„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 18. August 2011

Eva Horn/Lucas Marco Gisi (Hg), Schwärme – Kollektive ohne Zentrum. Eine Wissensgeschichte zwischen Leben und Information, Bielefeld 2009

(Eva Horn, Schwärme – Kollektive ohne Zentrum. Einleitung, S.7-26 / Eugene Thacker, Netzwerke – Schwärme – Multitudes, S.27-68 / Michael Gamper, Massen als Schwärme. Zum Vergleich von Tier und Menschenmenge, S.69-84 / Urs Stäheli, Emergenz und Kontrolle in der Massenpsychologie, S.85-99 / Eva Horn, Das Leben ein Schwarm. Emergenz und Evolution in moderner Science Fiction, S.101-124 / Sebastian Vehlken, Fish & Chips. Schwärme – Simulation – Selbstoptimierung, S.125-162 / Sebastian Giessmann, Netzwerkprotokolle und Schwarm-Intelligenz. Zur Konstruktion von Komplexität und Selbstorganisation, S.163-182 / Niels Werber, Schwärme, soziale Insekten, Selbstbeschreibungen der Gesellschaft. Eine Ameisenfabel, S.183-202 / Eva Johach, Schwarm-Logiken. Genealogien sozialer Organisation in Industriegesellschaften, S.203-224 / Lucas Marco Gisi, Von der Selbsterhaltung zur Selbstorganisation. Der Biber als politisches Tier des 18. Jahrhunderts, S.225-251 / Benjamin Bühler, Tierische Kollektive und menschliche Organisationsformen: Kropotkin, Canetti, Frisch und Lem, S.253-272)

1. Statische Muster und lebendige Netzwerke
2. Politik als Kybernetik
3. Der Körperleib und die Zeit an sich
4. Zurück zu einer Metaphysik der zwei Welten?
5. Transgredienz und Emergenz: Konzepte vom Ganzen und seinen Teilen
6. Multitudes und Öffentlichkeit
7. Biologie und Information

Thacker unterscheidet zwischen Netzwerken als „Modus technologischer Gruppenbildung“, Schwärmen als „Modus biologischer Gruppenbildung“ und Multitudes als „Modus politischer Gruppenbildung“. (Vgl. Thacker 2009, S.57) Der Begriff der Multitude erscheint mir in dieser Zusammenstellung als problematisch. Zwar erkenne ich an, daß zwischen den Phänomenbereichen unterschieden werden muß und daß es deshalb auch Sinn macht, für die verschiedenen Phänomene unterschiedliche Begriffe zu verwenden. Aber schon in der Einleitung von Eva Horn wird ja nicht von verschiedenen Phänomenbereichen gesprochen, sondern von „Medien“ (Horn 2009, S.13f.), in denen sich die ‚Schwärme‘ – die ich an dieser Stelle mal als Sammelbezeichnung verwenden möchte – bewegen.

Der Begriff des Mediums paßt an dieser Stelle auch gut zum Begriff der Emergenz. Schwärme emergieren aus dem jeweiligen Medium, zu dem sie kategorial gehören, heraus und lösen sich auch wieder in diesem Medium auf. Sprechen wir also in bezug auf ‚Schwärme‘ statt von Phänomenbereichen besser von Medien, so macht es keinen Sinn, den menschlichen Bereich des Schwarmverhaltens vom biologischen Medium zu separieren. In Situationen des Schwarmverhaltens – etwa bei einer Massenpanik – verhält sich der Mensch nicht anders als Fisch- oder Vogelschwärme. Dafür braucht man keinen eigenen Begriff wie den der Multitude.

Etwas anderes ist es aber, wenn man diesem Begriff einen spezifisch politischen Sinn gibt. Spezifisch ‚politisch‘ soll heißen: eben nicht im Sinne einer demagogischen Manipulation von Massen, sondern im Sinne einer genuinen politischen Praxis, die den Gebrauch des individuellen menschlichen Verstandes mit einbezieht. In mancher Hinsicht habe ich den Eindruck, daß Thacker auf so eine politische Praxis hinzielt, „denn sie (die Multitude – DZ) konstituiert eine soziale und politische Ordnung und widersteht dieser gleichzeitig.“ (Thacker 2009, S.58) – Ein Schwarmverhalten, das nicht einfach nur einem Mehrheitsstrom (mainstream) folgt, sondern ihm widersteht, kann nur eine Praxis im ursprünglichen humanen Sinn sein und ist damit mehr als nur ein biologisches Medium. Wir haben es hier mit einem eigenständigen Phänomenbereich zu tun.

Damit verlassen wir also den Bereich der biologischen Kybernetik, und wir bewegen uns nun im Bereich der Soziologie, Politologie und der Pädagogik. Der Bereich, von dem ich hier spreche, läßt sich am besten mit dem Habermasschen Begriff der Öffentlichkeit beschreiben. Folgende Anklänge an den Begriff der Öffentlichkeit finde ich bei Thacker: So faßt Thacker z.B. die mit der Multitude verbundene Schlüsselfrage als Frage danach, wie sich die Multitude selbst regieren kann. (Vgl. Thacker, S.58f.) Bei Habermas wird diese Frage mit der unabschließbaren Offenheit der Öffentlichkeit beantwortet, also mit dem uneingeschränkten Zugang jedermanns, und mit dem kommunikativen Apriori des gewaltlosen Zwangs des Arguments. Dies beinhaltet, daß es keine andere Autorität gibt als den eigenen individuellen Verstand.

Thacker definiert die Funktionsweise der Multitude ganz ähnlich, – so ähnlich, daß die Begriffe der Multitude und der Öffentlichkeit praktisch zur Deckung kommen: „Grundsätzlich ist die Multitude also vor allem mit ihrer eigenen Konstitution beschäftigt, und damit mit ihrer Fähigkeit, sowohl dem Konsens als auch dem Dissens einen Raum zu geben. Ontologisch gesehen, ist die Multitude also weder das Individuum noch die Gruppe. Sie ist irgendwo dazwischen – oder ganz woanders.() Die Multitude ist mit dem Konzept der Mannigfaltigkeit (multiplicity) verwandt, das von Bergson und – daran anschließend – von Deleuze entwickelt wurde.“ (Thacker 2009, S.59)

Eine „Fähigkeit“, die darin besteht, „sowohl dem Konsens als auch dem Dissens einen Raum“ zu geben, etwas, das sich „irgendwo“ zwischen dem Individuum und der Gruppe befindet, schafft allererst ein Medium oder ist tatsächlich selbst ein Medium und nicht etwas, das sich wie ein Schwarm in einem Medium bewegt. Und ein Medium (ein Raum), das sowohl den Konsens wie den Dissens zu umfassen vermag, ein Medium, in dem sich sowohl das Individuum und die Gruppe bewegen, ist die Öffentlichkeit. Dafür brauchen wir eigentlich kein neues Wort mehr, um es zu bezeichnen und es auf diese Weise zu verrätseln und zu mystifizieren.

Die Parallelen zwischen Multitude und Öffentlichkeit gehen noch weiter. So heißt es, daß sich der Raum, in dem sich Konsens und Dissens entfalten können, durch die „Vielfalt von Interessen, Affekten und Relationen bestimmt“. (Thacker 2009, S.60) Auch dies erinnert wieder an Habermasens Diskursregeln, insbesondere wenn Thacker noch einmal an anderer Stelle nachfragt, „wie das Gemeinsame (the common)“ – also Habermasens Konsens – „unter Wahrung der Differenz hergestellt werden kann.“ (Vgl. Thacker 2009, S.63) – Ein ums andere Mal wird also von Thacker die Multitude in einem Zusammenhang des politischen Diskurses und der politischen Praxis gestellt, in dem es primär um den Erhalt des individuellen Verstandesgebrauchs geht, also um eine individuelle Denkpraxis, die so ziemlich das krasseste Gegenprinzip zu jedem Schwarmverhalten bildet, das man überhaupt ausformulieren könnte.

Wie ich schon eingangs anmerkte, macht es wenig Sinn, das Massenverhalten von Menschen medial vom Schwarmverhalten von Fischen und Vögeln zu unterscheiden. Das Massenverhalten von Menschen und Fischen mag zwar verschiedenen Phänomenbereichen angehören, aber medial handelt es sich um gleichermaßen biologische Prozesse. Dennoch gibt es so etwas wie einen Übergangsbereich zwischen menschlichem Schwarmverhalten und politischer Öffentlichkeit, ähnlich wie Thacker zufolge lebendige Netzwerke einen Übergangsbereich zwischen statischen Netzwerken und biologischen Schwärmen bilden. (Vgl. Thacker 2009, S.53) Bei diesem Übergangsbereich denke ich an das, was John Locke den „guten Ruf“ nennt und von dem er sagt, daß er dem, was Tugend ist, am nächsten kommt. (Vgl. John Locke, Gedanken über die Erziehung (1684/1693), §§36, 61))

Mit dem guten Ruf verweist Locke auf eine Form der Öffentlichkeit, die das Gemeinsame, den common sense, nicht auf den individuellen, autonomen Verstandesgebrauch zurückführt, sondern auf eine „Gruppendenke“, die den individuellen Verstand so lange unterdrückt, bis man nicht mehr in der Lage ist, selbst zu denken. Und erst von diesem Zeitpunkt an werden wir in die bedingungslose, uneingeschränkte ‚Freiheit‘ des Denkens entlassen. Bevor der menschliche Verstand Locke zufolge in Aktion treten kann, muß also durch Erziehung erst einmal so etwas wie Schwarmintelligenz hergestellt werden, damit er sich dann in dessem Mehrheitsstrom wie ein Fisch im Wasser bewegen kann.

John Locke ging schlicht und einfach davon aus, daß sich die Mehrheit nicht irren kann. Wo einzelne kluge Menschen sich irren können, so werden sich viele kluge Menschen gewiß nicht irren. Deshalb sollte die Vernunft nie eine individuelle, sondern immer eine gemeinsame sein. Wir haben schon bei Fisher gesehen, daß das Gegenteil der Fall ist. (Vgl. meinen Post vom 04.08.2011)

Bei dieser von John Locke beschriebenen Sitte, der Mehrheitsmeinung, können wir eigentlich noch von einer Multitude sprechen, also von einem Übergangsbereich zwischen Schwarmverhalten und Öffentlichkeit im Habermasschen Sinne. Ansonsten führt der Begriff der Multitude doch eher in die Irre, – jedenfalls dann, wenn er den Begriff der Öffentlichkeit verdrängt. Auf den Begriff der Öffentlichkeit können wir aber nicht verzichten, weil wir ganz einfach nicht auf die Autonomie des individuellen Verstandesgebrauchs verzichten können, schon um der Differenz zwischen Gruppendenke und Gruppenintelligenz willen.

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