„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 5. August 2011

Len Fisher, Schwarmintelligenz. Wie einfache Regeln Großes möglich machen, Frankfurt a.M. 2010 (2009)

1. Schwarmintelligenz als universales und skalenfreies Phänomen
2. Mustererkennung und Gestaltwahrnehmung
3. Mehrheitsentscheidungen und individuelles Urteil
4. Gesellschaftsfähigkeit
5. Bildung und Netzwerk

Ich habe den Eindruck, daß der Begriff der Schwarmintelligenz und der Begriff des Netzwerks oft synonym benutzt werden: Netzwerk = Schwarmintelligenz, Schwarmintelligenz = Netzwerk. Aber es gibt doch bezeichnende Unterschiede zwischen beidem. Bei der Schwarmintelligenz haben wir eine unmittelbare Präsenz aller Mitglieder des Schwarms, während Netzwerke global unterschiedlichste Orte verbinden, so daß die Mitglieder eines Netzwerks sich nicht am selben Ort aufhalten müssen. Die Mitglieder eines Schwarms interagieren jederzeit ohne Verzögerung, während Netzwerke ein Minimum an Beziehungsarbeit erfordern. Und zuguterletzt: Nichtmenschliche Lebensformen nutzen die Schwarmintelligenz viel effektiver als Menschen ihre Netzwerke.

Diese Unterschiede werden immer wieder durch unreflektierte Vergleiche und Gleichsetzungen zwischen im engeren Sinne biologischen Prozessen und wiederum im engeren Sinne sozialen Prozessen verwischt. So wird z.B. gern der Prozeß der Informationsverbreitung mit einer Virusepidemie verglichen. (Vgl. meinen Post vom 04.03.2011) Auch Fisher zieht diesen Vergleich: „Krankheiten und Informationen unterscheiden sich gar nicht so sehr voneinander, wenn wir uns vorstellen, dass wir uns mit einer Information infizieren und unsererseits andere anstecken, wenn wir sie weitergeben.“ (Fisher 2010, S.137)

Dieser Vergleich ist in gewisser Weise naheliegend, und er zeigt auch die Universalität des Phänomens der Schwarmintelligenz. Aber dennoch funktionieren menschliche Netzwerke bei der Verbreitung von Informationen in einem entscheidenden Sinne anders als Virusepidemien, wie an folgendem Zitat deutlich wird: „‚Um eine Geschlechtskrankheit über ein Netzwerk sexueller Beziehungen weiterzugeben, müssen die Betroffenen weder wissen, dass sie krank sind, noch die Absicht haben, andere anzustecken; es reicht schon, wenn sie miteinander vernetzt sind ... Wer jedoch versucht, sein Netzwerk zu nutzen, muss aktiv Beziehungsketten ausfindig machen‘ ... .“ (Fisher 2011, S.126 (Zitat im Zitat: Fisher zitiert Duncan Watts))

Verwenden wir z.B. Ameisenalgorithmen, so finden die Teilchen in einer Computersimulation im Handumdrehen die richtige Lösung für jede Frage, auf die es eine eindeutige Lösung gibt. Der kürzeste Weg zur Lösung führt anscheinend immer um höchstens sechs ‚Ecken‘ herum, wie in einem menschlichen Beziehungsnetzwerk, wenn wir einen Brief an eine uns unbekannte Adresse schicken wollen und uns dabei auf die Hilfe unserer Freunde und Verwandten verlassen.

Warum fällt es uns in menschlichen Netzwerken so viel schwerer, diese sechs Ecken ausfindig zu machen? Aus dem einfachen Grund, „weil wir immer wieder in Sackgassen landen und neue Wege ausprobieren müssen.“ (Fisher 2010, S.127) – Anders als die Schweinegrippe, die diese sechs Ecken problemlos ausfindig macht und alle möglichen Adressen in unübertreffbarer Effizienz erreicht, finden wir uns durch dieses Labyrinth nur mühsam hindurch, – wenn überhaupt.

Ein weiterer nicht zu unterschätzender Unterschied zwischen Schwarmintelligenz und Netzwerken besteht in der Motivation der sozialen ‚Viren‘. In einem Experiment von Milgram, in dem Briefe über Netzwerke an unbekannte Adressen verschickt wurden, „kamen die meisten Briefe nie beim Empfänger an, weil irgendjemand unterwegs keine Lust mehr hatte, ihn weiterzuschicken.“ (Fisher 2010, S.127) – Das heißt nicht mehr und nicht weniger, als daß die Mitglieder eines menschlichen Netzwerkes im Unterschied zu Viren motiviert werden müssen, um sich an der Verschickung der Briefe zu beteiligen. Das ist ein prinzipieller Unterschied zwischen Schwarmintelligenz und menschlichen Netzwerken, der eben die Beziehungsarbeit für menschliche Netzwerke so wichtig macht. Das macht eigentlich jede weitergehende Gleichsetzung zwischen Schwarmintelligenz und Netzwerken von vornherein problematisch.

Es gibt aber nicht nur einen Unterschied zwischen Schwarmintelligenz und Netzwerken, sondern auch zwischen ‚Netzwerken‘ und ‚Netzwerken‘. Denn hier wiederholt sich nochmal der Unterschied zwischen unmittelbarer Präsenz und globaler Verteilung. So haben wir auf der einen Seite die Netzwerke der Verwandten und persönlichen Freunde und auf der anderen Seite, global verteilt, beispielsweise Facebook. Und auch hier wird gern über diesen entscheidenden Unterschied hinweggesehen und Netzwerk mit Netzwerk gleichgesetzt.

Wenn ich z.B. sehe, wie über Netzwerke geredet wird, habe ich sogar den Eindruck, daß tatsächlich Networking an die Stelle des altehrwürdigen Humboldtschen Bildungsbegriffs getreten ist. Humboldt bringt in seiner Ideenschrift über die Grenzen der Wirksamkeit des Staates (1792) die Notwendigkeit von Bildung in Verbindung mit dem Phänomen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung: weder für die leiblichen Bedürfnisse noch für die moralischen Bedürfnisse ist der einzelne Mensch noch allein zuständig. Er muß sich in allen Bereichen der Selbsterhaltung auf die Dienstleistungen anderer verlassen, wie z.B. Bauern, Handwerker, Zwischenhändler, – und nicht zuletzt die Kirchen und der Staat, die ihm sagen, was richtig und falsch ist und ihn so des Rechts berauben, seinen eigenen Verstand zu gebrauchen. Das Ergebnis dieser allgegenwärtigen Fremdbestimmung, das Humboldt vor Augen hat, ist ein Mensch, der nicht nur nicht fähig, sondern auch nicht mehr willens ist, die Verantwortung für sein eigenes Leben zu übernehmen.

Humboldt sah nun voraus, daß sich dieser Zustand mit dem weiteren Fortschritt von Technologie und Infrastruktur immer weiter verschärfen würde und eine totale Entmündigung des einzelnen Menschen drohte. Bildung sollte dem entgegenwirken. Mit ‚Bildung‘ beschrieb Humboldt ein Konzept ästhetischer Sensibilisierung, die es dem Menschen ermöglicht, trotz der zunehmenden Einschränkung individueller Handlungsfreiheit Freiheitsräume zu finden und sie sich auch zu schaffen, die es ihm erlauben, sich als Individuum zu verwirklichen. Der äußeren Verarmung der Welt (das Verschwinden von Naturräumen und ihr gleichzeitiges Ersetzen durch menschliche Infrastruktur) sollte so die innere Bereicherung des Menschen, der äußeren Welt der gesellschaftlichen Arbeitsteilung eine innere Welt der ganzheitlichen (proportionierlichen) Selbstverwirklichung entgegengesetzt werden.

Ganz ähnliche Funktionen schreibt nun Fisher dem Netzwerk zu, wenn er die gesellschaftliche Arbeitsteilung beschreibt: „Man kann sich zum Beispiel eine Stadt als ein extrem komplexes Netzwerk aus den lokalen Interaktionen ihrer Bürger vorstellen. Einige sind beispielsweise Ladenbesitzer, andere reinigen die Straßen oder arbeiten in Büros und essen in einer Imbissbude um die Ecke zu Mittag. Wieder andere beliefern die Imbissbude, transportieren die Büroangestellten, organisieren die Bereitstellung von Wasser, Strom und Kanalisation, nähen Kleider oder erziehen Kinder. Niemand steuert diese Aktivitäten.“ (Fisher 2010, S.121)

Fisher beschreibt die Arbeitsteilung als Netzwerk und dieses wiederum in einer Weise, daß man sich – von der Futterbeschaffung über den Nestbau bis zur Kindererziehung – an die Schwarmintelligenz eines Ameisenstaates erinnert fühlt. Damit wird das Entfremdungsphänomen ‚Arbeitsteilung‘ umgedeutet zu einer effizienten Netzwerkstruktur, die uns nicht etwa von dem, was die anderen tun, ausschließt, weil wir es nicht mehr selbst tun können (Humboldt), sondern die uns daran beteiligt, weil wir ja dazugehören. Und der neue Bildungsauftrag besteht nun nicht mehr darin, an sich selbst und seiner individuellen Selbstverwirklichung, sondern am Ausbau und Erhalt seines Netzwerks zu arbeiten. Robinson Crusoe hätte heutzutage auf seiner Insel vor allem das Problem, wie er sich in das nächstgelegene Netzwerk einlinken kann. Denn von dem untergangenen Schiff, von dem sich dieser moderne Robinson gerettet hat, spült ihm das Meer nicht etwa Kisten mit Werkzeugen und Saatgut an Land, sondern in Plastikfolien eingeschweißte Laptops und iPads.

‚Netzwerke‘ nannte man früher ‚Seilschaften‘, was noch immer einen negativen Beigeschmack hat. Netzwerke und Networking haben aber ganz und gar keinen negativen Beigeschmack mehr. An den Universitäten hat man das Humboldtsche Bildungskonzept längst abgeschafft. Bei den Schulen hält es sich überraschenderweise noch hartnäckig. Wenn sich die Schüler stattdessen lieber im Facebook bewegen, zeigen sie aber, daß sie längst verstanden haben, daß es auf persönliches Wissen und persönliche Kompetenzen gar nicht mehr ankommt. Es reicht, jemanden zu kennen, der jemanden kennt; es reicht, an seinem persönlichen Netzwerk zu arbeiten.

Dabei verschwindet aber der angesprochene Unterschied zwischen Netzwerken, wie sie etwa eine Familie bildet (unmittelbare Präsenz), und eben Facebook (unpersönliche, global Präsenz), was sich besonders drastisch daran zeigt, daß Jugendliche schon Selbstmord begingen, weil sie in Facebook gemobbt worden waren. Humboldts Antwort darauf bleibt also aktuell: umso notwendiger ist Bildung.

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1 Kommentar:

  1. In diesem Post geht es, was Viren und Informationen betrifft, bunt durcheinander. Viren sind keine Briefe. Zum kategorialen Unterschied siehe meinen Post vom 18. August 2011.

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