„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 18. Juli 2011

Raoul Schrott/Arthur Jacobs, Gehirn und Gedicht. Wie wir unsere Wirklichkeit konstruieren, München 2011

2. Methode
    – Interdisziplinarität

    – Korrelation
    – Statistik
3. Zum Projekt einer Ästhesiologie des Geistes (Plessner)
4. Metaphern, Analogien und exzentrische Positionalität
5. Bewußtsein: Schaltkreise, Regelkreise und Netzwerke
6. Zum Konzept eines Kernselbsts (Damasio)
7. Haltungen
8. Gestaltwahrnehmung und Kategorien
9. Naivität und Reflexion
10. Statistisches Verstehen von Sätzen und unmittelbares Verstehen von Metaphern
11. Reine Stimuli: die Sichtbarmachung von nur ungenau Geschautem
12. Regel und Regelbruch: Differenz von Sagen und Meinen
13. Poesie versus Narrativität
14. Genetisch vorprogrammiert? – Denkfiguren als Operationsmodi des Gehirns

Raoul Schrott und Arthur Jacobs sind die gemeinsamen Autoren von „Gehirn und Gedicht“. Dennoch läßt sich innerhalb des Textes deutlich erkennen, welche Teile von Schrott stammen und welche von Jacobs. Die Textbeiträge von Jacobs sind in Form von 37 Boxen von dem übrigen Text abgeteilt, und sie beinhalten psychologische, neurophysiologische und linguistische Ergänzungen und Details zu Schrotts Ausführungen. Schon Jacobs Beiträge sind im hohen Maße interdisziplinär, da sie Verweise und Exkurse zu den verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen beinhalten.

Schrotts Ausführungen, die seitenmäßig den wesentlich größeren Anteil am Gesamttext ausmachen, gehen über diese Interdisziplinarität noch hinaus, weil sie sich hauptsächlich an der Nahtstelle zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften entlang bewegen. Was den naturwissenschaftlichen Anteil in seinen Textbeiträgen betrifft, bedient sich Schrott wiederum überwiegend aus der Neurophysiologie und der Psychologie. Der geisteswissenschaftliche Anteil besteht wiederum zum überwiegenden Teil aus literaturwissenschaftlichen (poetologischen) und zu einem geringeren Teil aus kulturwissenschaftlichen Erörterungen.

Aufgrund dieser für den Leser sichtbaren Arbeitsteilung zwischen Schrott und Jacobs ist es mir möglich, die Zitate jeweils dem einen (Schrott 2011) oder dem anderen Autor (Jacobs 2011) zuzuordnen. Obwohl das Vorwort hinsichtlich der Autorenschaft nicht eigens gekennzeichnet ist, gehe ich davon aus, daß es von beiden Autoren gemeinsam geschrieben wurde. Die dortigen Hinweise zur Methode werde ich deshalb beiden Autoren (Schrott/Jacobs 2011) zuordnen.

Die Interdisziplinarität wird von beiden Autoren hoch angesiedelt. Sie wenden sich explizit gegen eine „allzu modische Form der Neuro-Romantik“ (Schrott/Jacobs 2011, S.7) mit ihren Neologismen aus Neuro-Linguistik, Neuro-Didaktik, Neuro-Theologie, Neuro-Ethnologie etc., die mit ihren überflüssigen, weil bloß additiven neurowissenschaftlichen Einsichten glaubt, althergebrachte Disziplingrenzen überflüssig machen zu können: „Denn mit der Aussage, dass die Sehrinde das Lesezentrum berührt und das Hörareal an die Leitstellen für Motorik und Rhythmik grenzt, weshalb sich die Dichtung hin und wieder mit großem Tierblick präsentiere, kommt man nicht weit. Im schlimmsten Fall spricht sich die Poesie selbst jede Aussagekraft ab, indem sie ihr Denken nunmehr als Folge physiologischer Kurzschlüsse darstellt.“ (S.7)

Schrott und Jacobs wenden sich kritisch gegen die Pseudo-Interdisziplinarität vieler Naturwissenschaftler, die dazu neigen, den Modellcharakter ihrer eigenen Begriffe zu vergessen, diese Begriffe mit der Wirklichkeit gleichsetzen und so „das Metaphorische ihrer Wahrheiten aus dem Blick ... verlieren.“ (Vgl. Schrott/Jacobs 2011, S.12) Umgekehrt neigt die Poesie dazu, ihr eigenes stilistisches Verfahren mit Metaphern, Analogien und rhetorischen Strukturen als „unverbindliches Spiel“ zu verstehen, dessen Erkenntnischarakter sie „nicht ernst genug nimmt“. (Vgl. Schrott/Jacobs 2011, S.12)

Das interdisziplinäre Verhältnis zwischen Literaturwissenschaft bzw. Poesie und der Naturwissenschaft wird von den Autoren als ein Verhältnis zwischen „zwei Kulturen“ beschrieben, zwischen denen ein Gleichgewicht herrschen muß.  (Vgl. Schrott/Jacobs 2011, S.13f.) Das erinnert mich sehr an meine eigenen Darstellungen zum eigenen Verstandesgebrauch, dessen innere Struktur ich immer als ein ausgewogenes Verhältnis von Naivität und Reflexion beschrieben habe, – also auch als eine Verhältnisbestimmung zwischen zwei ‚Kulturen‘. Die auf die unbewußten ‚Denkprozesse‘ und Emotionen abgestimmten Erkenntnismethoden der Poesie sollen also den auf einer expliziten Logik und experimentellen Empirie beruhenden Erkenntnismethoden der Naturwissenschaften gleichgestellt werden.

Dabei beschränkt sich diese Verhältnisbestimmung aber nicht nur auf jenes zwischen Poesie und Naturwissenschaft, sondern sie ist auch auf das Selbstverhältnis der Poesie zu beziehen: „Poetische Praxis und kognitive Erkenntnis einander gegenüberzustellen, befördert eine Dialektik, die der Literatur neue Spannung verleiht – indem sich darin Extreme berühren können. Und im selben Maß, wie damit Begrenzungen des Dichtens wie des Denkens demonstriert werden, ohne dass je ein linearer Fortschritt auszumachen ist, umkreisen sie einander nun, um an Drehimpuls zu gewinnen.“ (Schrott/Jacobs 2011, S.12) – Auch die poetische Praxis hat also ihre Poetologie und somit ein eigenes, inneres Verhältnis von Naivität und Reflexion, dessen Ausgewogenheit sicherzustellen ist.

Daß damit nicht einfach nur irgendein sekundäres Methodenproblem gemeint ist, das man zur Diskussion stellen könnte, um möglicherweise noch andere und bessere Methoden zu finden, machen die beiden Autoren deutlich genug, wenn sie von einem „relativ autonomen Prozess intuitiver Erkenntnis auf Grundlage subjektiver Empirie“ sprechen, der durch die „bestimmte() Form“ des Gedichts „reflektiert“ wird. (Vgl. Schrott/Jacobs 2011, S.13) Naivität wird hier sehr treffend als „relativ autonomer Prozess intuitiver Erkenntnis auf Grundlage subjektiver Empirie“ beschrieben, und die strukturellen Formen des Gedichts, seine metaphorischen und analogischen Denkfiguren, stellen gleichermaßen Manipulationen wie Reflexionen dieser intuitiven Erkenntnisprozesse dar, mit deren Hilfe Selbstverständliches (Altes) fraglich gemacht und Neues aufgespürt werden kann (vgl. Schrott 2011, S.127).

So bildet also der eigene, autonome Verstandesgebrauch die Grundlage jeder echten Interdisziplinarität. Wenn die verschiedenen Wissenschaftler sich dessen bewußt sind, daß die Disziplinen, die sie vertreten, sich gleichermaßen naiv wie kritisch zueinander verhalten und daß Fragen, die sie selbst nicht beantworten können – zu denen sie sich also naiv verhalten müssen –, von anderen Disziplinen kritisch aufgegriffen werden, so wie es auch umgekehrt der Fall ist, dann kann es zu echter Interdisziplinarität kommen. Und dann können die verschiedenen Disziplinen – nicht nur die naturwissenschaftlichen unter sich, sondern eben auch zwischen Natur- und Geisteswissenschaften – ein System des Fragens und Antwortens bilden, so wie es dem Universitätsgedanken entspricht.

Die Mitte dieser Systematik bildet aber der Mensch. Denn das Wissen, das er sucht, muß ihm selbst nützen. Eine Objektivität, die das Humane abstrahiert, um zu ‚wahrer‘ Objektivität zu gelangen, kann sich der Mensch um seines Überlebens willen nicht leisten. Eine solche Interdisziplinarität nicht nur zu fordern, sondern sie auch in die Praxis umgesetzt zu haben, ist das gemeinsame Verdienst der Autoren von „Gehirn und Gedicht“.

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