„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 30. September 2011

Paul J. Crutzen/Mike Davis (Hg.), Das Raumschiff Erde hat keinen Notausgang, Berlin 2011

(Paul J. Crutzen, Die Geologie der Menschheit, S.7-10 / Michael D. Mastrandrea/Stephen H. Schneider, Vorbereitungen für den Klimawandel, S.11-59 / Mike Davis, Wer wird die Arche bauen? (2008/2009)/2010), S.60-92 / Peter Sloterdijk, Wie groß ist ‚groß‘? (2009), S.93-110)

1. Zur Brauchbarkeit einer Metapher
2. Technik: Teil der Lösung oder Teil des Problems?
3. Wie ignorant ist eigentlich wer?

Hier möchte ich nun auf die zweite Stelle in dem Zitat in meinem gestrigen Post zu sprechen kommen, in der Sloterdijk zwei Millionen Jahre der Menschheitsgeschichte und ihrer menschenähnlichen Vorläufer auf die Frage reduziert, ob sie etwas davon gewußt hatten, daß sie sich an Bord eines Raumschiffes befanden. (Vgl. Sloterdijk 2011/2009, S.95) Mit leichter Hand kennzeichnet Sloterdijk alles als ‚ignorant‘, was diesen „aktuellen Blickpunkt“ nicht teilt. Sloterdijk ist sicher nicht der erste, der die eigene Einsichtsfähigkeit als vorläufigen End- und Höhepunkt eines lang zurückreichenden Entwicklungsprozesses von der Dunkelheit zum Licht imaginiert. Aber die Gedankenlosigkeit, mit der er den kapitalistischen Raubbau an den Ressourcen der Erde als Ergebnis einer „spontane(n) Naturidee“ klassifiziert, die „die Geschichte der Menschheit bis gestern bestimmt (hat)“ und der zufolge die Natur „ein unendlich überlegenes und darum auch grenzenlos belastbares Außen“ darstellt (vgl. Sloterdijk 2011/2009, S.99), ist schon fast atemberaubend.

Wenn nämlich von „Ignoranz“ gegenüber den Grenzen der Naturressourcen gesprochen werden soll, dann ist das sicherlich in erster Linie auf das Industriezeitalter zu beziehen, also auf die letzten drei- bis vierhundert Jahre insbesondere der europäischen Geschichte. Die übrige Menschheitsgeschichte, sowohl historisch wie global, war sicher ebenfalls immer wieder von ökologischen und zivilisatorischen Katastrophen, teils naturbedingt, teils selbstverschuldet, heimgesucht worden. Dennoch finden wir außerhalb der kapitalistisch-marktwirtschaftlich begründeten Wachstumsorientierung auch nachhaltige Konzepte menschlichen In-der-Welt-Seins, auch ohne daß es in diesen Kulturen ein Bewußtsein davon gegeben hätte, sich an Bord eines Raumschiffs zu befinden.

So besucht z.B. Ulrich Grober das Museum, in dem sich die Mumie des berühmten ‚Ötzis‘ befindet, und er beschreibt anschaulich, wie perfekt dieser vor 5.000 Jahren gestorbene Mensch an die damalige, lebensfeindliche Bergwelt angepaßt gewesen war: „Die Mumie aus dem 4. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung ist überraschend schmalschultrig und feingliedrig. Die eingetrockneten Augen, denen noch anzusehen ist, dass ihre Iris einmal blau war, sind nach oben gerichtet. Die rechte Hand, mit der er das Beil führte und den Bogen spannte, greift ins Leere. Rings um den gläsernen Sarg sind die Überreste seiner Ausrüstung ausgestellt. Jedes Stück spiegelt seine halbnomadische Lebensweise. Alles ist bis ins Letzte durchdacht, alles perfekt seiner natürlichen Umwelt, seinen Bedürfnissen, seinen Zielen angepasst. Die Stiefel mit der Sohle aus Braunbärenfell, dem Oberteil aus Rindsleder und dem Innengeflecht aus Lindenbast sind absolut hochgebirgstauglich. Das Kupferbeil ist ein gusstechnisches Meisterstück, der Jagdbogen aus Eibenholz modernen Sportbögen an Reichweite und Durchschlagskraft beinahe ebenbürtig. Die Konstruktion des Außengestells am Rucksack gilt bei heutigen Outdoor-Ausrüstern als optimale Lösung für den Transport schwerer Lasten. Neun einheimische Arten von Holz sind verarbeitet. Für jeden Zweck hat er exakt die am besten geeignete Sorte ausgewählt. Die Sorgfalt, mit der er das volle Spektrum der heimischen Ressourcen nutzte, und die Eleganz der Einfachheit, die jedes seiner Artefakte auszeichnet, geben über die Jahrtausende hinweg den Blick frei – auf einen schöpferischen Geist. Der Gletschermann – der archetypische homo sustinens? Einer aus der langen Ahnenreihe der Erfinder der Nachhaltigkeit?“ (Die Entdeckung der Nachhaltigkeit. Kulturgeschichte eines Begriffs (2010), S.12f.)

Angesichts dieser Beschreibung von Ulrich Grober ist man fast versucht, von einer fünftausend Jahre alten High-Tech-Kultur zu sprechen, die der unseren in nichts nachsteht. Auch das ist Technik, – vielleicht nicht von der Art einer Raumfahrttechnologie, aber dafür eine menschliche Technologie, von der wir sicher sein können, daß dieser ‚Fremde‘ aus einer fernen Zeit von jedem einzelnen ‚Instrument‘ genau wußte, wie es funktionierte, wie es repariert werden und wahrscheinlich sogar wie es hergestellt werden konnte. Und Ulrich Grober fügt hinzu: „Die Idee der Nachhaltigkeit ist weder eine Kopfgeburt moderner Technokraten noch ein Geistesblitz von Ökofreaks der Generation Woodstock. Sie ist unser ursprünglichstes Weltkulturerbe.“ (Grober 2010, S.13)

Als ‚ignorant‘ erweist sich letztlich vor allem Sloterdijk selbst, – nämlich als ignorant gegenüber der Bedeutung der Lebenswelt. Schon in der seltsamen Begriffsbildung „spontane Naturidee“ zeigt sich, wie sehr Sloterdijk an dem Lebensweltphänomen vorbeifabuliert. Welchen Inhalts spontane Naturideen auch immer sein mögen, so ist ihnen allen doch gerade gemeinsam, aus den unterschiedlichen Entstehungskontexten bestimmter Lebenswelten bzw. ‚Kulturen‘ zu ‚emergieren‘. Nur in dieser Hinsicht ist es sinnvoll von einer ‚Spontaneität‘ dieser Naturideen zu sprechen. Hätten wir es bei den Naturideen mit ausgearbeiteten Begriffen zu tun, wie z.B. bei der Natur des Menschen im Sinne Rousseaus, könnte man sie kaum als ‚spontan‘ bezeichnen. Was soll man aber nun von einer ‚spontanen‘ Naturidee halten, die sich seit zwei Millionen Jahren unverändert durchgehalten hat? Eine  solche Naturidee ist eine gedankliche Monstrosität, aber bestimmt nicht Bestandteil irgendeiner Lebenswelt.

Auch die lebensweltliche Beschaffenheit religiöser Mythenbildungen verfehlt Sloterdijk mit einem Verweis auf Jesu Himmelfahrt, mit dem er das Maß der „Unwissenheit“ jener dunklen Zeiten zu veranschaulichen versucht, in denen man noch nichts vom Raumschiff Erde wußte: „Ich füge hinzu, daß uns deswegen der Rückgriff auf religiöse Überlieferungen in diesen Dingen nicht weiterhilft, weil die sogenannten Weltreligionen ausnahmslos einem prä-astronautischen Weltverständnis verhaftet sind – selbst Jesus konnte durch seinen Aufstieg in den Himmel zur Bedienungsanleitung des Raumschiffs Erde nichts Nennenswertes beitragen.“ (Sloterdijk 2011/2009, S.96)

Sloterdijks Verweis auf Jesu Himmelfahrt ist von ähnlicher Qualität wie der Spruch jenes Astronauten, der vom Weltraum aus verkündete, er könne hier nirgendwo einen Gott auffinden: d.h. er ist absolut dämlich. Jesus war sicherlich kein Astronaut Gottes, als er gen Himmel fuhr, aber seine Himmelfahrt bildet eine Metapher für die Fähigkeit des Menschen, sich aus seinen lebensweltlichen Verhängnissen und Verstrickungen zu befreien, seine lebensweltlichen Horizonte zu überschreiten, – eben gen Himmel zu fahren. Was jenem Astronauten, der im Weltraum keinen Gott finden konnte, offensichtlich nicht gelungen ist.

Jesus war also zwar kein Experte für den Weltraum, aber er war sehr wohl ein Experte für die menschliche Lebenswelt, ein Wissen, das dem Philosophen Sloterdijk offensichtlich völlig abgeht. Das hindert Sloterdijk aber nicht daran, sich bald nach seinem Verdikt über den Raumschiffsignoranten Jesus positiv auf Johannes den Täufer zu beziehen, der wie die heutigen Meteorologen „zur totalen Umkehr aufrief. Die Stimme aus der Wüste verlangte damals nicht weniger als eine Metanoia, die dazu gedacht war, das triviale egoistische Ethos des Alltags durch den moralischen Ausnahmezustand des Herzens zu ersetzen – dieser Ruf sollte die permanente Revolution auslösen, die wir Christentum nennen.“ (Sloterdijk 2011/2009, S.101)

Sloterdijk verweigert also Jesus nicht nur die Anerkennung als Astronaut, sondern auch die Anerkennung als Begründer des Christentums. Den an Jesu Stelle mit dieser Ehre ausgestatteten Johannes stellt Sloterdijk darüberhinaus noch mit den heutigen Meteorologen gleich, nämlich als Verkünder von mit der Klimaveränderung vergleichbaren Katastrophen. So springt Sloterdijk hin und her, behauptet mal dieses und mal jenes, aber alles summarisch und völlig undifferenziert und unter Verzicht auf detailliertere historische Begründungszusammenhänge. Immerhin hat diese Rede vor der UN-Klimakonferenz aber doch einen gewissen Erkenntniswert. Ungeachtet seines im gleichen Jahr erschienenen 723-seitigen, zur Lebensänderung aufrufenden Wälzers erweist sich Sloterdijk in dieser Rede selbst als der eigentliche Ignorant, – nämlich als Ignorant der Lebenswelt.

PS vom 12.10.2011: Es ist natürlich letztlich eine grobe Vereinfachung, Sloterdijk vorzuwerfen, daß er ein „Ignorant der Lebenswelt“ sei, weil gerade sein Buch „Du mußt Dein Leben ändern“ ein Bild vom Menschen zeichnet, das seinen Übungscharakter ins Zentrum stellt. ‚Übung‘ heißt aber bei Sloterdijk letztlich nichts anderes als ‚Einübung einer Lebenswelt‘. Sloterdijk beschreibt mit einem feinen Gespür für individual- und sozial-psychologische Mechanismen, wie sich die Menschen auf der Grundlage von Biologie und Kultur ein ‚Karma‘ zulegen. Über den einengenden, bindenden Zwangscharakter dieses Karmas – und über die freiheitsraubende Rolle, die die Technologie dabei innehat – täuscht uns Sloterdijk aber hinweg, indem er dieses Karma als ständiges Lebensänderungsprogramm kennzeichnet. Sloterdijk kennt sich also in den lebensweltlichen Mechanismen und Strukturen tatsächlich sehr gut aus, versieht sie aber mit einem verführerischen utopischen Glanz, der uns daran hindert, ihren eigentlichen Charakter zu durchschauen. Insofern ist er eben doch ein „Ignorant der Lebenswelt“.

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Paul J. Crutzen/Mike Davis (Hg.), Das Raumschiff Erde hat keinen Notausgang, Berlin 2011

(Paul J. Crutzen, Die Geologie der Menschheit, S.7-10 / Michael D. Mastrandrea/Stephen H. Schneider, Vorbereitungen für den Klimawandel, S.11-59 / Mike Davis, Wer wird die Arche bauen? (2008/2009)/2010), S.60-92 / Peter Sloterdijk, Wie groß ist ‚groß‘? (2009), S.93-110)

1. Zur Brauchbarkeit einer Metapher
2. Technik: Teil der Lösung oder Teil des Problems?
3. Wie ignorant ist eigentlich wer?

Hatte ich im letzten Post ausgeführt, inwiefern die Metapher vom Raumschiff eher weniger geeignet ist, das Mensch-Welt-Verhältnis zu beschreiben, so möchte ich hier nun näher erläutern, inwiefern sie stattdessen einen erhellenden Einblick in Sloterdijks Denken ermöglicht. Es war mir bislang unerklärlich gewesen, wie Sloterdijk 2009, zeitgleich übrigens zu der hier besprochenen Rede vor der UN-Klimakonferenz in Kopenhagen, ein Buch mit einem so kritischen Titel wie „Du mußt dein Leben ändern“ herausbringen konnte, das eine so affirmative Botschaft vermittelt, – daß nämlich eigentlich niemand sich wirklich ändern muß.

Auch in der Rede kommt dieser zunächst kritisch klingende Aufruf vor: „Unbestreitbar bleibt, daß während des 20. Jahrhunderts eine neue Gestalt des absoluten Imperativs in die Welt getreten ist: ‚Du mußt Dein Leben ändern‘ – dieser Satz prägt sich seither mit unwidersprechlicher Autorität in die ethischen Intuitionen vieler Zeitgenossen ein. Er imprägniert unser Bewußtsein mit dem verbindlichen Auftrag, einen modus vivendi auszubilden, der den ökologisch-kosmopolitischen Einsichten unserer Kultur entspricht.“ (Sloterdijk 2011/2009, S.105)

Schon in diesen zwei Sätzen haben wir eine versteckte Abschwächung der Kritik durch Affirmation. Im ersten Satz haben wir die apodiktische Feststellung eines neuen kategorischen Imperativs, und im zweiten Satz ist seltsam undeutlich von „ökologisch-kosmopolitischen Einsichten unserer Kultur“ die Rede. Das Wort ‚Kultur‘ suggeriert ja zunächst mal so etwas wie einen Mainstream. Von einer den Aufruf zur Umkehr kennzeichnenden partikularen Rationalität kann hier eigentlich nicht die Rede sein. Wenn wir es aber bei diesen ökologischen Einsichten mit einem Mainstream zu tun haben, wieso muß da noch zur Umkehr aufgerufen werden? Liegt es da nicht näher, lieber alles so zu lassen, wie es ist, da sich ja sowieso schon alles in die richtige Richtung hin entwickelt? Man braucht eigentlich nur die vorhandenen Tendenzen behutsam zu verstärken und ansonsten kann man sich doch eigentlich beruhigt zurücklehnen und zuschauen, wie gut alles läuft!

Was stimmt also: brauchen wir eine Umkehr im Sinne einer radikalen Lebensänderung oder stehen wir in der kulturellen Kontinuität längst vorhandener Einsichten, denen wir nur zu folgen brauchen?

Sloterdijks Deutung der Raumschiffmetapher zeigt nun, daß seine ganze kritische Attitüde, die er an den Tag legt, tatsächlich von einem Glauben an die technologische Kontinuität der modernen Naturwissenschaft getragen wird. Aufgrund der Vernachlässigung des Lebensweltthemas kann Sloterdijk die Technik nicht als Teil des Problems verstehen. Obwohl nämlich auch das schon erwähnte Buch dem kritischen Aufruf zur Umkehr und zur Lebensänderung gewidmet ist, endet Sloterdijk letztlich bei der simplen Feststellung, daß wir unser Leben schon immer ändern, weil wir ständig mit neuen Technologien konfrontiert werden, auf die hin wir immer wieder neu „umlernen“ müssen, d.h. die wir immer wieder neu bedienen lernen müssen. (Vgl. Sloterdijk 2009, S.529)

Wir ändern uns also sowieso. Dazu bedarf es keiner eigenen Anstrengung. Es kommt deshalb nach Sloterdijk vor allem darauf an, in der „Kontinuität“ dieses „Lernzusammenhangs“ die technischen Möglichkeiten zu erkennen und aufzugreifen, mit deren Hilfe wir die ökologischen Folgelasten in den Griff bekommen können, anstatt mit „Aufständen von Zivilisationsfeindschaft und des antitechnischen Ressentiments“, die nur zu nutzlosen „Trainingsabbrüchen“ führen, unsere „Modernitätsfitness“ in Frage zu stellen. (Vgl. Sloterdijk 2009, S.672) Anstelle einer solchen „entkernten ‚Kritik‘“ soll deshalb eine „affirmative Zivilisationstheorie“ treten. – Es ist schon erstaunlich, wie hinter dem kritischen Titel dieses Buches in einer dialektischen Wendung plötzlich die Affirmation hervorlugt und uns einverständig zuzwinkert!

Sloterdijk möchte tatsächlich in unbekümmerter Naivität unseren lebendigen Planeten in einen „Hybrid“ (Sloterdijk 2011/2009, S.109) verwandeln, also mit Analogie auf den menschlichen Körper aus dem „Erdkörper“ (Sloterdijk 2011/2009, S.108) eine Art Cyborg machen: „Durch die Umrüstung der Technologie auf homöotechnische und biomimetische Standards würde mit der Zeit ein völlig anderes Bild vom Zusammenspiel zwischen Umwelt und Technik entstehen.“ (Sloterdijk 2011/2009, S.109) – Auf der Grundlage einer so technikfreundlichen, kultur-affirmativen Einstellung ist dann alles möglich. Mit welcher Begründung will man – wenn man es denn überhaupt noch für nötig hält – sich dann z.B. noch gegen so fragwürde Weltrettungsprojekte wie dem Geoengineering wenden?

Die Frage steht also nach wie vor im Raum: Ist die Technik nun Teil der Lösung oder Teil des Problems? Ich würde denken, daß die Technik so lange Teil des Problems ist, wie wir ihre Rolle bei der Aufrechterhaltung unseres bisherigen Lebensstils nicht kritisch hinterfragen. Mit Sloterdijk läßt sich aber trefflich genau gegen die „antitechnischen Ressentiments“ polemisieren, die eben dieser Kritik angeblich zugrundeliegen. Er beruhigt die um ihren Besitzstand besorgten Gemüter und eröffnet eine Perspektive auf ein technisch abgesichertes Nur-weiter-so. So werden wir zu den schon aufgehäuften Folgelasten unseres derzeitigen Wirtschaftens nur neue unabsehbare Folgelasten hinzufügen, – Stichwort ‚Geoengineering‘. Eine solche Technik ist nun aber endgültig Teil des Problems und nicht der Lösung.

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Donnerstag, 29. September 2011

Paul J. Crutzen/Mike Davis (Hg.), Das Raumschiff Erde hat keinen Notausgang, Berlin 2011

(Paul J. Crutzen, Die Geologie der Menschheit, S.7-10 / Michael D. Mastrandrea/Stephen H. Schneider, Vorbereitungen für den Klimawandel, S.11-59 / Mike Davis, Wer wird die Arche bauen? (2008/2009)/2010), S.60-92 / Peter Sloterdijk, Wie groß ist ‚groß‘? (2009), S.93-110)

1. Zur Brauchbarkeit einer Metapher
2. Technik: Teil der Lösung oder Teil des Problems?
3. Wie ignorant ist eigentlich wer?

Sloterdijks Aufsatz „Wie groß ist ‚groß‘?“ (2011/2009) steht am Ende eines kleinen, von Paul J. Crutzen und Mike Davis herausgegebenen Sammelbändchens zur Klimaerwärmung und rundet ihn in gewisser Weise ab. Zugleich gibt Sloterdijk das Thema vor, das auch im Titel des Sammelbändchens erscheint, indem er die Metapher von Buckminster Fuller von der Erde als Raumschiff aufgreift. Diese Metapher ist sehr aussagekräftig, – nicht etwa, wie Sloterdijk meint, hinsichtlich der Situation der Menschheit auf dem von ihrem eigenen Handeln bedrohten Planeten ‚Erde‘. Hinterrücks – nämlich hinter Sloterdijks Rücken und damit entgegen seiner eigenen Intention – sagt diese Metapher vielmehr etwas aus über das Denken von Sloterdijk selbst. Tatsächlich möchte ich sogar behaupten, daß die Metapher vom Raumschiff Erde mehr über Sloterdijks Denken verrät als über das Verhältnis des Menschen zu seinem Planeten.

Die Metapher selbst ist in ihrer Schlichtheit bestechend: ein einsames, zerbrechliches Schiff in der lebensfeindlichen Leere des Weltraums und seine Besatzung, die Menschheit. Die suggestive Wirkung ist enorm. Die Besatzung ist in diesem Szenario unlösbar auf die Lebenerhaltungssysteme ihres Raumschiffs angewiesen. Und ebenso unmittelbar leuchtet ein, daß die Ressourcen in diesem Raumschiff begrenzt sind. So kurz, so ergreifend und so gut. Was macht nun aber Sloterdijk im weiteren daraus? Es folgt ein längeres Zitat:

„Den Passagieren wurde keine Bedienungsanleitung mitgeliefert, vermutlich, weil sie von selber hinter das Geheimnis ihrer Situation kommen sollten. Tatsächlich wird die Erde, soviel wir wissen, seit fast zwei Millionen Jahren von Menschen und Menschenvorläufern bewohnt, ‚die nicht einmal wußten, daß sie an Bord eines Schiffes sind‘.() Anders ausgedrückt: Den Menschen war in der Vergangenheit bei ihren Navigationen ein hohes Maß an Ignoranz zugestanden, da das System auf die Duldung hoher Grade menschlicher Unwissenheit ausgelegt war. Doch in dem Maß, wie die Passagiere anfangen, das Geheimnis der Lage zu lüften und mittels der Technik Macht über ihre Umwelt zu ergreifen, sinkt die anfängliche Ignoranzduldung durch das System ab, bis ein Punkt erreicht ist, an dem bestimmte Formen des unwissenden Verhaltens mit dem Aufenthalt der Passagiere an Bord nicht mehr verträglich sind. Das In-der-Welt-Sein des Menschen, von dem die Philosophie des 20. Jahrhunderts sprach, enthüllt sich somit als ein An-Bord-Sein auf einem störungsanfälligen kosmischen Fahrzeug. Vom aktuellen Blickpunkt aus gesehen, erweist sich die Geschichte des Denkens auf dem Planeten als ein finalisiertes kognitives Experiment, in dessen Verlauf die Wahrheit über die globale Situation ans Licht gebracht werden mußte.“ (Sloterdijk 2011/2009, S.95f.)

An zwei Stellen in diesem Zitat möchte ich in diesem und in den nächsten Posts anknüpfen: erstens verknüpft Sloterdijk, wie übrigens auch schon Fuller, die Metapher vom Raumschiff ‚Erde‘ mit der Frage nach der „Bedienungsanleitung“, und zweitens transportiert er mit der Metapher ein seltsam verkürztes Geschichtsbild der Menschheit, das zwei Millionen Jahre der Evolution darauf reduziert, daß die Menschen bis heute nicht wußten, daß sie sich „an Bord eines Schiffes“ befinden! Wie bedauerlich ignorant! – Auf diesen zweiten Aspekt werde ich im letzten Post noch einmal näher eingehen.

Die Frage nach der Bedienungsanleitung zeigt vor allem eines: daß nämlich Sloterdijk nicht zwischen Lebenswelt und Technologie differenziert, wie wir es z.B. von Blumenberg kennen. (Vgl. meinen Post vom 07.08.2010) Sloterdijk spricht von dem Lebensraum ‚Erde‘, als handelte es sich nicht um eine Lebenswelt, sondern um ein technisches Artefakt, zu deren Bedienung es einer Anleitung bedarf. Liegt diese nicht vor – „weil sie von selber hinter das Geheimnis ihrer Situation kommen sollten“ –, müssen sich die Menschen eben selber eine schreiben. So wird das Raumschiff Erde zu etwas, das wir nur richtig bedienen müssen, um es steuern zu können, – was so ziemlich das Gegenteil von einer Lebenswelt ist. Was bedeutet das nun für das Verhältnis des Menschen zur Welt?

Diese Grundfrage jeder Anthropologie, das Geheimnis des „In-der-Welt-Sein(s) des Menschen“, glaubt Sloterdijk nun ganz einfach beantworten zu können. Es kommt nämlich Sloterdijk zufolge alles darauf an, „auf dem Raumschiff Erde so etwas wie ein globales Stabilisierungsregime“ einzurichten, bei dem man allerdings darauf achten sollte, die „kulturelle Evolution“ nicht zu gefährden, da diese vor allem auf einem „lebbaren Ungleichgewichtszustand“ beruhe. (Vgl. Sloterdijk 2011/2009, S.102) – Das ist es dann aber auch schon, was Sloterdijks Anthropologie an Differenzierungen zum Mensch-Welt- und zum Mensch-Technik-Verhältnis beizutragen hat: Wir haben es bei der Menschheit mit einer Raumschiffbesatzung zu tun, die sich füglich und sorgsam um das „Atmosphären-Management“ (Sloterdijk 2011/2009, S.94) im Inneren dieses Raumschiffs kümmern sollte, anstatt technikverdrossen über dessen Sinn und Zweck zu schwadronieren.

Sloterdijks Auslegung der Raumschiffmetapher beinhaltet eine schicksalsträchtige Verschmelzung von Mensch und Welt und von Mensch und Technik, die der Mensch selbst herbeigeführt hat und die er nun – um seines Überlebens willen – nicht mehr rückgängig machen kann. Zugleich verhindert die Metapher die Einsicht in die Lebensweltlichkeit der Technologie selbst, da sie ja nun die eigentliche Wahrheit des menschlichen In-der-Welt-Seins als ein An-Bord-eines-Raumschiffs-Seins „enthüllt“. Diesen Akt der ‚Aufklärung‘ durch die Raumschiffmetapher verstärkt Sloterdijk noch durch einen impliziten Verweis auf Kants Aufklärungsformel: „Wer an Bord des Raumschiffs den Mut hat, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, legt sich früher oder später Rechenschaft ab über die Tatsache, daß wir Autodidaktiker der Raumfahrt sind.“ (Sloterdijk 2011/2009, S.96) – In der Raumschiffmetapher wird also die eigentliche anthropologische Grundverfassung des Menschen offenbar.

Anstatt aber die Grundverfassung des Menschen zu ‚enthüllen‘, verhüllt Sloterdijks Auslegung der Raumschiffmetapher etwas Entscheidendes, auf das Blumenberg hingewiesen hat. Zwar erkennt Blumenberg an, daß die Technik dazu beigetragen hat, die Lebensverfassung des Menschen zu verbessern; sie ist jedoch weit davon entfernt, dem Menschen einen tieferreichenden Aufschluß über sich und seine Lebenswirklichkeit zu geben. Ganz im Gegenteil ist die Technik so sehr Teil der Lebenswelt des Menschen geworden, daß er durch sie nicht einfach nur neue Freiheitsgrade hinzugewonnen, sondern eben auch entscheidende Freiheiten verloren hat. Sowohl im Denken wie im Tun ist der Mensch so abhängig von der Technik geworden, daß er sich nicht nur nicht mehr ohne sie am Leben erhalten kann, sondern daß er auch zumeist gar nicht mehr weiß, wie die Technik, die er bedient, funktioniert und wie sie ihn am Leben erhält. Der moderne Mensch kann sich von seiner Technik so wenig befreien, wie er sich von seiner Lebenswelt befreien kann.

Der schon von Fuller der Raumschiffmetapher beigefügte und von Sloterdijk in seiner Rede weiter ausgedeutete Aspekt der Bedienungsanleitung suggeriert nun aber, die Technik wäre so steuerbar und so kontrollierbar, wie es die Lebenswelt eben nicht ist. Für Sloterdijk ist die Technik also keine Lebenswelt, denn die Suche nach einer Bedienungsanleitung für die Lebenswelt wäre ja sinnlos. Zugleich aber ist die Technik dennoch der Ort, in dem wir leben, denn sie ist ja das Raumschiff ‚Erde‘. Die Brauchbarkeit der Raumschiffmetapher ergibt sich also erst daraus, daß Sloterdijk einen wesentlichen Aspekt des menschlichen In-der-Welt-Seins, nämlich seine lebensweltliche Verfaßtheit, einfach ignoriert.

Die Brauchbarkeit der Fullerschen Raumschiffmetapher hätte sich aber gerade in ihrer Schlichtheit ohne weiteres ergeben. Erst ihre Ergänzung in Richtung auf eine dazugehörige Bedienungsanleitung verdirbt ihren aufklärenden Effekt. So was hatte schon Blumenberg geahnt, als er mit Bezug auf Hebbel schrieb: „Man möchte fast sagen, die Metapher sei besser als das aus ihr entwickelte Gleichnis.“ (Theorie der Unbegrifflichkeit (2007), S.64)

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Montag, 26. September 2011

Der Intellektuelle auf dem Papststuhl

Anläßlich des gerade beendeten Deutschlandbesuchs des Papstes und seiner hier gehaltenen Reden ist immer wieder vom „Intellektuellen auf dem Papststuhl“ die Rede. In dieser Beschreibung des Papstes schwingt ein gewisser Respekt mit, verbunden mit einem leisen Bedauern, daß ihm nur wenige sachverständige Zuhörer folgen können. Und zu dieser Beschreibung gehört auch immer wieder die deutlich zum Ausdruck gebrachte Enttäuschung, daß seine Gesprächs- und Kompromißbereitschaft gegenüber Andersdenkenden und Anders- oder Gar-nicht-Gläubigen gegen Null tendiert.

Diese Melange aus unterschwelligen bis expliziten Konnotationen scheint mir von einer gewissen Verwunderung darüber getragen zu sein, daß gerade ein Intellektueller, der doch von einer lebendigen Streitkultur herkommt und diese offensichtlich nach wie vor zu schätzen weiß, so dogmatisch auftritt. Aber letztlich ist es doch der tiefste Instinkt jedes Intellektuellen, nicht einfach nur zu streiten, sondern am Ende auch Recht zu behalten. Jeder Intellektuelle ist vor seinem ‚Gewissen‘ überzeugt, im Besitz der besseren Argumente zu sein. Insofern ist jeder Intellektuelle ein kleiner Papst.

Intellektualität zeichnet sich nicht etwa dadurch aus, daß man seine eigene Meinung bezweifelt, sondern daß man argumentiert, d.h. daß man seine Meinung aufs Spiel setzt und sie dem Konkurrenzkampf der Meinungsvielfalt aussetzt. Nur Intellektuelle argumentieren. Alle anderen schlagen lieber gleich zu, wenn sie sich und ihre Meinung durchsetzen wollen. Der Umgang des normalen Menschen mit seiner Meinung unterscheidet sich nämlich nicht vom Umgang des normalen Gläubigen mit seinen Glaubenssätzen. Als 1989 die Mauer fiel, konnten plötzlich viele Bürger in den künftigen neuen Bundesländern ‚ihre‘ Meinung frei äußern. Meinungsfreiheit war von einem Tag auf den anderen plötzlich zu einem hohen Gut geworden, das jeder für sich in Anspruch nahm. Mir fiel auf, daß viele der künftigen neuen Bundesbürger – nicht anders übrigens als viele der alten Bundesbürger auf der anderen Seite der ehemaligen Grenze – dabei etwas mißverstanden. So sehr sie nämlich das neue Recht, frei die eigene Meinung äußern zu können, nun auch ausgiebig nutzten, so wenig waren sie bereit, diese Meinung im Gespräch aufs Spiel zu setzen und hinterfragen zu lassen. ‚Meinung‘ wurde mit ‚Privat‘-Meinung gleichgesetzt. Mit der Äußerung ihrer Meinung schien für sie – so hatte ich den Eindruck – die Diskussion beendet zu sein. Tatsächlich beginnt die Diskussion damit aber erst!

Die Meinungsfreiheit wurde auf zwei Sätze reduziert, die man formelhaft, wie einen Glaubenssatz, vor sich her trug. 1. Satz: „Dies oder jenes ist nicht in Ordnung!“, bzw.: „Dies oder jenes soll nun geschehen!“; und 2. Satz: „Das ist meine Meinung!“ – Das Possessivpronomen wurde (und wird) dabei besonders betont, im Sinne von: „Dies ist jetzt mein Recht, das mir keiner mehr nehmen darf!“ – Diese Art Meinungsfreiheit ist aber nur eine Stammtischfreiheit, wo man sich unter seinesgleichen wechselseitig darin bestätigt, immer schon im Recht zu sein. In so einer Stammtischrunde wird aber nicht wirklich etwas riskiert. Um etwas zu riskieren, muß man argumentieren. Denn nur wer argumentiert, riskiert auch, daß er unter Umständen widerlegt werden könnte. Und erst in diesem Augenblick, wo wir unsere Meinung der Kritik anderer aussetzen – wo wir etwas riskieren –, können wir auch wirklich von Meinungsfreiheit sprechen. Von jener Meinungsfreiheit nämlich, die uns grundgesetzlich garantiert ist.

Ansonsten sollten wir nämlich nicht von Meinungsfreiheit sprechen, sondern von Glaubensfreiheit. Glaubensfreiheit ist die einzige Form der Meinungsfreiheit, die nicht widerlegt zu werden braucht. Der entsprechende Paragraph im Grundgesetz, die Religionsfreiheit nämlich, schafft so etwas wie ein Reservat für Meinungen, die man einfach so haben darf: eine Art Naturschutzgebiet für seltene Tierarten, die dem Naturprozeß der gegenseitigen Auslese entzogen werden. Der einzige Unterschied zwischen Meinungen und Glaubenssätzen besteht also darin, daß Meinungen nicht nur jederzeit widerlegt werden können und dürfen, sondern sogar widerlegt werden müssen, weil nur in diesem möglichen Widerlegtwerden die Meinungsfreiheit ihren Sinn erfüllt.

Ansonsten aber gilt eben auch für Intellektuelle, daß sie ihre Meinungen im Überlebenskampf der öffentlichen Debatten nicht gerne sterben sehen. Insofern bildet der Papststuhl eine ideale ökologische Nische für jeden Intellektuellen, in der er nach Herzenslust argumentieren kann – sich als Intellektueller nach Herzenslust ausleben darf –, ohne sich der Gefahr auszusetzen, am Ende nicht Recht zu behalten. In diesem Sinne ist dem ehemaligen Professor Ratzinger, als er zum Papst gewählt wurde, im wahrsten Sinne des Wortes ein Himmelsgeschenk gemacht worden. Er kann seine Meinung zur Lehrmeinung machen und sie auch argumentativ subtil begründen, ohne daß ihm irgendjemand widersprechen und damit ins Unrecht setzen kann. Niemand sollte sich darüber wundern, daß er nicht darauf verzichten will, dieses Amt gemäß seiner intellektuellen Natur auszufüllen.

Da macht es nun auch Sinn, daß der Papst (oder Prof. Ratzinger?) um dieses Privilegs willen die Kirche jetzt von der Welt wegrücken will. Etwas so Köstliches wie das Bewußtsein, immer schon im Recht zu sein, muß mit allen Mitteln bewahrt werden. Damit aber nähert sich die päpstliche Theologie endgültig dem Stammtischniveau an. Im nicht irritierbaren Kreis der Gleichgesinnten meint und glaubt es sich doch am besten. – Schade eigentlich um die vielen guten Denkanstöße, die die Papstreden im übrigen sonst noch enthalten haben.

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Samstag, 10. September 2011

Hans Blumenberg, Theorie der Unbegrifflichkeit, Frankfurt a.M. 2007

1. Der aufrechte Gang: Horizont versus Reflexbogen
2. Bewußtsein als ‚langsame Kognition‘
3. Unbesetzte Subjektpositionen: Ideen als Metaphern
4. Verstehen als Kontextphänomen

Bei aller prinzipiellen Verschiedenheit von Schwarm-‚Intelligenz‘ und individuellem Bewußtsein gibt es doch eine Analogie in der Erscheinungsform. Diese Analogie bezieht sich vor allem auf die Frage, wie Verstehen zustandekommt: also in bezug auf Lernprozesse, und dabei denke ich keineswegs ans Auswendiglernen! Auf welch mühsame und umständliche Weise auch immer wir zu einem Verständnis uns bislang unbekannter Phänomene gelangen, also zu neuem Wissen, – der letztliche Effekt des Verstehens tritt immer plötzlich ein. Es ‚emergiert‘ auf die seltsamste Weise aus einem Irgendwo, oft wenn wir uns gerade nicht mehr mit der Sache beschäftigen, um die es gerade geht, beim Abwaschen, Einkaufen, Musizieren oder wortwörtlich: im Schlaf.

Woher kommt also dieses Verstehen? Schwärme könnten darauf eine Antwort gehen, denn wie diese ist plötzliches Verstehen ein Kontextphänomen. Wie ein Schwarm stellt sich das Verstehen in unser Bewußtsein ein und bildet gleichsam aus dem Nichts eine anschauliche ‚Gestalt‘. Plötzlich macht das, was wir bislang partout nicht verstehen konnten, einen Sinn. Das läßt sich sehr schön an der Funktion der Metapher zeigen, wie sie Blumenberg in seiner „Theorie der Unbegrifflichkeit“ beschreibt. Das Verstehen von Metaphern bildet geradezu das Paradigma für Verstehensprozesse aller Art.

Blumenberg beschreibt Metaphern als Kontextphänomene. Kontexte wiederum beschreibt Blumenberg als Sinnzusammenhänge, die ein bestimmtes Verstehen von Sätzen nahelegen. (Vgl. Blumenberg 2007, S.61ff.) Wir haben es also wie bei Tomasello mit einer Art „extravaganter Syntax“ zu tun (vgl. meinen Post vom 27.04.2010), die die Syntax von Subjekt und Prädikat auf der Satzebene ergänzt und oft genug überhaupt erst verstehbar macht. Nun gibt es Kontexte, die so vielschichtig geschachtelt sind, wie z.B. in Bildungs- oder Fantasyromanen, daß den Sätzen, egal wie oft wir sie lesen, immer wieder neuer, unerwarteter Sinn zuwächst. In diesen Kontexten werden alltäglich erscheinende Ereignisse zu Gleichnissen – nach Blumenberg eine „Entfaltungsform der Metapher“ (vgl. Blumenberg 2007, S.62) – für dämonische, erheiternde, besinnliche etc. Einsichten, oder umgekehrt werden außerordentliche, erschreckende Ereignisse zu Gleichnissen für skurrile und kleinbürgerliche Verschrobenheiten unseres Alltags. Wie und wo auch immer diese Metaphern im Text verteilt ‚auftauchen‘, – sie stellen, so zitiert Blumenberg einen Linguisten, „semantische Anomalie(n)“ eines Kontextes dar. (Vgl. Blumenberg 2007, S.61) Und Blumenberg selbst hält fest: „Zunächst ist sie, in einem Text gegeben, eine Störung des Zusammenhanges ...“ (Blumenberg 2007, S.61) – Als diese ‚Störung‘ erweisen Metaphern sich übrigens als ein genuines Bewußtseinsphänomen. (Vgl. meinen Post vom 07.09.2011)

Am letzten Zitat wird nun allerdings eine Differenz zu Tomasellos extravaganten Syntax sichtbar: Wo bei Tomasello die extravagante Syntax zum leichteren Verstehen komplexer Erzählstrukturen beiträgt, erschwert die Metapher dieses Verstehen. Zumindestens auf den ersten Blick. Ist diese Verzögerung im Verstehensprozeß erst einmal eingetreten und werden wir zu einem zweiten Blick auf die betreffende Textstelle veranlaßt, werden wir im Erkennen der Metapher auf eine neue Verstehensebene gehoben. Erst die Metapher ermöglicht also den Tiefenhorizont verschachtelter Sinnstrukturen in der Literatur.

Die Metapher bewirkt nämlich etwas in bezug auf den Kontext, aus dem sie herausfällt. Wir haben ein bezeichnendes Wechselverhältnis zwischen Kontext und Metapher. Zunächst einmal wird die Metapher nur in Kontexten möglich, die – so Blumenberg – „schwach“ determiniert sind: „Zweifellos nutzt die Metapher im Kontext eine Stelle schwacher Determination aus, um sich anstelle dessen zu setzen, was der im Kontext implizierten Erwartung genügen würde.“ (Blumenberg 2007, S.61) – In diesem Sinne wären Werke der schönen Literatur – wie die erwähnten Bildungs- und Fantasyromane – schwache Kontexte. Sie ermöglichen ein weites Spektrum an Sinnverstehen. Hier können Metaphern ihr volles Potential entfalten, während sie in stark determinierten Kontexten wie z.B. Gesetzestexten keine Chance haben. (Vgl.ebd.)

Andererseits gibt es „bestimmte Ausdrücke“, so Blumenberg, die wiederum selbst „eine besonders schwache Kontextdetermination erzeugen“. (Vgl. Blumenberg 2007, S.61) Das Wort „Sokrates“ hat z.B. von vornherein einen relativ stark determinierten Kontext. Fügt man ihm noch das Prädikat „der junge ...“ oder „der platonische ...“ hinzu, sind die Erwartungen des Lesers hinsichtlich dessen, was da noch kommen mag, schon festgelegt. (Vgl.ebd.) Stelle ich aber das Wort „Geschichte“ an den Anfang eines Satzes, kann praktisch alles Mögliche folgen. Der Kontext, den dieses Wort mit sich führt, ist also nur schwach determiniert. (Vgl. Blumenberg 2007, S.61f.)

Der einen schwachen Kontext erzeugende Begriff der Geschichte ist nun, so Blumenberg aus einem „seiner metaphorischen Prädikate“ erwachsen, so daß er „aus den Historien, die erzählt werden, die Historie macht, die in allen Erzählungen nicht mehr aufgeht, durch kein Erzählen vollends integriert und objektiviert werden kann.“ (Blumenberg 2007, S.66) Kontextschwache Ausdrücke wie „Geschichte“, die sich selbst wieder aus einem metaphorischen Feld herausheben, werden also nicht nur durch Kontexte ermöglicht, sondern sie ermöglichen auch wiederum Kontexte, nämlich, wie schon gesagt, ihre Staffelung in verschiedenen Ebenen und Sinnhorizonten. Metaphern können also gleichermaßen aus lebensweltlichen wie narrativen Kontexten ‚herausfallen‘ wie sie Kristallisationskeime für neue Sinnkonstellationen bilden können. Letztlich wird am Verstehen von Metaphern modellhaft deutlich, wie Verstehen überhaupt funktioniert. So wie wir Metaphern plötzlich verstehen, nach einer ‚Störung‘, die uns im bisherigen problemlosen Verstehen eines Textes innehalten läßt, ‚fällt‘ uns auch in Lernprozessen aller Art – außer dem Übungs- und Auswendiglernen – plötzliches Begreifen ‚zu‘, – trotz aller vorangegangenen Anstrengungen wie ein Zufall.

Aber dann kommt es wohl letztlich nicht auf das bewußte Verstehen an? Könnte dann nicht auch – um auf den Vergleich mit der Schwarmintelligenz zurückzukommen – die Manipulation von Menschenmassen als Verstehensprozeß beschrieben werden? Es ist aber doch wohl eher anders herum so, daß Massen den Einzelnen vom Kontext trennen. Die Masse tritt an die Stelle des Kontextes und wird zum ausschließlichen Kontext des verkollektivierten Einzelnen.

Wenn Blumenberg Platons Höhle als „eine Sphäre der dichtesten Abschirmung von der Realität“ bezeichnet (vgl.S.109), dann trifft genau das eben auch auf die Masse zu. Die Analogie zwischen Massen bzw. Schwärmen und dem Verstehen besteht ausschließlich in ihrer Erscheinungsform, – sie emergieren, und das macht sie zu Kontextphänomenen. Die Medien des Schwarms mögen nun Hardware, Software oder Wetware sein. Das Medium des Verstehens ist ausschließlich das individuelle Bewußtsein.

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Freitag, 9. September 2011

Hans Blumenberg, Theorie der Unbegrifflichkeit, Frankfurt a.M. 2007

1. Der aufrechte Gang: Horizont versus Reflexbogen
2. Bewußtsein als ‚langsame Kognition‘
3. Unbesetzte Subjektpositionen: Ideen als Metaphern
4. Verstehen als Kontextphänomen

Mit dem aufrechten Gang beginnt eine Reihe von Raumbeschaffungen. Hatte Blumenberg schon der 90̊-Aufrichtung eine weitere 90̊-Aufrichtung auf insgesamt 180̊ hinzugefügt, die sich nun nicht mehr nur auf einen Horizont, sondern auch auf den Sternenhimmel richtete, welchen Platon alsbald mit seinem Ideen-Kosmos besetzte (vgl. Blumenberg 2007, S.15), so überträgt er diese raumerweiternde Grundstruktur des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses in den folgenden Ausführungen auch auf Kants Verhältnisbestimmung von theoretischer und praktischer Vernunft (vgl. Blumenberg 2007, S.40-52) sowie auf die mythologischen Implikationen des Verhältnisses von Subjekt und Prädikat (vgl. Blumenberg 2007,  S.61-74). Beide Formen der Raumschaffung und Raumbesetzung sagen uns etwas über das Verhältnis von Idee und Metapher bzw. Symbol (Blumenberg zufolge meint Kant mit ‚Symbol‘ nichts anderes als die Metapher (vgl. Blumenberg 2007,  S.58)) einerseits und über die Idee als einer Funktion des ‚Sinnes von Sinn‘ andererseits.

Zunächst geht Blumenberg auf Kants Differenzierung zwischen Verstandesbegriffen und Vernunftsbegriffen ein. (Vgl. Blumenberg 2007, S.53ff.) Zu den empirischen Verstandesbegriffen gehören alle unsere Wahrnehmungen, z.B. weiße Schwäne, zu deren Typus das Weiße solange gehört, wie uns eine konkrete Anschauung von schwarzen Schwänen fehlt. Empirische Verstandesbegriffe sind also so lange gültig, wie ihnen konkrete empirische Anschauungen entsprechen: „Deshalb sagt Kant, daß die Art von Anschauungen, die für die Realität empirischer Begriffe erforderlich ist, ‚Beispiele‘heißt. Kein empirischer Gegenstand vertritt die Anschauung, die seinem Begriff zugrunde liegt, für sich allein und zureichend, aber doch so, daß er zur Realität des Begriffs, zur Herstellung seines gegenständlichen Bezugs, verhilft.“ (Blumenberg 2007, S.54)

Dann gibt es noch reine Verstandesbegriffe, z.B. die Kategorien der Relation und der Modalität. Auch sie bedürfen zu ihrer Realität einer Anschauung. Diese besteht aber nur in einer inneren Anschauung: dem Zeiterleben. (Vgl. Blumenberg 2007, S.55) Ich muß gestehen, daß es mir immer schon als etwas rätselhaft erschienen ist, was genau Kant damit gemeint haben könnte. Ich habe versucht, es mir mit dem Begriff der Kausalität zu erklären. Kausalität ist ein innerer Zwang, Ereignisse, die zeitlich direkt aufeinander folgen, in einen Ursache-Wirkungszusammenhang zu bringen. Dieser ‚innere Zwang‘, die Ereignisse in der Welt in einen kausalen Zusammenhang zu bringen, wäre dann eine Art innerer Anschauung, ähnlich der von den weißen Schwänen, – nur daß es sich bei den letzteren um empirische Anschauungen, nämlich um „Beispiele“ handelt. Bei der Kausalität handelt es sich also um eine innere Anschauung, im Sinne eines chronologisierenden „Schematismus“ (vgl. Blumenberg 2007, S.55). – Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob sich dieser Schematismus wirklich auf alle Kategorien, die Kant aufzählt, so ohne weiteres anwenden läßt.

Wie auch immer: Beispiele und Schematismen bilden nach Kant die Realitätsgrundlage der empirischen und der reinen Verstandesbegriffe. Nun gibt es allerdings noch Begriffe, denen schlechthin keine Anschauung entspricht, weil sie eine Totalität implizieren, wie z.B. die Begriffe „Sein“, „Welt“ oder „Geschichte“, denen gegenüber wir keine Beobachter- bzw. Zuschauerposition einnehmen können: „Es ist unmöglich, für den Begriff ‚Welt‘ eine Anschauung bereitzustellen, sei es auch nur die eines Beispiels – schon deshalb, weil es ‚Welt‘ trotz des hyperbolischen Sprachgebrauchs nicht im Plural geben kann, es also unmöglich ist, eine Welt als Beispiel für die im Begriff Welt gemeinte Anschauung vorzuweisen.“ (Blumenberg 2007, S.55) – Wir sind immer schon Teil der von diesen Begriffen bezeichneten Zusammenhänge und Geschehnisse und sehen deshalb den Wald vor lauter Bäumen nicht.

Wir haben es also bei der Welt nicht einfach mit einem Gegenstand zu tun, sondern mit einer Gesamtheit von Gegenständen. Es gibt aber noch eine andere Art von Begriffen, die ebenfalls nicht den Charakter von Gegenständen haben: nämlich Regeln, die uns vorschreiben, wie wir uns Gegenständen (und Menschen) gegenüber zu verhalten haben. Solche Begriffe sind z.B. „Gott“ oder „Freiheit“ oder einfach das sittlich „Gute“. (Vgl. Blumenberg 2007, S.58f.) Alle diese Begriffe bezeichnet Kant als „Ideen“ oder als „reine Vernunftbegriffe“. (S.57, 62, 65) Die einzige Möglichkeit, uns eine Art ‚Anschauung‘ von ihnen zu verschaffen, ist es, „Symbole“ für sie zu finden, Gegenstände, die in uns ähnliche Gefühle wecken wie die reinen Vernunftbegriffe. So bezeichnet Kant z.B. das „Schöne“ als „Symbol des Sittlichguten“. (Vgl. Blumenberg 2007, S.59) Die spontan geäußerte  Zustimmung beim Anblick des Schönen deutet nach Kant auf die fast schon instinktive Annahme hin, das, was wir selbst als schön empfinden, müßten auch alle anderen als schön empfinden. So steht das Schöne, dessen Genuß wir mit anderen teilen wollen, auch für den Anspruch des Guten: „Die Unmittelbarkeit der Zustimmung, die der ästhetische Gegenstand ohne Appell an das Eigeninteresse fordert, und die Freiheit der Einbildungskraft ohne Beliebigkeit, die er gewährt, bestimmen die durch Reflexion auffindbare Anwendbarkeit auf die praktische Vernunft.“ (Blumenberg 2007, S.59f.)

Ideen sind also Vorstellungen, denen kein Gegenstand entspricht, entweder weil sie eine Totalität von Gegenständen umfassen oder weil sie Regeln beinhalten, die unser Verhalten Gegenständen gegenüber betreffen. Weil sich zu diesen Ideen keine andere Anschauung geben läßt als die indirekte über Symbole und Metaphern, bleiben sie inhaltlich unbestimmt. Der theoretischen Vernunft können diese Metaphern natürlich nicht genügen. Bei der praktischen Vernunft ist das aber anders. Ihr genügt die praktische Notwendigkeit, daß Entscheidungen getroffen werden müssen, in denen wir uns vor die Wahl zwischen richtig und falsch gestellt sehen, um die Idee der Freiheit als Realität anzuerkennen. Die praktische Vernunft füllt „den leeren Platz“, den die theoretische Vernunft ihr gelassen hat (vgl. Blumenberg 2007, S.44f.), mit sittlichen Ideen.

Ideen bilden also einen „Unbestimmtheitsraum“, der der Vorbegrifflichkeit von Metaphern entspricht („Ursprungssphäre des Begriffs“ (vgl. Blumenberg 2007, S.28)), was sie vielleicht genau deshalb als Symbole für diese Ideen so geeignet macht. So kann das fröhliche „Lachen“ eines „Gefildes“ – bei Quintilian ist vom „Lachen einer Wiese“ die Rede – einen Gemütszustand anzeigen, der nach Kant demjenigen entspricht, der sich bei moralischen Urteilen einstellt. (Vgl. Blumenberg 2007, S.60)

Worauf es mir hier vor allem ankommt, ist, daß nicht nur die theoretische Vernunft der praktischen Vernunft einen leeren Platz einräumt, den diese nun in ihrem Sinne füllen kann. Auch die Ideen selbst bilden im Grunde nur Platzhalter, die den theoretischen Argumentationszusammenhang für praktische Notwendigkeiten offenhalten, die den theoretischen Ansprüchen auf vollkommene Bestimmbarkeit, dem „Ideal der vollen Vergegenständlichung“ (Blumenberg 2007, S.11), nicht genügen können. Wir haben es also nicht nur mit einem leeren Platz im theoretischen Kontext zu tun, sondern auch die reinen Vernunftbegriffe selbst, mit denen wir diesen leeren Platz füllen, bilden selbst wiederum ‚Unbestimmtheitsräume‘ (vgl. Blumenberg 2007, S.57), die für die unserer Wahrnehmung entzogene Verbundenheit „extrem auseinanderliegende(r) Bereiche“ (Blumenberg 2007, S.28) stehen.

Extrem weit auseinander liegen z.B. auch die kategorial getrennten Bereiche der Theorie und der Praxis. Auch Günther Buck sah im Erzählen von Beispielgeschichten aus der Literatur oder aus der Lebenspraxis eine Möglichkeit, Theorie und Praxis miteinander zu verbinden, ohne zu theoretisieren, aber dennoch beim Zuhörer Verstehen zu induzieren. (Vgl. „Lernen und Erfahrung – Epagogik. Zum Begriff der didaktischen Induktion“ (3/1989)) Was für Günther Buck die Beispielgeschichte leistet, leistet bei Kant das Symbol – unter anderem auch das ‚Beispiel‘ des tugendhaften Handelns, das unsere Achtung erzeugt – und bei Blumenberg die Metapher.

Blumenberg spricht denn auch von der „Kühnheit“ (vgl. Blumenberg 2007, S.28, 65) oder gar von der „Hochstapelei“ (vgl. Blumenberg 2007, S.63) oder einfach auch schlicht vom „Mut“ (vgl. Blumenberg 2007, S.89) der Metapher, die mal prätentiöser, mal bescheidener, aber immer unerschrocken Denkergebnisse vorwegnimmt, bevor sie argumentativ eingelöst werden können, und zu Handlungsentscheidungen verführt, bevor der richtige Moment unwiderruflich vergangen ist. Und mit diesem ‚Mut‘ der Metapher bewegen wir uns in genau jenem Spielraum, den uns nach Kants Formel die Aufklärung eröffnet hat: dem Mut, den eigenen Verstand zu gebrauchen, ohne uns vorher bei allen möglichen Autoritäten abgesichert und von ihnen dazu die Erlaubnis eingeholt zu haben. Der ‚Mut‘ der Metapher gehört so untrennbar zum Mut des eigenen Verstandesgebrauchs, zu jener Mischung aus Naivität und Kritik, die für ihn unerläßlich ist.

So kommen wir also vom Raumgewinn des aufrechten Ganges mit seinem erweiterten Horizont zum Raumgewinn des Sternenhimmels über uns: den Ideen. Die Ideen wiederum erweitern unseren Denkraum über den begrifflichen Rahmen hinaus, indem sie uns den Raum der „Unbegrifflichkeit“ erschließen, über den wir uns mit Hilfe von Metaphern verständigen.

Zwischen Begriffen, Ideen und Metaphern zeichnet Blumenberg folgende Analogien und Unterschiede: Begriffe in ihrer Bestimmbarkeit und Metaphern in ihrer Unbestimmtheit haben eine gemeinsame Herkunft (vgl. Blumenberg 2007, S.28); die Begriffe werden dann aber mit zunehmender Bestimmtheit immer unsinnlicher und drohen schließlich, in eine Mystik umfassender Negationen umzukippen (vgl. Blumenberg 2007, S.75, 80). Metaphern eröffnen den negativen Begriffen deshalb immer wieder positive Sinn- und Anschauungsressourcen, so daß diese ihren lebensweltlichen Nutzen nicht verlieren.

Bei den prinzipiell nicht bestimmbaren Ideen verschaffen die Metaphern hingegen allererst so etwas wie einen Anschauungsersatz, der es uns einerseits erlaubt, uns über praktische Notwendigkeiten zu verständigen, und der uns andererseits für diese praktischen Notwendigkeiten überhaupt erst sensibilisiert, so daß wir sie dort in den Blick bekommen, wo wir bislang ‚blind‘ für sie gewesen sind. Haben Metaphern in bezug auf Verstandesbegriffe immer Teil an deren zunehmenden Bestimmbarkeit – werden sie sozusagen durch zunehmende Bestimmung selbst zu Begriffen –, so werden Metaphern in bezug auf Ideen zu „absoluten Metaphern“, die niemals in Bestimmbarkeiten irgendwelcher Art aufgehen. Mit Bezug auf Begriffe können Metaphern selbst zu Begriffen werden. Mit Bezug auf Ideen aber können Metaphern niemals zu Begriffen werden. (Vgl. Blumenberg 2007, S.107)

Hier kommen wir nun zu dem Punkt, an dem Blumenberg meiner Meinung nach Kants transzendentalen Idealismus in eine narrative Metaphorik überführt. Letztlich scheint Blumenberg die Ideen von ihrem philosophischen bzw. erkenntnistheoretischen Status her mit dem unbestimmten Personalpronomen der dritten Person Singular, dem ‚Es‘, gleichzusetzen. (Vgl. Blumenberg 2007, S.66f.) In der Redewendung „Es regnet“ kommt ein seltsames Subjekt zur Sprache: „Entscheidend ist vor allem, daß die Unbestimmtheit des Subjekts in jenem Es das Gefühl vermittelt, keinen Adressaten zu haben für eine Beeinflussung, eine Einwirkung. Bei diesem sprachlichen Phänomen glaubt man sich unmittelbar vor der Nötigung zu sehen, die zur mythischen Namengebung geführt hat; wenn der Regen eine lebensentscheidende Realität war, durfte man ihn nicht jenem kryptischen Es überlassen ... Die Unbestimmtheit führt also dort geradewegs in den Mythos, wo sie nicht hingenommen werden kann.“ (Blumenberg 2007, S.66f.)

Genauso wenig also, wie bei Kant ein unfreies, unverantwortliches Handlungssubjekt aus Gründen der sittlichen Notwendigkeit hingenommen werden kann und deshalb die Ideen der Freiheit und des Sittlichguten praktisch postuliert werden müssen, kann es der Mensch Blumenberg zufolge hinnehmen, die „lebensentscheidende Realität“ des Regens einem unbestimmten „kryptischen Es“ zu überlassen. Führt das eine in die Moral, so führt das andere in den Mythos!

Damit spricht Blumenberg eine Struktur des Sinnverstehens an, die ich mit Franz Fischer als „Sinn von Sinn“ bezeichnen möchte. Hier bewegen wir uns nicht mehr in einem Reich transzendentaler Denknotwendigkeiten, sondern in einer Lebenswelt. Dieser ‚Raum‘ der Lebenswelt erstreckt sich von Horizont zu Horizont, den wir im Ausschreiten unseres Gesichtskreises ständig verschieben. ‚Trans-zendental‘ meint hier lediglich ein Über-Schreiten bestehender Horizonte auf neue Horizonte hin, nicht ein Jenseits unseres Denkens bzw. eine schlechthinnige Grenze unseres Denkens, etwa im Sinne einer Begrenztheit unserer theoretischen Vernunft.

Im Sinne dieses Ausschreitens hin auf immer neue Horizonte spreche ich von Sinn von Sinn. Bei keinem Sinn als solchem lohnt es sich, stehenzubleiben, weil jeder Sinn für sich nichtig ist. Erst im unendlichen Verweis auf anderen Sinn erweist sich Sinn als sinnhaft. Und dieser Sinn ist diesseitig. Wir streben nicht auf ihn hin wie auf ein jenseitiges Reich, noch begleitet er uns untergründig wie das Sein. Er hebt lediglich mit einer Aufrichtung an, dem aufrechten Gang. Denn von diesem anthropologischen Datum an liegt uns nichts mehr unmittelbar auf der Haut.

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Jahrbuchartikel

Mittwoch, 7. September 2011

Hans Blumenberg, Theorie der Unbegrifflichkeit, Frankfurt a.M. 2007

1. Der aufrechte Gang: Horizont versus Reflexbogen
2. Bewußtsein als ‚langsame Kognition‘
3. Unbesetzte Subjektpositionen: Ideen als Metaphern
4. Verstehen als Kontextphänomen

Der Reflexbogen besteht in der kürzesten Verbindung zwischen Reiz und Reaktion. Allenfalls bei den konditionierten Reflexbögen haben wir es dabei noch mit jener „raschen Kognition“ zu tun, wie sie Damasio auf ehemals bewußte, ins Unbewußte abgesunkene Lernprozesse bezieht, deren ‚Programme‘ nun automatisch, unter Umgehung des Bewußtseins, ausgelöst werden können. (Vgl. Antonio R. Damasio, Descartes Irrtum (5/2007, S.V) Die kürzeste Verbindung zwischen Reiz und Reaktion, konditionierter oder auch nicht-konditionierter Art, führt also immer am Bewußtsein vorbei. Warum? Bewußtsein ist langsame Kognition!

Blumenberg zufolge ist sogar die Wahrnehmung selbst, also der die eintreffenden Reize registrierende und selektierende Mechanismus, schon jenseits des Reflexbogens: „Die Wahrnehmung ist gewissermaßen ein Auslöser, der nicht funktioniert, ohne daß zuvor gefragt worden wäre oder gefragt werden könnte, was er erfordert.“ (Blumenberg 2007, S.32) – Die Wahrnehmung selbst stellt also schon eine Verzögerung dar, eine Verlangsamung jenes Prozesses, in dem „die überwältigende Fülle aller Wahrnehmungen urteils- und begriffslos durch uns hindurchgeht, unverarbeitet, unbeachtet wie ein Geräusch, wie ein Hintergrund, wie eine diffuse Landschaft.“ (Blumenberg 2007, S.32)

Die Wahrnehmungsreize bilden demnach ein vom Reflexbogen getragenes Rauschen, aus dem das menschliche Bewußtsein mit Hilfe von Sprache und Haltung die relevanten Geräusche herausfiltert, was insgesamt einen recht umständlichen Mechanismus darstellt und eben vergleichweise viel Zeit erfordert. Erst der kulturelle Kontext, also Sprache, in Kombination mit der individuellen Haltung formt aus den Wahrnehmungsreizen jene Wahrnehmung, die nun keine einfachen Reflexe mehr ‚auslöst‘, sondern immer erst einen Bewußtseinsakt erfordert, eine Entscheidung, bevor wir handeln.

Das führt zu einer anthropologischen Neubewertung des Handelns selbst. Der Mensch galt im Unterschied zum Tier lange Zeit als das handelnde Wesen, während Tiere nur reagieren. Das führte zu einer Aufwertung des Handlungsmoments gegenüber primär geistigen Bewußtseinsphänomenen. Bewußtsein als Intentionalität erfüllte sich letztlich weniger in der expressiven, Inhalte zum Ausdruck bringenden Funktion von Sprache, sondern vielmehr in der performativen, Handlungen initiierenden Funktion von Sprache, die sogar selbst als Handlung, eben als Sprech-Handlung beschrieben wurde. für diese Sichtweise auf den Menschen und die Sprache steht insbesondere die Sprechakttheorie: „Was der Sprachhandlung wichtig ist, ist nicht das, was sie zu sagen hätte. Dieser Begriff der Sprachhandlung hat eine hochgradige Affinität zum sophistischen (oder besser: der Sophistik nachgesagten) Begriff der Rhetorik.“ (Blumenberg 2007, S.86)

Im Grunde kann man sagen, daß der Reflexbogen als kürzeste Verbindung zwischen Reiz und Reaktion nun durch eine andere kürzeste Verbindung ersetzt worden ist: durch die zwischen Sprechen und Handeln, weil jetzt nämlich das Sprechen selbst zum spezifisch menschlichen Handeln wird. In diesem Zusammenhang wird der Mensch Blumenberg zufolge wieder zu einem Wesen stilisiert, „das sich die Verweilstufen diesseits von Handlungen gar nicht leisten kann, ein bedrängtes und zur Aktion und Interaktion gedrängtes Wesen ...“ (Blumenberg 2007, S.86)

Unter dem Druck der „Unerläßlichkeit und Unaufschiebbarkeit des Handelns als konstitutiven Moments des menschlichen Daseins“ (Blumenberg 2007, S.87) verliert der Mensch genau jenen Spielraum, den das Bewußtsein braucht, um sich entfalten zu können. Damit verliert er zugleich, um mit Plessner zu sprechen, die ihn auszeichnende Doppelaspektivität von Innen und Außen, die die expressive Struktur aller seiner Lebensäußerungen – einschließlich des Handelns – bildet. (Vgl. meinen Post vom 29.10.2010) Der Kurzschluß zwischen Sprechen und Handeln nivelliert jenen Zwischenraum, den Spielraum des Bewußtseins, der auch nach Plessner das eigentliche Kriterium unserer Menschlichkeit bildet. ‚Handeln‘ meint eben weder einfach agieren und reagieren noch Sprechen als Handeln. Als spezifisch menschliches Handeln meint es vor allem: sich im Handeln ausdrücken, – also Expressivität. In dem damit angesprochenen Bruch (Hiatus) zwischen Innen und Außen entfaltet sich der Spielraum des Bewußtseins.

Kommt noch ein weiterer Aspekt zum Kurzschalten von Sprechen und Handeln hinzu, nämlich daß alles, was des Sagens wert ist, auch sagbar sein muß (vgl. Blumenberg 2007, S.104), so steuern Grammatik, Syntax und Lexikon nicht nur unser Verhalten, sondern auch unser Denken. Denn wo es weder zwischen Sprechen und Handeln ein Verweilen noch eine Differenz zwischen Gesagtem und Gemeintem gibt, „kommt es zu einem Absolutismus vom Rücken her.“ (Blumenberg 2007, S.103f.) – Und: „Nichts ist uns gegeben, was uns nicht durch Sprache vorgegeben wäre. Ist das befriedigend?“ (Blumenberg 2007, S.104)

Indem Blumenberg mit seiner Anthropologie des aufrechten Ganges den Finger auf eben diesen Punkt, auf die Gefährdung von Spielräumen durch konstitutiven „Zeitmangel“ (Blumenberg 2007, S.91) legt – denn immer schon haben wir zu wenig Zeit, sei es, um unsere Ziele zu erreichen, sei es, um Bedrohungen rechtzeitig auszuweichen –, befindet er sich im Einklang mit Plessner. Ähnlich wie Plessner verweist Blumenberg nämlich auf die Notwendigkeit, dem Bewußtsein Raum zu schaffen, Freiräume, die wir besetzen können, so wie es mit der Selbstaufrichtung begonnen hatte, mit der wir unseren Horizont erweiterten und uns Zeit verschafften, das, was uns bevorstand, vorwegzunehmen und zu bewältigen, bevor es uns erfaßte und überwältigte.

Zu diesem Zweck bedurfte und bedarf es nach wie vor durchaus „Abkürzungen“, wie Blumenberg feststellt. So eine Abkürzung stellt z.B. die Wissenschaft dar, die es uns ermöglicht, von den Erfahrungen und vom Wissen anderer zu profitieren, ohne daß wir diese Erfahrungen selber noch einmal durchleben müssen. (Vgl. Blumenberg 2007, S.21) Als eine andere Abkürzung bezeichnet Blumenberg die „Rhetorik“, die es uns ermöglicht, durch Überredung, also unter Umgehung mühsamen, zeitaufwendigen Diskutierens und Argumentierens zu Entscheidungen zu gelangen. (Blumenberg 2007, S.91)

Dieser Hinweis auf die Abkürzungsfunktion von Rhetorik wirft ein überraschend positives Licht auf die mit ihr verbundenen Manipulationstechniken, wird aber vielleicht dadurch etwas relativiert, daß Blumenberg der Rhetorik die Metapher zuordnet. Und auf die „Kühnheit“ der Metapher, die „extrem auseinanderliegende Bereiche miteinander“ zu verbinden vermag (vgl. Blumenberg 2007, S.28), werde ich im nächsten Post noch zu sprechen kommen. Hier soll vorerst der Hinweis genügen, daß diese Fähigkeit, „extrem auseinanderliegende Bereiche“ miteinander zu verbinden, einem Tigersprung gleich Gräben überbrückt, die uns ihr mühsames Schaufel für Schaufel Zuschütten mittels ausführlicher Argumentation erspart. Zumindestens für den Anfang. Damit überhaupt etwas getan werden kann. Die argumentative Schaufelarbeit kann dann hinterher nachgeholt werden.

Derartige Abkürzungen sind sozusagen ein Erfordernis der „praktischen Vernunft“, die dort ihr Werk verrichtet, wo die theoretische Vernunft unweigerlich an ihre Grenzen kommt, wie Blumenberg mit Bezug auf Kant konstatiert. (Vgl. Blumenberg 2007, S.44, 59, 92) Denn die praktische Vernunft kann – anders als die theoretische Vernunft – auf vollständige Argumentationszusammenhänge verzichten, und  sie hat, so Blumenberg, gegenüber der Rhetorik den Vorteil der Autonomie (vgl. Blumenberg 2007, S.92), was ich so verstehe, daß die praktische Vernunft nicht manipulativ ist, sondern dem subjektiven Willen des Handelnden entspringt. Ich möchte an diese Stelle anknüpfen und die praktische Vernunft nicht nur auf den subjektiven Willen, sondern auch auf die individuelle, durch einen lebenslangen Bildungsprozeß geprägte Haltung zurückführen. Die Haltung ist nicht mehr und nicht weniger als verkörperte praktische Vernunft.

Damit hat sie zwar keinen Anteil an dem transzendentalen Anspruch der praktischen Vernunft. Aber hier macht sich vielleicht auch der Umstand bemerkbar, daß Kant seine Vernunftbegriffe als „Ideen“ konzipiert. Ich hingegen ziehe es vor, vom „Sinn von Sinn“ zu sprechen. Ich glaube, daß beides auf dasselbe hinausläuft, nämlich auf die Notwendigkeit eines autonomen Gewissens bzw. eines autonomen Verstandesgebrauchs. Dennoch gibt es Unterschiede im Begründungszusammenhang, auf die ich – zumindestens zum Teil – im nächsten Post noch eingehen werde.

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Dienstag, 6. September 2011

Hans Blumenberg, Theorie der Unbegrifflichkeit, Frankfurt a.M. 2007

1. Der aufrechte Gang: Horizont versus Reflexbogen
2. Bewußtsein als ‚langsame Kognition‘
3. Unbesetzte Subjektpositionen: Ideen als Metaphern
4. Verstehen als Kontextphänomen

Hans Blumenbergs Anthropologie besteht in einer Theorie des aufrechten Gangs. Ich hatte schon in meinem Post vom 08.08.2010 dazu angemerkt, daß ihn diese Anthropologie nicht zu einer Berücksichtigung der Physiologie der menschlichen Sinnesorgane führt, so daß der Körperleib bei Blumenberg, anders als bei Plessner, letztlich keine Rolle spielt. In seinem Buch „Theorie der Unbegrifflichkeit“ wird nun auch deutlich warum. Mit der Aufrichtung des Menschen um 90̊ in die Vertikale werden Blumenberg zufolge, zumindestens tendenziell, sämtliche Sinnesorgane mit Ausnahme des Gesichtssinns ihres Gegenstandes beraubt: „Der Mensch, das Wesen, das sich aufrichtet und den Nahbereich der Wahrnehmung verläßt, den Horizont seiner Sinne überschreitet, ist das Wesen der actio per distans. Er handelt an Gegenständen, die er nicht wahrnimmt.“ (Blumenberg 2007, S.10)

„Gegenstände(), die er nicht wahrnimmt“, heißt zunächst nichts anders als Gegenstände, die er nicht mit den Händen berühren oder mit der Zunge schmecken kann, und die er auch nicht mehr riechen oder hören können muß, weil es von nun an reicht, daß er sie von weitem herannahen sieht, um ihnen frühzeitig auszuweichen. (Vgl. Blumenberg 2007,  S.10f., 26) Und in der Linie dieser Entsinnlichung der Wahrnehmung liegt dann eben auch die Ausrichtung des Blicks auf nicht-sinnliche Gegenstände, die prinzipiell nicht wahrgenommen werden können; man braucht nur die 90̊-Aufrichtung durch Zurücklehnen des Kopfes um weitere 90̊ aufzustocken, so daß mit dem Anblick des Sternenhimmels zum erstenmal Ideen Einzug in den Denk-‚Horizont‘ des Menschen halten können. (Vgl. Blumenberg 2007, S.15)

Der aufrechte Gang brachte Blumenberg zufolge also vieles mit sich: die Fähigkeit zur Negation und zur Abstraktion, die letztlich nur ein anderes Wort für Negation ist (vgl. Blumenberg 2007, S.75-79), die Fähigkeit, in die Zukunft zu blicken und dabei die Fülle der Möglichkeiten mit der „Armut des Wirklichkeitsbezuges“ (vgl. Blumenberg 2007, S.88) zu konfrontieren und nicht zuletzt die Wirklichkeit selbst wiederum in eine „ästhetische Fiktion“ zu verwandeln (vgl. Blumenberg 2007, S.29), die wir jetzt nicht mehr zu fürchten brauchen, sondern genießen können, gewissermaßen eine Rückkehr aus der Entfremdung in eine neue, nicht mehr durch Angst und Furcht bestimmte Sinnlichkeit (vgl. Blumenberg 2007, S.27). Alle diese Fähigkeiten, die Blumenberg aus der „Selbstaufrichtung“ des Menschen (vgl. Blumenberg 2007, S.19) ableitet, faßt Blumenberg unter der Sammelbezeichnung der „Prävention“ zusammen, die er als anthropologisches Prinzip für weit aussagekräftiger hält als Arnold Gehlens Begriff der „Entlastung“. (Vgl. Blumenberg 2007, S.26-31)

Der aufrechte Gang bedeutet im Prozeß der Menschwerdung also vor allem einen Raumgewinn, eine Distanzierung der auf der Haut liegenden, unter die Haut kriechenden, lebensbedrohenden und angsteinflößenden Wirklichkeit in Richtung auf einen Horizont, vor dem sich von nun an tödliche Bedrohungen von ferne her ankündigen, bevor sie einen erfassen und vernichten können. Dieser Raumgewinn wird bei Blumenberg nun immer wieder an den verschiedensten Stellen des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses aufgegriffen. Im wesentlichen geht es darum, daß dieser ‚Raum‘ einen Spielraum des Bewußtseins dort eröffnet, wo es bis dahin nur den Reflexbogen der Nahbereichssinnesorgane gab. Der Gesichtssinn erspart es uns, zu „riechen“ und zu „schmecken“, als „Begleitsinne des Fressens“. (Vgl. Blumenberg 2007, S.26) Er erspart es uns also, unter der ständigen Drohung, selber gefressen zu werden, nichts anderes tun zu können als immer nur zu fressen oder zu flüchten.

Auf die kürzeste Form des Reflexbogens gebracht, brauchen wir nur an den Pawlowschen Hund zu denken, der in einer behavioristischen Versuchsanordnung der ganzen Spielweite seines hundegemäßen Verhaltensrepertoires beraubt nur noch dazu in der Lage war, beim Anblick des Fressens und beim Hören eines Glockentons Speichel abzusondern. Aber auch bezogen auf die ganze Spannbreite seines artgemäßen Verhaltens wäre seine Welt ihm nur ein Aktionsfeld voller Signale gewesen; denn Plessner zufolge ist dem Bewußtsein der Tiere noch nicht die Negationsleistung zuzusprechen, die individuelle Gegenstände aus diesem Aktionsfeld herauszulösen und zu isolieren vermag. Tiere haben es Plessner zufolge deshalb nur mit Feldverhalten zu tun, die noch nicht zu Sachverhalten werden können. (Vgl. meinen Post vom 24.10.2010)

Ganz ähnlich argumentiert hier Blumenberg. Der aufrechte Gang führt über den Gesichtssinn zu einer Unterbrechung des Reflexbogens, für den die Welt nur aus Reaktionen auf Signalen besteht; und in diesen Zwischenraum, in diese Verzögerung rascher Reaktionsleistungen nistet sich nun das Bewußtsein ein. Es besetzt den leeren Raum und füllt ihn mit neuen Gegenständen, die Möglichkeiten beinhalten, weil sie noch keine unmittelbare Antwort des Handelns erfordern. Sie stellen mögliche Wirklichkeiten dar, die noch nicht da sind, eine Zukunft, die erst noch auf uns zukommt. Der Mensch wird so, Blumenberg zufolge, zu einem „Wesen“, das „nicht so sehr ... der Erinnerung fähig()“ als vielmehr „auf Prävention eingestellt()“ ist: „... es sucht zu bewältigen, was noch gar nicht unmittelbar ansteht.“ (Blumenberg 2007, S.12)

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