen utopischen Glanz, der uns daran hindert, ihren eigentlichen Charakter zu durchschauen. Insofern ist er eben doch ein „Ignorant der Lebenswelt“.

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