„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 29. August 2011

Eva Horn/Lucas Marco Gisi (Hg), Schwärme – Kollektive ohne Zentrum. Eine Wissensgeschichte zwischen Leben und Information, Bielefeld 2009

(Eva Horn, Schwärme – Kollektive ohne Zentrum. Einleitung, S.7-26 / Eugene Thacker, Netzwerke – Schwärme – Multitudes, S.27-68 / Michael Gamper, Massen als Schwärme. Zum Vergleich von Tier und Menschenmenge, S.69-84 / Urs Stäheli, Emergenz und Kontrolle in der Massenpsychologie, S.85-99 / Eva Horn, Das Leben ein Schwarm. Emergenz und Evolution in moderner Science Fiction, S.101-124 / Sebastian Vehlken, Fish & Chips. Schwärme – Simulation – Selbstoptimierung, S.125-162 / Sebastian Giessmann, Netzwerkprotokolle und Schwarm-Intelligenz. Zur Konstruktion von Komplexität und Selbstorganisation, S.163-182 / Niels Werber, Schwärme, soziale Insekten, Selbstbeschreibungen der Gesellschaft. Eine Ameisenfabel, S.183-202 / Eva Johach, Schwarm-Logiken. Genealogien sozialer Organisation in Industriegesellschaften, S.203-224 / Lucas Marco Gisi, Von der Selbsterhaltung zur Selbstorganisation. Der Biber als politisches Tier des 18. Jahrhunderts, S.225-251 / Benjamin Bühler, Tierische Kollektive und menschliche Organisationsformen: Kropotkin, Canetti, Frisch und Lem, S.253-272)
  1. Methode
  2. Emergenz und Evolution: Rückblick auf begriffliche Widersprüche und Unstimmigkeiten in der Komplexitätsforschung
  3. Eigenschaften im Wartezustand: Woher kommt die neue Gestalt?
  4. Zur Intentionalität: jagen Schwärme?
Bei der Besprechung von Michael Crichtons Roman „Prey“, in dem ein Schwarm von Nano-Apparaturen außer Kontrolle gerät (vgl. Horn 2009, S.116ff.), verwendet Eva Horn den Begriff des „Jagd-Verhaltens“ von Schwärmen (vgl. Horn 2009, S.119). Abgesehen von bestimmten Verhaltensweisen von Insekten, etwa Ameisen, die sogar regelrechte Kriege führen, habe ich aber bislang eher den Eindruck, daß Jagd-Verhalten eher untypisch für Schwärme ist. Weder Fische, noch Vögel, noch Säugetriere sammeln sich in Schwärmen oder Herden, um zu jagen, sondern um Schutz vor Feinden zu suchen oder um zu fliehen. (Vgl. Stäheli 2009, S.90f.) Gejagt wird in diesen Tierarten eher in individualisierter Form (Raubvögel oder die meisten Raubkatzenarten) oder in zentralisierter, geordneter Form wie z.B. bei Wolfsrudeln. Selbst Fledermäuse, die in Schwärmen zur Jagd aufbrechen, jagen letztlich nicht in Formation, sondern individuell. Selbst bei den meisten Insektenarten wird aggressives Schwarmverhalten vor allem aus Gründen des Nestschutzes an den Tag gelegt, etwa wenn Bienen oder Wespen ihr Nest verteidigen.

Deshalb ist es aber gerade interessant, sich zu fragen, wann die von Eva Horn beschriebenen ‚Schwärme‘ Jagdverhalten an den Tag legen. Die Antwort ist schnell gefunden, weil sie eigentlich recht naheliegend, fast schon offensichtlich ist: Jagdverhalten ist ein Indiz dafür, daß der Schwarm nicht mehr aus den lokalen Interaktionen einer Vielzahl von Individuen mehr oder weniger zufällig emergiert, sondern sich aufgrund einer wie auch immer zentral organisierten Intentionalität versammelt. Kurz: Jagdverhalten ist ein Indiz für Intentionalität. Da stellt sich dann aber auch gleich die Frage, inwiefern hier noch von Schwarmverhalten gesprochen werden kann.

Bei den Beispielen, die Eva Horn in diesem Zusammenhang bringt, handelt es sich jedenfalls weder um richtige Schwärme noch um richtige Individuen: wir haben es mit Hybriden zu tun. (Vgl. Horn 2009, S.117) Horn bezieht diesen Begriff zwar nicht auf die Mischform Schwarm-Individuum, sondern auf individuelle Mischformen aus Nanotechnologie, Gentechnik und Informatik, – also auf Cyborgs. Aber gerade solche hybriden Cyborgs sind die geeigneten Kandidaten, um aus ihnen wiederum hybride Schwarm-Individuen zu bilden.

In dem Roman von Michael Crichton geht es um winzige Aufklärungskameras, eben jenen Cyborgs, die als Nanokomponenten zu einer großen Kamera zusammenströmen, sich auf ein Ziel fokussieren und dieses „jagen“. (Vgl. Horn 2009, S.116) Die einzelnen Nanokomponenten bestehen aus einem biologischen Assambler (einer Darmbakterie), Nanotechnik und aus einem „Computerprogramm, das es ihnen ermöglicht, zusammenzuströmen“ (vgl. Horn 2009, S.116). Die einzelnen Komponenten interagieren also nicht selbständig untereinander, so daß der Schwarm erst aus der großen Zahl dieser Interaktionen emergiert, sondern sie strömen zusammen, weil ein zentrales Computerprogramm dafür sorgt. Das Programm übernimmt hier die Rolle des Bewußtseins: es zentralisiert den Schwarm!

Wir haben es hier also mit einer Analogie zur arbeitsteiligen Organisation eines individuellen organischen Körpers zu tun, wie sie Plessner beschreibt. Hier deutet sich eine Gegenüberstellung von zentralem Nervensystem und Körper an, so daß man sogar sagen kann, daß der Schwarm zum Körper wird, nämlich zum ausführenden Organ der Intentionen eines zentralen Programms.

Selbstverständlich handelt es sich nur um eine Analogie. Zum Körperleib fehlt hier noch einiges. So ist der Schwarm nicht noch einmal in sich arbeitsteilig. Er ist und bleibt ein simples System aus in sich völlig gleichartigen, existentiell voneinander unabhängigen Individuen, die auch außerhalb des Schwarms lebensfähig sind. Dennoch ist dieser ‚Schwarm‘ nicht mehr dezentralisiert. Er ist ein Hybrid: weder Schwarm noch Individuum, sondern eben beides zugleich. Und erst als solcher kann er jagen. Inwiefern man hier schon von der „Emergenz von Intelligenz“ sprechen kann (vgl. Horn 2009, S.119), will ich dahingestellt sein lassen. Dennoch können wir hier von einer neuen Lebensform sprechen, die sich so in der Natur nicht findet: von jagenden Schwärmen.

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