„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 27. August 2011

Eva Horn/Lucas Marco Gisi (Hg), Schwärme – Kollektive ohne Zentrum. Eine Wissensgeschichte zwischen Leben und Information, Bielefeld 2009

(Eva Horn, Schwärme – Kollektive ohne Zentrum. Einleitung, S.7-26 / Eugene Thacker, Netzwerke – Schwärme – Multitudes, S.27-68 / Michael Gamper, Massen als Schwärme. Zum Vergleich von Tier und Menschenmenge, S.69-84 / Urs Stäheli, Emergenz und Kontrolle in der Massenpsychologie, S.85-99 / Eva Horn, Das Leben ein Schwarm. Emergenz und Evolution in moderner Science Fiction, S.101-124 / Sebastian Vehlken, Fish & Chips. Schwärme – Simulation – Selbstoptimierung, S.125-162 / Sebastian Giessmann, Netzwerkprotokolle und Schwarm-Intelligenz. Zur Konstruktion von Komplexität und Selbstorganisation, S.163-182 / Niels Werber, Schwärme, soziale Insekten, Selbstbeschreibungen der Gesellschaft. Eine Ameisenfabel, S.183-202 / Eva Johach, Schwarm-Logiken. Genealogien sozialer Organisation in Industriegesellschaften, S.203-224 / Lucas Marco Gisi, Von der Selbsterhaltung zur Selbstorganisation. Der Biber als politisches Tier des 18. Jahrhunderts, S.225-251 / Benjamin Bühler, Tierische Kollektive und menschliche Organisationsformen: Kropotkin, Canetti, Frisch und Lem, S.253-272)
  1. Methode 
  2. Emergenz und Evolution: Rückblick auf begriffliche Widersprüche und Unstimmigkeiten in der Komplexitätsforschung 
  3. Eigenschaften im Wartezustand: Woher kommt die neue Gestalt?
  4. Zur Intentionalität: jagen Schwärme?
    Bis zum Aufsatz von Eva Horn habe ich nun schon einige Aufsätze aus dem Herausgeberbuch gelesen. Dabei sind mir immer wieder bei den verschiedenen Autoren in der Begrifflichkeit – trotz gleichlautender Begriffe – kleinere und größere Unterschiede aufgefallen, die ich aber im jeweiligen Zusammenhang nicht als besonders schwerwiegend empfand. Sobald wir nachzudenken beginnen, verändern wir auch die Inhalte der Wörter, die wir verwenden. Das Nachdenken endet immer genau dort, wo wir zu exakt definierten Begriffen gelangen. Sobald aber ein anderer daran anknüpft und weiterdenkt, verändert er diese Begriffe notwendigerweise wieder, – sei es, indem er neue Aspekte hinzufügt oder indem er die begrifflich bereits festgelegten Aspekte neu ordnet.

    Bei einem Thema wie dem von Eva Horn machen sich aber diese kleineren Unstimmigkeiten störend bemerkbar. Diese Unstimmigkeiten erschweren eine gründliche Verhältnisbestimmung von Evolution und Emergenz. Schon in den vorangegangenen Aufsätzen hatte es Definitionen von Schwärmen, Schwarmintelligenz, Massen und emergenten Phänomenen gegeben. Dabei wurde im Einzelnen nicht genau geklärt, wo der Unterschied zwischen diesen verschiedenen Begriffen liegt. ‚Schwarm‘ ist nicht gleich ‚Schwarmintelligenz‘ und der Begriff des emergenten Phänomens umfaßt mehr als Schwärme, Schwarmintelligenz oder Massen.

    Um den Begriff des emergenten Phänomens zu klären, verweist Horn nun auf fünf Kriterien von Jeffrey Goldstein: „(1) „Sie (die emergenten Phänomene – DZ) sind radikal neu, d.h. die Eigenschaften und Fähigkeiten des Ganzen sind nicht zurückzuführen auf die der Einzelindividuen oder -faktoren. Sie sind damit auch nicht vorauszusehen, bevor sie sich tatsächlich zeigen. (2) Sie sind kohärent, d.h. sie erscheinen als integriertes Ganzes. (3) Ihre Kohärenz erscheint auf einer Makro-Ebene des Gesamtverhaltens. (4) Sie sind dynamisch und evolvieren in der Zeit. (5) Emergente Phänomene sind ‚anschaulich‘, sie zeigen sich deutlich als neuer und anderer Zustand des Systems.()“ (Horn 2009, S.105)

    In zwei Punkten unterscheiden sich diese Kriterien von früheren Beschreibungen von Schwärmen. Unter (2) werden emergente Phänomene als ein „integriertes Ganzes“ beschrieben. Bei Thacker hingegen bilden Schwärme ein „heterogenes Ganzes“. (Vgl. Thacker 2009, S.53 und 55) Nun sind Schwärme wie schon gesagt nicht die einzigen emergenten Phänomene. Aber sie sind eben auch emergent. Wenn Schwärme also heterogen sind, wie können dann emergente Phänomene integriert sein? Zur ‚Integration‘ gehört, daß die Teile des Ganzen nicht jederzeit wieder aus dem Ganzen ausscheiden können, wenn sich der Schwarm auflöst. Vögel und Fische oder Menschen können sich aber problemlos aus ihrem Schwarm bzw. einer Menschenmasse entfernen, ohne Schaden zu nehmen. Gemeint ist also möglicherweise nicht ‚integriert‘, sondern ‚inklusiv‘, denn Schwärme  dehnen sich tendenziell durch Einschluß neuer Elemente ins Unendliche aus. Aber ‚inklusiv‘ ist etwas anderes als ‚integriert‘.

    Unter (4) heißt es, daß emergente Phänomene in der Zeit evolvieren. Das widerspricht aber der Sprunghaftigkeit der Existenz und Nicht-Existenz von Schwärmen und Massen. Stäheli beschreibt die Masse, eben weil sie nicht evolviert, als ein „geschichtsloses Phänomen“. (Vgl. Stäheli 2009, S.88) Auch im Folgenden nimmt Horn auf diese Sprunghaftigkeit Bezug. (Vgl.S.105f.) Als eine von drei Konsequenzen aus diesen Kriterien spricht Horn von einem „Umschlagspunkt“, der hier aber nicht als Problem, sondern als Begründung für Evolution thematisiert wird: „Exakt dieser Umschlagspunkt und die Frage nach einem Ergebnis, das sich selbst bei genauer Kenntnis des Objekts nicht antizipieren lässt, scheint aber die Crux von Emergenz, eine Crux, die sich in lebenden Systemen radikalisiert – und zwar als Evolution. Selbstverständlich ist Emergenz nicht an Leben geknüpft (auch Wirbelstürme oder die Instabilität von Maschinen sind Phänomene von Emergenz) – aber das Lebendige ist irreduzibel emergent.“ (S.106)

    Anstatt also Emergenz und Evolution einander gegenüberzustellen, als konkurrierende Erklärungsmodelle, wird die Emergenz zum eigentlichen Prinzip von Evolution stilisiert. Der Umschlagspunkt wird zur „Crux“ einer emergierenden Evolution. Damit wird verdeckt, daß wir es hier zunächstmal mit einem Oxymoron zu tun haben. Evolution emergiert nicht, eben weil sie – wie es in Goldsteins viertem Kriterien heißt – ein Geschehen in der Zeit ist. Es sei denn, wir hätten uns allererst über einen alternativen Zeitbegriff verständigt, in dem die Zeit nicht kontinuierlich fließt, sondern stattdessen Sprünge macht. Nun beschreibt Horn aber an anderer Stelle die Evolution als einen „Prozess des langsamen und kontinuierlichen Verschwindens gewisser Formen beim Vormarsch anderer“. (Vgl. Horn 2009, S.114) Das entspricht tatsächlich Darwins Vorstellung vom Entstehen und Vergehen der Arten, wobei die Lücken (Sprünge) zwischen den Arten nur aufgrund des Aussterbens der sogenannten missing links zustandekommen. Diese Lücken verweisen also ebenfalls auf eine frühere, jetzt nicht mehr sichtbare Kontinuität.

    Das Grundprinzip der Evolution ist also nicht die Emergenz, sondern der kontinuierliche Gestaltenwandel. Mit dem Begriff der Gestalt stehen wir aber gleich vor dem nächsten Problem. Das Fünfte von Goldsteins Kriterien beinhaltet die ‚Anschaulichkeit‘ emergenter Phänomene: „... sie zeigen sich deutlich als neuer und anderer Zustand des Systems.()“ (Horn 2009, S.105) – Wo sonst immer von der „Ungestalt“ von Schwärmen die Rede ist (vgl. Horn 2009, S.103), von ihrer Nicht-Darstellbarkeit (vgl. Horn 2009, S.14f.), ist nun von emergenten Phänomenen in ihrer Anschaulichkeit die Rede, – echte Phänomene also, die Husserls Grundkriterium für Phänomenalität erfüllen, nämlich sich selbst zu zeigen. Solche Phänomene müssen nicht erst mit statistischen Mitteln oder experimentellen Tricks sichtbar gemacht werden. Sie liegen offen vor unseren Augen.

    Wie also kann eine Ungestalt, etwas, das sich den Mechanismen unserer normal-menschlichen Wahrnehmung entzieht, ein anschauliches Phänomen sein? Ist nicht auch der Begriff des emergenten ‚Phänomens‘ wiederum ein Oxymoron?

    Auch hier fehlt eine genauere Differenzierung zwischen Gestalt und Gestalt, also zwischen Schwarm-Gestalt und Ding-Gestalt. Das wiederum hängt eng mit dem Begriff der Darwinschen Konzeption der Entstehung der Arten zusammen, – nicht der „Evolution“, ein Begriff den Darwin selbst nicht verwendet. Der Gestaltenwandel kann nur ohne Sprünge gedacht werden, weil Gestalten nicht emergieren, sondern transgredieren, d.h. sie haben einen ‚Kern‘ und eine Rückseite. (Vgl. meinen Post vom 16.08.2011) Plessner zufolge beinhaltet dieser ‚Kern‘ bei lebendigen Phänomenen einen über die individuelle Gestalt hinausgehenden Gestalttypus, der nicht nur ein Überdauern in der Zeit, sondern auch einen kontinuierlichen, individuellen Gestaltwandel, d.h. Wachstum und Altern ermöglicht. (Vgl. meinen Post vom 29.10.2010) Auf der Grundlage dieses Gestaltprinzips gibt es Evolution. Ansonsten müssen wir eben von Emergenz sprechen. Und genau deshalb entstehen neue Arten auch nur durch das Aussterben der missing links.

    Evolution soll jetzt aber nicht mehr als kontinuierlicher, sondern als diskontinuierlicher Prozeß verstanden werden: „Gould schlug vor, Evolution nicht als graduellen Prozess, sondern die Ausdifferenzierung von Arten als ‚unterbrochenes Gleichgewicht‘ (punctuated equilibrium) zu beschreiben ...“ (Horn 2009, S.114) – Evolution selbst emergiert nun aus einem „plötzliche(n) Ineinandergreifen“ bislang funktionsloser „Eigenschaften mit Umweltbedingungen oder mit den Eigenschaften anderer Organismen (etwa in Symbiosen oder im Schwarm-Verhalten)“. (Horn 2009, S.115) – Mit anderen Worten: Evolution selbst ist ein emergentes Phänomen.

    Die ‚Geschichte‘, die hier erzählt wird, ist nun also nicht mehr die Geschichte einer Evolution, also eines kontinuierlichen Geschehens, das sich als eines Geschehens in der Zeit mit der Struktur der Erzählung deckt, sondern die Geschichte von Sprüngen, die keinerlei aufweisbare kausale Verflechtung mit vorangegangenen  Sprüngen aufweisen. Wir haben es nun mit einem ständigen, von Ungleichgewichten ausgelösten Heraus-Springen neuer Gestalten aus einem chaotisch-dynamischen Kontext zu tun, und mit einem ebenso beständigen, weiteren Ungleichgewichten geschuldeten Verschwinden vorhandener Gestalten wohin auch immer.

    Diese Gestalten, die Schwarm-Gestalten, sind auch nicht länger komplex. Zwar heißt es bei Horn: „Der Schwarm figuriert ... etwas, das als solches gar nicht figurierbar ist: das ‚Leben selbst‘, und zwar als ein Prozess, der nicht auf eine anthropomorph gedachte Form von Komplexität zuläuft ... Komplexität als Ergebnis evolutionärer Dynamik ist, so die Lehre Lems, nicht notwendig anthropomorph.()“ (Horn 2009, S.113)

    Diese Neubestimmuung von Komplexität ist hochinteressant. Nach der alten Evolutionstheorie verlief die Evolutionsrichtung in Richtung auf immer größere Komplexität. Aber ‚Komplexität‘ hieß ‚komplexe Organismen‘! Wenn Plessner seine Stufen des Organischen herausarbeit, so beinhalten diese Stufen eine immer komplexere Arbeitsteilung der körperlichen und zentralnervösen Organe, die nach Plessner in der exzentrischen Positionalität des Menschen mündet. Jetzt aber wird Komplexität nicht mehr am Begriff des Organischen festgemacht, sondern am Kontext. Denn auf den Schwarm selbst läßt sie sich nicht beziehen.

    Der Begriff eines komplexen Schwarms wäre nur ein weiteres Oxymoron. Schwärme entspringen aus den lokalen Interaktionen einzelner Individuen nach drei bis vier einfachen Regeln. Was ist daran komplex? Komplexität gibt es also nur im Bezug auf die Entstehungsbedingungen des Schwarms, so daß seine Emergenz unvorhersehbar ist. In diesem Zusammenhang wäre Plessners Begriff der Komplexqualität anwendbar. Komplexqualitative Wahrnehmung isoliert nicht einzelne individuelle Gestalten vor einem Hintergrund, sondern sie ist auf Ereignisse im Kontext der Umwelt gerichtet. Plessner hat diese Wahrnehmungsform, die er den Tieren zuschrieb, gegen die menschliche Wahrnehmung gestellt, die auf individuelle Gestalten gerichtet ist.

    Schwärme sind also nicht komplex in bezug auf sich selbst, auf ihre Gestalt, sondern sie sind ‚Ausdruck‘ der Komplexität von Umweltbedingungen. Auch daß sich Schwärme am Rand zum Chaos organisieren, ist ein Hinweis auf die Komplexität der Umweltbedingungen.

    Wie also muß nun eine Geschichte erzählt werden, die sich außerhalb der Zeit ereignet, – zumindestens außerhalb einer Zeit, in deren Wandlungsprozeß die Gestalten bei aller Veränderlichkeit und Kontextabhängigkeit noch wiedererkennbar bleiben? Diese Geschichte muß die emergenten Phänomene wiedereinbetten, z.B. in einen Handlungszusammenhang oder in einen Kontrollzusammenhang, in dem wir nach einem Gleichgewicht suchen, in dem wir als Menschen überdauern können. Hier haben wir es mit einem völlig neuen Narrativ zu tun.

    Ich frage mich aber, wie sinnvoll es ist, den Evolutionsbegriff so umzudeuten, daß er einen völlig neuen Inhalt bekommt. Der bisherige Evolutionsbegriff hat seinen narrativen Sinn: er erzählt die Geschichte einer Veränderung, verbunden mit der Frage, was aus dem Menschen noch alles werden kann. Das ist durchaus ambivalent und beinhaltet gleichermaßen Gutes wie Schlimmes. Der neue Evolutionsbegriff erzählt eigentlich gar keine Geschichte mehr, es sei denn eine Geschichte der bemühten, letztlich aber erfolglosen Bewahrung und Erhaltung. Auch das ist ambivalent. Denn ob das, was wir erhalten wollen, die Menschheit in ihrem gegenwärtigen Zustand, wirklich erhaltenswert ist, ist doch sehr die Frage.

    Jedenfalls beinhaltet die Suche nach einem neuen Gleichgewicht durchaus Unterwerfungsphantasien, wie sie Horn am Beispiel von Frank Schätzings „Der Schwarm“ beschreibt: „Für Schätzing ist die akkumulative, globale und vergessenslose Schwarm-Intelligenz der Yrr ein Anderes des Menschen, das diesen zugleich umfasst und übersteigt: eine Meta-Intelligenz. In diesem Schwarm-Spiritualismus ist der Schwarm am Ende ein romantisches Modell der intelligenten Natur, der sich der Mensch nur ehrfürchtig unterwerfen kann, indem er sich als ein kleiner Teil des Systems denkt – und damit anfinge, selbst Schwarm zu werden.“ (Horn 2009, S.123)

    Ich würde den bisherigen Evolutionsbegriff deshalb nicht einfach durch einen neuen ersetzen wollen. Ich halte vielmehr beide Ansätze für berechtigt, die vielleicht wechselseitig Licht auf die Schattenseiten des jeweiligen Ansatzes werfen können. Für den Menschen kommt jedenfalls eine Schwarmintelligenz nicht in Frage, – schon gar nicht als Utopie.

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