„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 26. Juli 2011

Raoul Schrott/Arthur Jacobs, Gehirn und Gedicht. Wie wir unsere Wirklichkeit konstruieren, München 2011

2. Methode
    – Interdisziplinarität
    – Korrelation
    – Statistik
3. Zum Projekt einer Ästhesiologie des Geistes (Plessner)
4. Metaphern, Analogien und exzentrische Positionalität
5. Bewußtsein: Schaltkreise, Regelkreise und Netzwerke
6. Zum Konzept eines Kernselbsts (Damasio)
7. Haltungen
8. Gestaltwahrnehmung und Kategorien
9. Naivität und Kritik/Reflexion
10. Statistisches Verstehen von Sätzen und unmittelbares Verstehen von Metaphern
11. Reine Stimuli: die Sichtbarmachung von nur ungenau Geschautem
12. Regel und Regelbruch: Differenz von Sagen und Meinen
13. Poesie versus Narrativität
14. Genetisch vorprogrammiert? – Denkfiguren als Operationsmodi des Gehirns

Das letzte Kapitel von „Gehirn und Gedicht“ handelt von „Denkfiguren“ (Schrott 2011, S.423-492), die analog zu den schon erwähnten „figurativen Täuschungen“ unser Denken bestimmen. Dabei handelt es sich nicht um ein logisches System von Kategorien, sondern um ein ana-logisches System von „Stilfiguren“, von denen es, so Schrott, „im Wesentlichen“ „nicht mehr als ein Dutzend“ gibt. (Vgl. Schrott 2011, S.428) Zu diesen Stilfiguren bzw. Tropen gehören die Negation (einfache wie doppelte Verneinung in Form der Litotes, der Antithesis, des Oxymorons und des Chiasmus (vgl. Schrott 2011, S.429-434)), Adynaton und Aposiopesis (vgl. Schrott 2011, S.442-448), Metalepse (S.449-455), Synekdoche und Metonymie (vgl. Schrott 2011, S.456-466), Ironie, Meiosis und Hyperbel (Schrott 2011, S.467-481) sowie Bildlogik und Katachrese (Schrott 2011, S.482-488). Als letzte Stilfigur zählt Schrott das Gedicht auf. (Vgl. Schrott 2011, S.489f.)

Die Negation wird von Schrott, einleitend zu den Stilfiguren insgesamt, als eine spezifisch menschliche Kulturleistung beschrieben, die in der Natur nicht vorkommt: „Es gibt, wie uns die Philosophen lehren, keine Negativa in der Natur, wo jede Situation nur positiv sein kann: das, was sie ist. Uns etwas vorzustellen, was nicht ist, dieses Paradoxon ermöglicht uns das Virtuelle der Imagination. Es aber zur Basis eines Diskurses zu machen, das wird in diesem Umfang erst durch die Schrift möglich.“ (Schrott 2011, S.429) – Schrott parallelisiert die Stilfiguren der Negation mit der Einführung von Geldwirtschaft und Schrift, also als eine spezifische Leistung literaler Kulturen: „Im Hinblick auf das bereits Gesagte ist es sicher nicht zu weit gegriffen, darin auch eine Reaktion auf jenen Wirklichkeitsverlust zu sehen, den Geldwirtschaft wie Schriftwesen mit sich bringen, indem sie nur mehr die symbolische Präsenz von real Abwesendem darstellen.“ (Ebd.)

Die Fähigkeit, durch Negation Anwesendes mit Abwesendem zu überblenden und z.B. eine intakte, unversehrte Stadt vor dem farbig ausgemalten Hintergrund ihrer vermiedenen Zerstörung intensiver hervortreten zu lassen, als es mit dem bloßen Verweis auf ihre Unversehrtheit möglich gewesen wäre (vgl. Schrott 2011, S.429f.), beruht darauf, daß die Schrift erst jene „denaturierende Distanz“ (Schrott 2011, S.380) zwischen dem Autor, dem Leser und der Lebenswelt schafft, die Assmann als „zerdehnte Situation“ beschreibt (vgl. meinen Post vom 29.01.2011). Erst wenn Ort und Zeit des Schreibens, Lesens und des im Schreiben und Lesen aktualisierten Geschehens nicht mehr, wie man es in oralen Kulturen gewöhnt ist, zusammenfallen, werden negative Denkfiguren möglich: „In einer oralen Kultur zeichnet sich Wissen durch empathische Nähe und gemeinschaftliche Identifikation aus. Die Bedingungen für ‚Objektivität‘ schafft erst das Schreiben, das den Wissenden vom Wissen trennt. Die mündliche Tradition hingegen kennt dafür nur die Idee präsentischer Auktorialität: Wissen erhält seine Autorität durch die Person, die es verkörpert ... Wo die Poesie der oralen Kultur stets durch ihre unmittelbare Relevanz für ein Publikum auf Gegenwart ausgerichtet ist – selbst die ältesten Stoffe werden ja immer wieder neu erzählt –, lassen Texte auch die Vergangenheit einer Geschichte zu. Der Blick auf alte Manuskripte ermöglicht Historizität.“ (Schrott 2011, S.381) – Und weiter: „In einer oralen Kultur ist das Denken situativ und konkret statt konzeptionell und abstrakt. Die Konzepte der mündlichen Überlieferung bestehen aus operationellen Referenzrahmen, deren Abstraktionsgehalt minimal ist, weil sie sich beständig auf die menschliche Lebenswelt zurückbeziehen.“ (Ebd.)

Es ist deshalb nicht weiter verwunderlich, daß Schrott alle weiteren Denk- bzw. Stilfiguren bis hin zur Ironie, die er im Folgenden vorstellt, mit der zeitgleichen Einführung der Geldwirtschaft und der Schrift einhergehen läßt, und daß er sie auf die Epoche der „griechischen ‚Aufklärung‘“ zurückführt, in der der Mensch zum ersten Mal das „Maß aller Dinge“ wurde, „‚sowohl der Dinge, die da sind und dass sie sind, als auch der Dinge, die nicht sind und dass sie nicht sind‘.“ (Schrott 2011, S.430)

Aber gerade weil Schrott diese Zusammenhänge so plausibel darstellt und herleitet, begreife ich nicht, wie er analog zu den Denk- und Stilfiguren von den „Operationsmodi des Gehirns“ auf eine Weise sprechen kann, die das alles wieder entwertet. Unter Umgehung der historischen Dimension schließt Schrott hier drei Ebenen kurz: die kulturelle, die neurophysiologische und die genetische: „Sie (die Operationsmodi – DZ) lassen sich auch nicht mehr vom kulturellen Kontext, für den sie geschaffen wurden, trennen. Was genetisch in uns vorprogrammiert ist, benötigt einen soziokulturellen Rahmen, um sich entfalten zu können. Die Erfindung der Schrift mit ihrer Kombinatorik von Buchstaben ist ein gutes Beispiel, in welchem Ausmaß neue Mechanismen inkorporiert werden können: das Lesen ist inzwischen fast schon zu einem Instinkt geworden; es hat seine artifiziellen Inputs zum Programm gemacht und es zu einer neuronalen Hardware umgeformt – sodass ein Buch letztlich eine Art CD-ROM ist, die wir in unserem Kopf abzuspielen gelernt haben.“ (Schrott 2011, S.370)

Der ganze Zusammenhang, den Schrott hier beschreibt, beinhaltet letztlich nichts anderes als drei verschiedene Evolutions- und Entwicklungsprozesse, in dem genetische (biologische Evolution), kulturelle (kulturelle Evolution) und neurophysiologische wie psychosomatische (individuelle Entwicklung) Prozesse sich wechselseitig tragen und ermöglichen. So weit kann ich Schrott zustimmen.

Nicht mehr zustimmen kann ich ihm allerdings, wo er von genetischer Vorprogrammierung spricht. Welche genetischen Anlagen könnten denn genau gemeint sein, wenn von der „Erfindung der Schrift mit ihrer Kombinatorik von Buchstaben“ die Rede ist? Welche Gene kämen dafür in Frage, die nur darauf ‚warten‘, daß die passenden kulturellen Umstände eintreten, damit sie ihre Potentiale endlich entfalten können? Ähneln diese Gene vielleicht jenen, die die ‚Intelligenz‘ oder die ‚Begabung‘ bestimmen, deren Ausprägung ja ebenfalls von Milieu und Kultur abhängt? – Was aber haben diese Gene in den langen dunklen Zeiten der Oralität gemacht, in denen sie überhaupt keine Gelegenheit hatten, sich zu Schriften und Buchstaben auszuwirken?

Schon an dem Zitat selbst, in das Schrott diese ominöse genetische Vorprogrammierung einfließen läßt, wird eigentlich deutlich, daß die Schriftlichkeit ausschließlich kulturell bedingt ist und daß erst dieser kulturelle Kontext – z.B. in Form von Schulunterricht – zu einer ‚Umformung‘ der „neuronalen Hardware“ auf individueller Ebene führt. Wir bewegen uns hier in historischen und in individuell-biographischen Zeiträumen und nicht in biologisch-evolutionären. Wie könnte es auch anders sein? Denn „es gibt“ wie Schrott selbst schreibt, „keine Negativa in der Natur“. (Vgl. Schrott 2011, S.429) – Die Schrift ist aber – das ist ja Schrotts wichtige These – in erster Linie das Ergebnis einer Negationsleistung.

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Montag, 25. Juli 2011

Raoul Schrott/Arthur Jacobs, Gehirn und Gedicht. Wie wir unsere Wirklichkeit konstruieren, München 2011

2. Methode
    – Interdisziplinarität
    – Korrelation
    – Statistik
3. Zum Projekt einer Ästhesiologie des Geistes (Plessner)
4. Metaphern, Analogien und exzentrische Positionalität
5. Bewußtsein: Schaltkreise, Regelkreise und Netzwerke
6. Zum Konzept eines Kernselbsts (Damasio)
7. Haltungen
8. Gestaltwahrnehmung und Kategorien
9. Naivität und Kritik/Reflexion
10. Statistisches Verstehen von Sätzen und unmittelbares Verstehen von Metaphern
11. Reine Stimuli: die Sichtbarmachung von nur ungenau Geschautem
12. Regel und Regelbruch: Differenz von Sagen und Meinen
13. Poesie versus Narrativität
14. Genetisch vorprogrammiert? – Denkfiguren als Operationsmodi des Gehirns

In meinen beiden Posts vom 01.05.2011 zu Mayer-Schönberger war davon die Rede gewesen, daß das digitale Gedächtnis die Zeitdimension kollabieren läßt. Beim digitalen Gedächtnis haben wir es im Unterschied zu analogen Gedächtnismedien und dem biologischen Gedächtnis des Menschen mit einer Art von photographischem Gedächtnis zu tun, das sich nicht mehr verändert.

Interessanterweise beschreibt nun Schrott die Wirkungsweise der Poesie ganz ähnlich: auch Gedichte versetzen den Rezipienten in eine nahezu zeitlose Dimension, in der der Zeitfluß verlangsamt und in gewisser Weise sogar ganz aufgehoben wird: „Der Prozessor, mit dem wir die gebundene Sprache eines Gedichts gewissermaßen ‚scannen‘, um ihre musikalischen Strukturen zu erfassen, bewirkt aber noch etwas anderes, das für die Poesie typisch ist: unser prospektives und zugleich retrospektives Hören lässt Gedichte relativ zeitlos und statisch wirken. Weil die Repetition der metrischen Muster letztlich den Eindruck von Stillstand vermittelt, kann im Gedicht deshalb weniger gut erzählt werden als in der Prosa. ... Metrum, Reim und die Prosodie der Syntax befördern zyklische Wiederholbarkeit – sodass jede neue Verszeile zunächst nur eine Variation ein und desselben Grundmotivs darstellt. Dadurch ergibt sich insgesamt eine Art Zeitlupeneffekt ...“ (Schrott 2011, S.337)

Dieser Zeitlupeneffekt macht Schrott zufolge die Poesie mit der Photographie vergleichbar und unterscheidet sie zugleich von der Prosa. (Vgl. Schrott 2011, S.337f.) Mit anderen Worten: Gedichte eignen sich schlecht für epische, also im eigentlichen Sinne narrative Texte. Umso besser eignen sie sich als Gedächtnismedien: „Sie (die Poesie – DZ) wurde einzig und allein erfunden, weil sich durch die Koppelung von Musik und Sprache das Erinnerungsvermögen steigern lässt. In einer Zeit, die noch keine Schrift kannte, war Poesie die einzige Möglichkeit, Wissen in einem größeren Umfang zu fixieren, indem die Worte in einer musikalischen Matrix abgespeichert wurden ...“ (Schrott 2011, S.324)

Mit der Musik teilt sich die Poesie eine bestimmte neurologische Funktion, die Schrott auch als „musikalischen Prozessor“ (Schrott 2011, S.337) bezeichnet.  Dieser musikalische Prozessor bewirkt, „dass wir Musik auch unabhängig von der uns unmittelbar bewussten Wahrnehmung verarbeiten“. (Vgl. Schrott 2011, S.333) Er ‚tastet‘ „gehörte Strukturen automatisch von vorne“ ‚ab‘ und ordnet sie in dieser Reihenfolge: „Das gilt sogar für die Musik, die wir ‚im Kopf hören‘: wir holen die Töne zwar aus unserem Langzeitgedächtnis, der Prozessor bearbeitet sie aber weiterhin so, als wäre es das erste Mal – womit der Eindruck entsteht, wir würden sie gleichsam ‚von außen‘ hören.“ (S.334)

Die Art und Weise, wie dieser musikalische Prozessor funktioniert, erinnert an Assmanns Beschreibung der Funktionsweise von Mythen. (Vgl. meinen Post vom 29.01.2011) Nach Assmann orientieren sich die Menschen in ihrer Lebensführung an mythologischen Strukturen, die sie einerseits wiederholen (‚zitieren‘), aber dennoch andererseits so leben, als wäre es das erste Mal. Da wir also Assmann zufolge mythische Strukturen nach-er-leben und sogar nach-leben, als wäre es das erste Mal, steht zu vermuten, daß auch hier dieser musikalische Prozessor am Werk ist. Denn ähnlich, wie er es uns ermöglicht, ein musikalisches Werk immer wieder ästhetisch zu genießen, weil es uns immer wieder als neu erscheint, könnte er auch für den Effekt verantwortlich sein, den Assmann als „zitathaftes Leben“ beschreibt.

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Raoul Schrott/Arthur Jacobs, Gehirn und Gedicht. Wie wir unsere Wirklichkeit konstruieren, München 2011

2. Methode
    – Interdisziplinarität
    – Korrelation
    – Statistik
3. Zum Projekt einer Ästhesiologie des Geistes (Plessner)
4. Metaphern, Analogien und exzentrische Positionalität
5. Bewußtsein: Schaltkreise, Regelkreise und Netzwerke
6. Zum Konzept eines Kernselbsts (Damasio)
7. Haltungen
8. Gestaltwahrnehmung und Kategorien
9. Naivität und Kritik/Reflexion
10. Statistisches Verstehen von Sätzen und unmittelbares Verstehen von Metaphern
11. Reine Stimuli: die Sichtbarmachung von nur ungenau Geschautem
12. Regel und Regelbruch: Differenz von Sagen und Meinen
13. Poesie versus Narrativität
14. Genetisch vorprogrammiert? – Denkfiguren als Operationsmodi des Gehirns

Plessner hatte schon hinsichtlich der menschlichen Expressivität festgehalten, daß sie sich im Verfehlen des Gemeinten erfüllt, also in der Differenz von Gesagtem und Gemeintem. (Vgl. meinen Post vom 29.10.2010) Im Grunde ist Schrotts ganze Metaphorologie ein Beleg für diese Differenz. Denn gerade indem Metaphern sich nicht auf präzise Bedeutungen, auf eindeutig Gemeintes festlegen lassen, tragen sie dazu bei, das „nur ungenau Geschaute“ sichtbar zu machen „und dem Überhörten zur Sprache (zu) verhelfen“. (Vgl. Schrott 2011, S. 260)

Überhaupt scheinen eigentlich alle Stilmittel poetischer Texte dazu beizutragen, Gemeintes im Gesagten in der Schwebe zu halten. So heißt es z.B. zur Wirkungsweise des Reims: „Der Reim bringt eine Art doppelter Buchführung von semantischer Identität und semantischer Differenz ins Spiel. Über die klangliche Relation zwischen Grundwort und Reimwörtern baut er im Gedicht eine Reihe von impliziten Vergleichen auf, semantischen Similes, die zeilenversetzt präsentiert werden.“ (Schrott 2011, S.352) – Der Reim verbindet nämlich ähnlich wie die Metapher verschiedene gleichlautende Wörter am Zeilenende, so daß sich deren verschiedenen Inhalte überblenden und so neue Kontexte, also Bedeutungsdimensionen (Sinn von Sinn) eröffnen.

Bei aller „formalen Strenge“ so Schrott, „zu der die Poesie seit je tendiert“, sind wir deshalb mit der „Tatsache“ konfrontiert, „dass sie diese Norm nie zur Gänze erfüllt: ein Metrum, das perfekt wäre, besäße die Monotonie eines Metronoms; ein vollkommen gleichklingendes Reimschema wäre nichtssagend. Regel und Regelbruch gehören zusammen: gemeinsam schaffen sie jene kognitive Spannung, die unser Interesse weckt.“ (Schrott 2011, S.371) – Weit entfernt also davon, daß die Poesie uns mit „reinen Stimuli“ versorgt (vgl. Schrott 2011, S.260), ist es der Regelbruch, also die unaufhebbare Differenz zwischen Gesagtem und Gemeintem, der bzw. die für die Poesie unverzichtbar ist.

Diese Differenz begründet sich nicht zuletzt in dem, was Tomasello „Rekursivität“ nennt (vgl. meinen Post vom 25.04.2010). Damit Sprache als Medium der Kommunikation funktionieren kann, müssen wir die Fähigkeit haben, die Intentionen unseres Gesprächspartners zu teilen; wir müssen fähig sein, eine gemeinsame Intentionalität zu stiften. Die Ebene des Sinns von Sinn (Fischer (vgl. meinen Post vom 07.07.2011)) meint letztlich nichts anderes als diese gemeinsame Intentionalität. Schrott schreibt dazu: „Als A zu wissen, wie B auf C reagiert, der mit D im Streit liegt, bietet erst die Basis für solche gruppendynamischen Verhaltensweisen.“ (Schrott 2011, S.21)

Diese Rekursivität scheint ihre Grenzen zu haben: „In welchem Grad sich diese intentionale Haltung entwickelt, unterscheidet sich von Spezies zu Spezies. Versuche zeigen, dass Schimpansen – die mit uns 98 Prozent der Gene teilen – glauben können, dass ein anderer weiß, dass die Banane in der Box und nicht im Korb liegt. Damit sind sie zu einer Intentionalität zweiter Ordnung fähig.“ (Schrott 2011, S.23) Und weiter: „Die Gehirnmasse des Homo erectus lässt Rückschlüsse darauf zu, dass er vor 2 Millionen Jahren zu einem Intentionalitätsgrad dritter Ordnung fähig war, während wahrscheinlich erst mit dem Homo sapiens die Weiterentwicklung hin zu jenem höheren Intentionalitätsgraden einsetzte, mit denen unsere Kultur spielt.“ (Ebd.)

Diese Grenze scheint sich aber nicht nur zwischen den verschiedenen Spezies zu ziehen, sondern auch eine Grenze des menschlichen Denkens selbst zu sein: „Und psychologische Tests zeigen, dass sich die Irrtumsrate beim Auflösen von Bezugsketten der vierten Ordnung nur um die 5 Prozent bewegt. Erhöht man jedoch den Schwierigkeitsgrad um eine weitere Stufe – A schreibt, daß B sagt, dass C denkt, dass D meint, dass E glaubt –, steigt die Fehlerquote bereits auf 60 Prozent. Nicht zuletzt deshalb geht jedes Schreiben weit schwieriger und langsamer vor sich als das Lesen ...“ (Schrott 2011, S.24)

Ab der fünften Ordnung einer Bezugskette von Intentionalitätsvermutungen (vierte Ordnung: A-D, fünfte Ordnung: A-E) bekommen die meisten von uns Schwierigkeiten, sie nachzuvollziehen. Interessant ist der Hinweis über die Differenz zwischen Autor und Leser eines Textes. Schrott meint wahrscheinlich – aufschlußreicherweise bin ich hier auf eine Intentionsvermutung angewiesen –, daß der Autor eines Textes immer noch zusätzlich die Intentionalität des Lesers mitberücksichtigen muß. Allerdings vergißt Schrott, daß auch der Leser wiederum (also in diesem Fall ich in bezug auf Schrott) zum Verständnis des Gelesenen die Intentionalität des Schreibers berücksichtigen muß. Der Unterschied liegt also letztlich darin, daß der Leser die Autorenintention nur re-konstruieren muß – denn er greift ja auf einen vorhandenen Text zurück –, während der Autor – dem der mögliche Leser ja nicht gegenwärtig ist – die Leserintention konstruiert; was angesichts eines Abwesenden allemal schwieriger ist. Deshalb ist es wohl auch schon immer leichter gewesen, einen Text zu kommentieren, als ihn zu schreiben.

Es gibt also nicht nur eine Differenz des Gesagten und Gemeinten hinsichtlich der eigenen Intentionalität (Bedeutungsdimension), sondern auch eine Differenz hinsichtlich der gemeinsamen Intentionalität (Sinndimension). Wie aus folgendem Zitat hervorgeht, läßt sich deshalb Wahrheit nicht mehr daran festmachen, daß Begriffe und Inhalte 1:1 übereinstimmen: „Die Frage nach objektiven Wahrheitsgehalten stellt sich als Frage nach einer Intentionalität, die beim Sender wie beim Empfänger auf denselben ökonomischen Prinzipien basiert. ... Das setzt einen Sprachbegriff voraus, bei dem Worte nur ein Medium sind, mit dem Gedanken vermittelt werden, und eine Auffassung von Kommunikation, bei der es weniger um das Verständnis von Sätzen als um das Erkennen von Sprecherintentionen geht. Um dies zu gewährleisten, leiten wir von Gesagten weit öfter Bedeutungen ab, als dass wir uns mit der rein wörtlichen Aussage zufriedengeben. ... Danach gefragt, was jemand gesagt hat, geben wir es darum nur selten verbatim wieder; stattdessen drücken wir das aus, was wir für das eigentlich Gemeinte halten.“ (Schrott 2011, S.214f.)

Hier kann ich abschließend nur noch ergänzen: Wo wir uns mit „rein wörtlichen“ Aussagen nicht mehr zufrieden geben können und wo „Intentionalität ... die Idee ‚wörtlicher Bedeutung‘ (ersetzt)“ (vgl. Schrott 2011, S.215), kann die Aufgabe der Kunst auch nicht darin bestehen, uns mit „reinen Stimuli“ zu versorgen.

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Sonntag, 24. Juli 2011

Raoul Schrott/Arthur Jacobs, Gehirn und Gedicht. Wie wir unsere Wirklichkeit konstruieren, München 2011

2. Methode
    – Interdisziplinarität
    – Korrelation
    – Statistik
3. Zum Projekt einer Ästhesiologie des Geistes (Plessner)
4. Metaphern, Analogien und exzentrische Positionalität
5. Bewußtsein: Schaltkreise, Regelkreise und Netzwerke
6. Zum Konzept eines Kernselbsts (Damasio)
7. Haltungen
8. Gestaltwahrnehmung und Kategorien
9. Naivität und Kritik/Reflexion
10. Statistisches Verstehen von Sätzen und unmittelbares Verstehen von Metaphern
11. Reine Stimuli: die Sichtbarmachung von nur ungenau Geschautem
12. Regel und Regelbruch: Differenz von Sagen und Meinen
13. Poesie versus Narrativität
14. Genetisch vorprogrammiert? – Denkfiguren als Operationsmodi des Gehirns

Der häufige, unkritische Gebrauch des Begriffs der Konditionierung, auf den ich im letzten Post hingewiesen habe, führt zu weiteren Widersprüchen in Schrotts Ausführungen zur Wirkungsweise von Poesie. Da der Begriff von den Behavioristen kommt und diese dafür bekannt sind, alle Verhaltensweisen als Reaktionen auf einfache Reize (Stimuli) zu definieren, ist es fast schon nicht mehr verwunderlich, wenn Schrott das Wesen der Poesie daran festmacht, uns mit „reinen Stimuli“ zu versorgen: „Reine Stimuli zu präsentieren gehört zu den fundamentalen Anliegen der Poesie. Sie stellen ein Qualitätskriterium dar, an dem Poesie sich messen lassen muss, denn ihre Bilder wollen ja das nur ungenau Geschaute sichtbar werden lassen und dem Überhörten zur Sprache verhelfen.“ (Schrott 2011, S.260)

Hier haben wir den gravierenden Widerspruch zu Schrotts sonstigen grundlegenden Ausführungen zur Sprache als metaphorischem Prozeß schon in diesen zwei Sätzen zur Poesie: „reine Stimuli“ als Mittel, das nur „ungenau Geschaute“ sichtbar zu machen, – beides paßt einfach nicht zusammen! Darüberhinaus legt die Kennzeichnung von Kunst als „optimale(r) Stimulierung“ (Schrott 2011, S.259), wie es eine Seite zuvor heißt, diese darauf fest, den „Eindruck von Unmittelbarkeit: von Gegenwart“ zu erzeugen. Schrott degradiert die Kunst damit zu einem bloßen Virtualisierungsmechanismus, was sie auf eine Stufe mit Computerspielen stellt, in denen wir tatsächlich mit optimalen, ‚reinen‘ Stimuli konfrontiert werden, wie in jedem Rauscherlebnis, ob es sich nun um Opiate handelt, um Alkohol oder um andere Substanzen. Aber Kunst als Rauscherlebnis? Möglich, daß manche Künstlerbiographie Belege für so eine Vermutung liefert. Aber damit geht Schrott doch, wie ich vermute, ziemlich an dem vorbei, was er eigentlich sagen will.

Ich erinnere mich an einen BBC-Zweiteiler, der Anfang 2006 im Fernsehen lief. Dort präsentierte ein Neurophysiologe zur Erklärung von Kunst seine These, daß unser Gehirn besonders auf die Überbetonung einzelner, isolierter Reize (Stimuli) reagiere. Das belegte er mit einem Beispiel aus dem Tierreich: Silbermöwenküken reagierten um so heftiger auf kleine Stäbe mit einem roten Punkt am Ende, je größer dieser rote Punkt war. Dieser rote Punkt befindet sich natürlich auch an der Schnabelspitze der Silbemöweneltern und lädt, wenn er sich dem Küken nähert, zum Fressen ein. Der besagte Neurophysiologe glaubte damit nun bewiesen zu haben, daß so auch unser menschliches Gehirn auf Kunst reagiere: z.B. auf die Venus von Willendorf mit ihrem übergroßen Busen und Hintern.

Diese Kunsttheorie ist Behaviorismus reinsten Wassers. Im Endeffekt läuft sie auf die Beaudrillardsche Hyperrealität hinaus, die wir für realer halten, als die wirkliche Wirklichkeit, weil in ihr die Tomaten röter und die Melonen größer sind. – Aber wie gesagt: das hat Schrott eigentlich gar nicht gemeint.

Schon Jacobs bringt ein paar Seiten weiter Befunde, die in eine ganz andere Richtung gehen: „Die moderne Leseforschung zeigt, dass ‚Unvollständigkeit‘ das physiologische Erregungsniveau erhöht und die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Assimilation weiterer Textelemente an das Schema richtet – so lange, bis Vollständigkeit, Auflösung der Spannung und damit Erlösung einsetzen. Laut der Evaluationstheorie der Emotionen des Psychologen George Mandler bestimmen wertbezogene kognitive Evaluationsvorgänge die Qualität von Emotionen, während ihre Intensität von autonomen Erregungsvorgängen bestimmt wird, die durch Diskrepanzen – Unvollständigkeit, Ambiguität – in der Handlung erzeugt werden.“ (Jacobs 2011, S.263)

Diese Sensibilität für das Unvollständige und für Ambiguität erinnert mich an das Montageprinzip des kommunikativen Gedächtnisses, wie es Harald Welzer beschreibt. (Vgl. meinen Post vom 22.03.2011) Danach nutzen Zuhörer und Leser Verständnislücken in den Geschichten, um sie mit eigenem Sinn zu füllen. Sie ergänzen also das, was sie hören, so daß sich ein ihrem jeweiligen Verständnis entsprechender ‚guter‘ Sinn daraus ergibt. Das war ja genau das Problem, auf das ich in meinem ersten heutigen Post zu „Naivität und Kritik/Reflexion“ zu sprechen gekommen bin. Denn das macht uns ja so anfällig für die Verführungen der Poesie und der Demagogie: daß wir immer unbewußt bereit sind, fehlenden Sinn (und fehlende Argumente) zu ergänzen, so daß wir im schlimmsten Fall glauben, etwas verstanden zu haben, wo es gar nichts zu verstehen gab.

Wenn Poesie so wirkt, dann hat Poesie – und überhaupt die Kunst – mit reinen Stimuli wenig zu tun. Das wird, wiederum einige Seiten weiter, auch bei Schrott selbst noch einmal deutlich. So heißt es z.B. zur Textqualität: „Ein guter Text zeichnet sich gerade dadurch aus, dass er die entsprechenden Koordinatenachsen – des Klangs, der Form und des Inhalts – stimmig zu entwerfen versteht. Dadurch wird der Effekt von Sinn erzeugt und auch fühlbar: als erlebtes Verständnis, als intuitives Erfassen eines Ganzen, das über die Einzelaussagen hinausgeht. Wo sonst Redundanzen als überflüssig, wenn nicht gar störend erfahren werden, greift ein poetischer Satz diese auf, um daraus etwas Essentielles entstehen zu lassen. Zum einen erweitern sie die einzelnen Aussagen lautmalerisch mit einem zusätzlichen emotiven Gehalt und versehen sie mittels aller sich ergebenden Assoziationen mit einem breiten Kontext – durch jene Anklänge, die nicht nur Onomatopoeien und bestimmte Vokale, sondern auch Melodiebögen hervorzurufen imstande sind. Zum anderen verringern sie die großenteils artifizielle Distanz, die zwischen der Lautfigur eines bestimmten Wortes und seiner Bedeutung liegt, um Klang und Sinn möglichst zur Deckung zu bringen.“ (Schrott 2011, S.268)

Schrott wird kaum die hier angesprochenen „Redundanzen“, mit denen ihm zufolge gute Texte arbeiten, als „reine Stimuli“ bezeichnen können. Gerade daß diese Redundanzen der Kontexte bedürfen, des unwägbaren Zugewinns an Sinn von Sinn, macht diese Redundanzen zum genauen Gegenteil dessen, was er wenige Seiten zuvor als „reine Stimuli“ bezeichnet hatte. Ich vermute einfach, daß ihn das häufige unkritische Verwenden des Konditionierungsbegriffs ‚unbewußt‘ auf diese schiefe Ebene gebracht hat, die ihn bei den reinen Stimuli hat landen lassen.

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Raoul Schrott/Arthur Jacobs, Gehirn und Gedicht. Wie wir unsere Wirklichkeit konstruieren, München 2011

2. Methode
    – Interdisziplinarität
    – Korrelation
    – Statistik
3. Zum Projekt einer Ästhesiologie des Geistes (Plessner)
4. Metaphern, Analogien und exzentrische Positionalität
5. Bewußtsein: Schaltkreise, Regelkreise und Netzwerke
6. Zum Konzept eines Kernselbsts (Damasio)
7. Haltungen
8. Gestaltwahrnehmung und Kategorien
9. Naivität und Kritik/Reflexion
10. Statistisches Verstehen von Sätzen und unmittelbares Verstehen von Metaphern
11. Reine Stimuli: die Sichtbarmachung von nur ungenau Geschautem
12. Regel und Regelbruch: Differenz von Sagen und Meinen
13. Poesie versus Narrativität
14. Genetisch vorprogrammiert? – Denkfiguren als Operationsmodi des Gehirns

Zur Statistik hatte ich mich schon in meinem entsprechenden Post vom 19.07.2011 geäußert. Dabei war es mir darum gegangen, die Statistik ausschließlich als Forschungsmethode und nicht als Natur- und Bewußtseinsprozeß darzustellen. Statistik nicht nur auf Natur- und Bewußtseinsprozesse zu beziehen, sondern diese selbst als statistische Prozesse darzustellen, ist einer von jenen Kategorienfehlern, auf die ich in meinem Post vom 22.07.2011 zu sprechen gekommen bin. Hier möchte ich noch einmal im Detail begründen, warum ich das metaphorische Prinzip bei Lern- und Verstehensprozessen als einen Bewußtseinsprozeß verstehe, die Statistik aber nicht.

Zunächst aber zum Problem bei Schrott, das mich dazu veranlaßt, hier noch einmal zu insistieren. An verschiedenen Stellen suggeriert Schrott, daß Lernen und Verstehen statistische Prozesse seien. So heißt es z.B. zum Sprechenlernen: „Wir lernen Sprache nur, indem wir gewissermaßen statistische Voraussagen über die Wahrscheinlichkeit treffen, mit der ein Wort auf ein anderes folgt – nur eben mit einem exponentiell weit komplexeren Netzwerk von Neuronen. Grammatik ist letztlich nichts anderes als eine kodierte Wortfolge, die alle Vorhersagen erfüllt.“ (Schrott 2011, S.181) – Oder es heißt zum Verstehen von Situationen und Kontexten: „Ist im Rahmen einer Küche von einem Stuhl die Rede, halten wir es für wahrscheinlicher, dass er ‚zurückgeschoben‘ oder zu einem Tisch ‚gestellt‘ wird, als daß er ‚geworfen‘ wird. Alle möglichen Szenarien, die wir vom Beginn eines Satzes an entwerfen (bei der Produktion wie der Rezeption), reduzieren sich mit jedem weiteren Wort – bis man den Satz beim Zuhören schon vor seinem Ende meist selbst vervollständigen kann. Dieser Selbstvervollständigungsmechanismus basiert auf dem Prinzip der auf Wahrscheinlichkeit basierenden Prädiktion, die wir uns im Laufe unseres Spracherwerbs antrainieren.“ (Schrott 2011, S.181f.)

Sowohl das Erlernen einer Grammatik wie auch das Verstehen von Sinnzusammenhängen beruht also Schrott zufolge auf dem Reduzieren von Komplexitäten und ihrer allmählichen Zurückführung auf eindeutige, unmißverständliche Klarheit. Diese Form des statistischen Verstehens basiert wiederum auf dem mathematischen Verständnis des Informationsbegriffs, demzufolge komplexe Optionen mithilfe des Wahrscheinlichkeitsprinzips auf wenige, möglichst eine reduziert werden. Dazu paßt eine weitere Neigung von Schrott, in bezug auf Lern- und Verstehensprozesse von „Konditionierung“ zu sprechen. (Vgl. Schrott 2011, S.33, 47, 64f., 66 u.ö.) Schrott geht sogar so weit, das Universitätsstudium als eine „lange Konditionierungszeit“ zu beschreiben. (Vgl. Schrott 2011, S.33)

Man könnte Schrott vielleicht zugute halten, daß er hier den Begriff der Konditionierung in einem metaphorischen, möglicherweise sogar ironischen Sinne verwendet. Aber das möchte ich ihm so nicht durchgehen lassen. Der Begriff der Konditionierung stammt aus dem Behaviorismus, und damit ist wahrhaftig schon genug Unheil gestiftet worden. (Vgl. meinen Post vom 15.05.2011) Schrott verbindet nun den Begriff der Konditionierung mit dem Begriff der Assoziation zum Begriff der „konditionierten Assoziation“ (vgl. Schrott 2011, S.66), was wiederum eine gefährliche Verengung des Blickwinkels auf das Gehirn als „Assoziationsmaschine“ (vgl. Schrott 2011, S.74 und S.256) bzw. als „Assoziationsnetzwerk“ (vgl. Schrott 2011, S.192) bedeutet. Denn so wird das Gehirn zu einer Konditionierungsmaschinerie degradiert. Schrott überblendet hier Konditionierung (A) und Assoziation (B), ohne daß daraus ein neuer produktiver Gedanke hervorgeht, sondern vielmehr seine tatsächlich neuen, produktiven Gedanken auf längst als fehlerhaft und schlecht durchdacht überführte Theoriemodelle zurückgestutzt werden.

Der Begriff der Assoziation ist nämlich nach Schrotts eigener Darstellung weniger statistisch und weniger ‚konditioniert‘ als die oben aufgeführten Verbindungen suggerieren. So wird nämlich der Assoziationsmechanismus von Schrott an anderer Stelle als metaphorisches Prinzip des Überblendens von verschiedenen Strukturen wie z.B. von ‚Bild‘ und ‚Sprache‘ und von ‚Musik‘ und ‚Sprache‘ beschrieben. Bei diesen Überblendungen arbeiten „parallel kodierende Systeme“, d.h. neuronale Netzwerke zusammen: „ein System, das auf die Repräsentation und Elaboration von Informationen, Objekten und nicht-sprachlichen Ereignissen spezialisiert ist; ein anderes, das sich auf ihre Beziehung zur Sprache konzentriert“. (Vgl. Schrott 2011, S.406) – Wir haben es also bei unserem Gehirn als „Assoziationsmaschine“ mit einem globalen Phänomen der Verknüpfung funktional getrennter, in sich sinnhafter, gestalterzeugender Netzwerke zu neuen Gestalten und Sinneinheiten zu tun. Das alleine halte ich schon für ein so überkomplexes Phänomen, daß ich dafür keinesfalls simple statistische Mechanismen der Komplexitätsreduktion als Erklärung akzeptieren kann.

Das „Assoziationsvermögen“ selbst beschreibt Schrott dann auch, wiederum an anderer Stelle, als Grundprinzip der Gestaltwahrnehmung, „das ökonomisch darauf bedacht ist, allem eine einheitliche Gestalt zu verleihen.“ (Vgl. Schrott 2011, S.416) Das Assoziationsvermögen trägt zur „Klassifizierung von Objekten in Kategorien“ bei, was „(evolutionsbiologisch) grundlegend (ist) für unser Überleben: sicher fühlen wir uns erst in einer Welt, in der wir zwischen Beute und Raubtier, essbar und ungenießbar, männlich und weiblich, Tag und Nacht unterscheiden können. ... Zu kategorisieren bedeutet dabei, in spezifischen Dingen (‚Julia‘) Exemplarisches (‚Frau‘) zu erkennen – und in exemplarischen Dingen das Spezifische. ... Verborgene Ähnlichkeiten in sukzessiven unterschiedlichen Episoden zu entdecken, erlaubt uns, Kausalitätsketten zu erkennen und unser Verhalten sodann prädiktiv an veränderte Umstände anzupassen.“ (Vgl. Schrott 2011, S.135)

So bildet das Assoziationsvermögen in diesem Zitat sogar die Basis für eine unserer grundlegendsten Denkkategorien: für Kausalität. Daraus einen statistischen Prozeß machen zu wollen, etwa daß statistische Prozesse die empirische Grundlage für die Kategorie der Kausalität bilden, hieße, das Pferd von hinten aufzäumen. Denn um kausale Zusammenhänge zwischen statistischen Größen herstellen zu können, etwa dem Abholzen von Bergwäldern und der Zunahme von Schlammlawinen, bedarf es allererst einer Vorstellung von Kausalität. Die Kausalität erklärt sich nicht durch statistische Verstehensprozesse, sondern durch die Fähigkeit, Gestalten zu erkennen. Und die Fähigkeit, Gestalten zu erkennen und zu assoziieren – also zu überblenden –, ermöglicht allererst die Statistik als Forschungsmethode, die also zwar auf Bewußtseinsprozessen beruht, aber selbst kein Bewußtseinsprozeß ist!

Wie weit die Statistik davon entfernt ist, ein originärer Bewußtseinsprozeß zu sein, zeigt folgendes, von Jacobs stammende Zitat: „Die klassische Sichtweise der Philosophie ... geht ... davon aus, dass Metaphern zunächst wörtlich aufgefasst werden. Die logisch falsche Aussage wird verworfen und in ein Simile transformiert ..., das erst darauf dank einer wie auch immer gearteten Ähnlichkeitsberechnung zwischen den beiden Vergleichsbegriffen verstanden werden kann. ... Neurokognitive Studien mit EEG, bildgebenden Verfahren und an Patienten mit Hirnläsionen oder Schizophrenen lassen denn auch Zweifel an der klassischen Auffassung aufkommen: sie stützen das Modell einer direkten Interpretation von Metaphernforschern wie Ray Gibbs, die nicht notwendigerweise den Umweg über die wörtliche nehmen muss. In solchen Studien zeigt sich beispielsweise, dass die Amplitude der N400-Komponente (einer hirnelektrischen Welle, die zuverlässig stets dann erscheint, wenn ein Wort eine vom semantischen Kontext her unerwartete Bedeutung aufweist) in der kontextadäquaten metaphorischen Äußerung reduziert ist ... .“ (Jacobs 2011, S.121)

Anstatt also das Metaphernverstehen auf „wie auch immer geartete() Ähnlichkeitsberechnungen“ zurückzuführen, haben wir es in den beschriebenen Studien mit Belegen dafür zu tun, daß Metaphernverstehen gar nicht auf statistischem Wege funktionieren kann! Die statistischen Prozeduren sind viel zu umständlich und langsam und viel zu sehr auf das Reduzieren von Mehrdeutigkeiten auf Eindeutigkeiten angewiesen, als daß sie das nicht-wörtliche, direkte Sinnverstehen von Metaphern erklären könnten. Das Erkennen einer Gestalt und das Verstehen von Sinn funktionieren anders als auf statistischem Wege.

Gestalten und Bedeutungen werden auch nicht auf statistischem Wege erlernt, etwa durch Konditionierung, um dann im Langzeitgedächtnis abgelegt auf die Gelegenheit ihres Abgerufenwerdens zu warten, so daß sich das unmittelbare Verstehen auf diese Weise als nachträgliche Leistung erklären läßt, der irgendwann in der Lernbiographie ein statistischer Lernprozeß vorangegangen ist. So spricht Jacobs z.B. von „fünf empirischen Kernphänomenen“ (Tomasello) des kindlichen Wortlernens, die auch eine Theorie statistischen Lernens erklären können müßte. Mindestens zwei dieser Kernphänomene kann so eine Theorie aber nach meiner Einschätzung prinzipiell nicht erklären, nämlich wie es kommt, daß Kinder die Bedeutung von Wörtern „oft aufgrund eines einzigen Beispiels erraten“ (vgl. Jacobs 2011, S.171), und wie „mehrere Wörter für ein Ganzes, eine Aktion, eine Eigenschaft oder Relation stehen können“, so daß sich ein „System überlappender Konzepte mit je einem eigenen linguistischen Etikett“ (vgl. Jacobs 2011, S.172) ergibt. Ersteres deutet auf unmittelbares Sinnverstehen, das Zweite verweist auf einen statistisch nicht auflösbaren Bereich von Bedeutungszusammenhängen, eben auf Sinn von Sinn, die auf Kontexte und Intentionen bezogen sind und aus denen erst die dazugehörigen Situationen einen bestimmten Bedeutungseffekt herauskristallisieren. Wir haben es also mit einer Überkomplexität zu tun, angesichts deren jede Statistik scheitern muß.

Es spricht allerdings vieles dafür, daß das Sprechenlernen oder das Verstehen von Metaphern auf der Basis der Gestaltwahrnehmung und des Verstehens von Sinn sich durchaus auch auf die Berechnung von Wahrscheinlichkeiten stützt. Wie sonst sollte man z.B. aus Fehlern, die unseren diesbezüglichen Erwartungen widersprechen, lernen? Aber die Basis dieses Lernens ist eben nicht die Statistik. Das Lernen ist hier das eigentliche Bewußtseinsphänomen, die Statistik aber eben nur eine Methode.

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Raoul Schrott/Arthur Jacobs, Gehirn und Gedicht. Wie wir unsere Wirklichkeit konstruieren, München 2011

2. Methode
    – Interdisziplinarität
    – Korrelation
    – Statistik
3. Zum Projekt einer Ästhesiologie des Geistes (Plessner)
4. Metaphern, Analogien und exzentrische Positionalität
5. Bewußtsein: Schaltkreise, Regelkreise und Netzwerke
6. Zum Konzept eines Kernselbsts (Damasio)
7. Haltungen
8. Gestaltwahrnehmung und Kategorien
9. Naivität und Kritik/Reflexion
10. Statistisches Verstehen von Sätzen und unmittelbares Verstehen von Metaphern
11. Reine Stimuli: die Sichtbarmachung von nur ungenau Geschautem
12. Regel und Regelbruch: Differenz von Sagen und Meinen
13. Poesie versus Narrativität
14. Genetisch vorprogrammiert? – Denkfiguren als Operationsmodi des Gehirns

Die im letzten Post angesprochene antithetische Bestimmtheit von Kategorie und Metapher, nach der die Kategorie eine Implosion zweier verschiedener Strukturen (A und B) verhindern soll, während die Metapher ein Überblenden dieser Strukturen ermöglicht, führt mich nun in diesem Post noch einmal zu dem schon im letzten Post erwähnten ambivalenten Aspekt des Metapherngebrauchs. Metaphern verleiten uns dazu, das ausgewogene Verhältnis von Naivität und Kritik zugunsten einer von unserem Verstand nicht mehr kontrollierbaren Naivität kippen zu lassen. Die von ihr initiierten, weitgehend unbewußten Prozesse ‚zwingen‘ uns nämlich, wie Schrott schreibt, trotz des kategorischen Verdikts, A und B nicht zu vermischen, „mittels sekundärer Merkmale von A und B kognitiv ein eigenes Konzept zu kreieren.“ (Vgl. Schrott 2011, S.194f.)

Hier liegen Positives und Negatives, Licht und Schatten, dicht beieinander. Daß wir mit Hilfe der Metapher an den strengen kategorialen Differenzierungen vorbei auf neue Ideen kommen, ist eindeutig der positive Effekt des Metapherngebrauchs. Daß sie uns aber am Verstand vorbei dazu zwingen, verweist auf eine bedenkliche Wehrlosigkeit des Verstandes, die einer Betäubung gleichkommt. Solange wir uns dieses Betäubungseffekts nicht bewußt sind, bewegen wir uns noch in der ersten Naivität. Erst wenn wir uns dieses Betäubungseffekts bewußt werden, gelangen wir zu jener zweiten Naivität, die wir zum Mittel des Verstandesgebrauchs machen können.

Die Gefahr besteht vor allem in dem, was Sokrates vor Zweieinhalbjahrtausenden ‚Rhetorik‘ genannt hatte und was wir heute mal ‚Propaganda‘, mal ‚Werbung‘ und mal ‚Demagogie‘ nennen. Geschickt eingesetzt können Redner uns mit Hilfe von Metaphern und anderen „figurativen Täuschungen“ nicht nur dazu bringen, Lügen für Wahrheiten zu halten, sondern auch gegen unsere eigenen Interessen zu handeln. Sie brauchen nur ihre Metaphern so zu konstruieren und ihre Rede so zu strukturieren, daß wir uns aufgrund der Überblendungen von lauter Widersprüchlichkeiten und aufgrund der mitreißenden Prosodie und Intonation (vgl. Schrott 2011, S.333f.) des Redeflusses‚selbsttätig‘, nämlich auf unterbewußter Ebene, am Zurechtbiegen der Lügen zu Wahrheiten beteiligen, weil wir uns schlicht und einfach dabei gut fühlen: „Dass Reim und Rhythmus Wörtern und Sätzen magische Kräfte verleihen können, ist eine Grundannahme der klassischen Rhetorik. ... Tatsächlich wurde (in einem Experiment – DZ) reimenden Aphorismen ein höherer Wahrheitsgehalt zugeschrieben als ungereimten Sprichwörtern und ihren modifizierten Varianten.“ (Jacobs 2011, S.353)

Letztlich ist es derselbe Effekt wie beim Hören oder Lesen einer guten Geschichte, die wir ja auch in gewisser Weise bereitwillig für die Realität nehmen; nur daß wir uns bewußt sind, daß wir uns auf Täuschungen einlassen: „Es kommt nicht von ungefähr, dass einer der klassischen Vorwürfe gegen die Poesie ihre demagogische Überredungskunst ist, die sie nicht erst seit Johannes R. Becher, Jewtuschenko oder Neruda zum Agitprop einzusetzen verstanden hat.“ (Schrott 2011, S.212f.) – Das macht noch einmal deutlich, worin der Unterschied zwischen der ersten und der zweiten Naivität liegt. Lesen wir eine gute Geschichte, bewegen wir uns im Bereich der zweiten Naivität: wir wissen, was mit uns geschieht und können es gleichzeitig ästhetisch genießen und kognitiv davon profitieren. Belügt uns jemand mit voller Absicht oder nehmen wir unsere Lebenswelt als einzig mögliche Welt, in der sich gut leben läßt, bewegen wir uns im Bereich der ersten Naivität, mal von jemand anderem, mal von uns selbst dazu verführt.

Um so wichtiger ist also jene Kopplung von poetischer Praxis und Poetologie wie auch von Poesie und Wissenschaft zur Beförderung einer nicht nur kreativen Dialektik (vgl. Schrott/Jacobs 2011, S.12), sondern auch zur Beförderung einer kritischen Reflexion, wie sie in folgender Feststellung von Schrott zum Ausdruck gebracht wird: „Den Sinn eines Gedichts erschließen wir über Wortbedeutungen; der Klang eines Gedichts kann jedoch eine semantische Kohärenz suggerieren, wo, streng besehen, gar keine vorhanden ist .... Die Koppelung von Sprache und Musik beruht meist auf einem gewissen Maß an Manipulation – auf beiden Seiten.“ (Schrott 2011, S.339)

Um es zum Schluß nochmal mit Jacobs auf den Punkt zu bringen: unser erwachsener Verstand balanciert auf dem schmalen Grat zwischen „Kindern“ (erste Naivität) und „Anwälten“ (zweite Naivität). Beide können „auf den Reim kaum verzichten“: „Unser Gehirn verarbeitet Sich-Reimendes eben leichter, manchmal sogar auf Kosten des Verstandes und der Vernunft.“ (Jacobs 2011, S.355)

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Freitag, 22. Juli 2011

Raoul Schrott/Arthur Jacobs, Gehirn und Gedicht. Wie wir unsere Wirklichkeit konstruieren, München 2011

2. Methode
    – Interdisziplinarität
    – Korrelation
    – Statistik
3. Zum Projekt einer Ästhesiologie des Geistes (Plessner)
4. Metaphern, Analogien und exzentrische Positionalität
5. Bewußtsein: Schaltkreise, Regelkreise und Netzwerke
6. Zum Konzept eines Kernselbsts (Damasio)
7. Haltungen
8. Gestaltwahrnehmung und Kategorien
9. Naivität und Kritik/Reflexion
10. Statistisches Verstehen von Sätzen und unmittelbares Verstehen von Metaphern
11. Reine Stimuli: die Sichtbarmachung von nur ungenau Geschautem
12. Regel und Regelbruch: Differenz von Sagen und Meinen
13. Poesie versus Narrativität
14. Genetisch vorprogrammiert? – Denkfiguren als Operationsmodi des Gehirns

Wenn ich in diesem Post auf Schrotts enge Verknüpfung von Gestaltwahrnehmung und Kategorienbildung eingehe (vgl. Schrott 2011, S.75f., 413, 483 u.ö.), die im Diskussionszusammenhang von „Gehirn und Gedicht“ durchaus plausibel ist, so deshalb, weil ich die Gefahr sehe, daß wir die Differenz aus den Augen verlieren. Ohne mich jetzt auf eine detaillierte Diskussion des Kategoriebegriffs einzulassen, muß es für diesen Post reichen, wenn ich festhalte, daß Kategorien vor allem Denkprinzipien sind. Nach dem „Historischen Wörterbuch der Philosophie“ handelt es sich bei den Kategorien um „kritische Rückwendung(en) der philosophischen Reflexion auf sich selbst“. (Vgl. Bd.4 (1976), I-K, Spalte 714) Sie haben vor allem die „disputationslogische bzw. argumentationslogische Funktion, Verwechslungen des Bedeutungssinnes von ‚Sein‘ zu verhindern.“ (Vgl. Bd.4 (1976), I-K, Spalte 717)

Kurz gesagt geht es bei den Kategorien darum, den zulässigen Gebrauch von Begriffen festzulegen und so Mißverständnisse zu vermeiden. Der Hinweis auf den Bedeutungssinn von ‚Sein‘ gibt hier näheren Aufschluß. Mit dem ‚Sein‘ kann z.B. das Vorhandensein eines realen Gegenstands gemeint sein oder die Natur des Menschen (wer ist der Mensch?) oder die Idee der Freiheit (was ist Freiheit?). In allen diesen Hinsichten ist ‚Sein‘ etwas Verschiedenes, und Kategorien legen fest, welches ‚Sein‘ in welchem Zusammenhang jeweils gemeint sein kann. Würde ich z.B. die Frage nach der Natur des Menschen mit Hinweisen auf seine Biologie beantworten wollen, würde ich einen Kategorienfehler begehen. Die Biologie des Menschen gehört zur Welt der realen Gegenstände, und nicht in eine Welt, für die Sinnfragen relevant sind.

Kategorien – ob natürlicher oder transzendentaler Herkunft – sind also dazu da, das Gegenteil von dem zu bewirken, was Metaphern leisten: nämlich zu verhindern, daß verschiedene Begriffe und Strukturen übereinandergeblendet werden, z.B. psychische und biologische Strukturen. Sie sind gewissermaßen Abstandshalter: sie trennen die Bereiche voneinander, um zu verhindern, daß sie zusammenfallen. Aber vielleicht sorgen sie auf diese Weise sogar dafür, daß Metaphern überhaupt funktionieren! Denn würden die verschiedenen, aufeinander bezogenen Bereiche tatsächlich zusammenfallen, würde auch der Denkraum implodieren, den die Metaphern Schrott zufolge ja gerade eröffnen sollen. Kategorien bilden deshalb in gewisser Weise die Stützpfeiler des Denkraums, um den die Metaphern ihre Folien wölben.

Bezogen auf Schrotts Verknüpfung von Gestaltwahrnehmung und Kategorienbildung hätten wir es also zwar auf den ersten Blick mit einem Kategorienfehler zu tun. Denn wenn Kategorien Denkprinzipien sind, so ist Wahrnehmung – und Wahrnehmung ist immer zugleich auch Gestaltwahrnehmung – ein Realitätsprinzip. Schrott vermischt nun Realitäts- und Denkprinzipien. Dennoch glaube ich, daß dieser Vorwurf nicht sachangemessen ist. Zum einen wegen der von Schrott zurecht behaupteten Notwendigkeit, von Kategorien getrennte Strukturen aufeinander zu beziehen. Zum anderen aber auch, weil sich so die Herkunft unserer Kategorien klären läßt. So wenig Denkprinzipien jemals zu Realitätsprinzipien gemacht werden dürfen, so unbestreitbar scheint es mir doch zu sein, daß diese Denkprinzipien nicht ‚vom Himmel fallen‘. Mit anderen Worten: ich glaube nicht an eine transzendentale Herkunft von Denkprinzipien.

Ich halte es für plausibler, daß wir die Kategorien, an denen wir uns tagtäglich beim Denken und Sprechen orientieren – und um diese Kategorien geht es Schrott in erster Linie und eben nicht um ihre philosophische Begründung –, tatsächlich von unserer Gestaltwahrnehmung hernehmen. Das ist ja genau der Grund, warum es so etwas wie eine ‚Denkhaltung‘ oder eine ‚Lesehaltung‘ überhaupt geben kann: beim Denken und beim Lesen ist eben der ganze Körper involviert und nicht nur ein paar kognitive und neurologische Vorgänge ‚in unserem Kopf‘. So heißt es bei Schrott, daß „die psychischen Strukturen, mit denen wir Kategorien erstellen,“ auf dem aufbauen, „was wir als gestalthaft wahrnehmen, den mentalen Bildern, die wir entwerfen, der Art und Weise, mit der wir unser Wissen über die Dinge organisieren. Was etwas ist, hängt nicht nur von den natürlichen Eigenschaften eines Objektes ab, sondern im gleichen Maße davon, wie unser Körper sie erfährt. Und dies strukturiert unsere Kategorienbildung: wir begreifen Dinge räumlich als BEHÄLTNIS; hierarchisieren alles darin nach dem Prinzip TEIL-GANZES und OBEN-UNTEN; sehen die Relationen als VERBINDUNGEN; ordnen sie nach dem Schema ZENTRUM-PERIPHERIE; gehen aus vom Schema URSPRUNG-WEG-ZIEL; und unterscheiden je nach Wichtigkeit zwischen VORDERGRUND-HINTERGRUND.“ (Schrott 2011, S.413)

Der Körperleib und seine räumliche Orientierung, seine Kinästhesie (vgl. Schrott 2011, S.84), bildet also die Grundlage unserer Kategorienbildung. Diese Kategorien sind aber nun nicht mehr trennscharf, wie sie es im klassisch-philosophischen Sinne sein müssen, wenn sie ihre Aufgabe, mißverständliche Aussagen über den Menschen und die Welt zu vermeiden, erfüllen sollen: „Dabei zeigt sich eine Kategorienbildung, die nicht nach rationalen Kriterien sortiert. ... Dabei kommen vor allem vier Prinzipien zur Geltung: a) was wir psychologisch als Gestalt wahrnehmen (ohne dass diese Kategorisierung der Wirklichkeit entsprechen muss); b) in welchen mentalen Bildern wir unsere Umwelt begreifen; c) wie unser Körper und ein Objekt sich zueinander verhalten; und d) wie allgemein unsere subjektive Erfahrung Welt zu strukturieren imstande ist.“ (Schrott 2011, S.75f.)

Schrotts Kategorien werden nun ähnlich subjektiv wie die Gestaltwahrnehmung. Sie erhalten Bedeutungshöfe (Schrott 2011, S.64f.) und lassen sich so kaum noch von Metaphern unterscheiden. Von den eigentlichen Metaphern unterscheiden sie sich nur noch durch ihre denkräumliche Orientierungsfunktion. Aber ähnlich wie Metaphern haben wir es bei diesen Kategorien nicht mehr mit „rationalen Hierarchien und Listen“ zu tun, sondern mit „radial von einer Bedeutungsmitte ausgehenden Kreisen, die sich mit anderen wiederum überschneiden. Dies bedingt all jene Unschärfen, welche die Semantik in logischen und philosophischen Systemen auszumerzen bemüht ist, die von der Poesie jedoch bewusst eingesetzt werden, um uns die mit einer einzigen Perspektive nie vollständig erfassbare Vielgestaltigkeit der Welt wieder vor Augen zu führen.“ (Schrott 2011, S.76)

Wir haben es also nicht mehr mit philosophischen Kategorien zu tun, sondern mit „natürlichen“ (Jacobs 2011, S.105), irgendwie lebensweltlichen Kategorien, die mit dem, was Kategorien ursprünglich einmal leisten sollten, nicht mehr viel gemein haben. Letztlich haben wir es wohl auch gar nicht mehr mit Denkkategorien zu tun, sondern mit Wahrnehmungskategorien, auf denen das Denken unvermeidlich beruht. Das macht die eigentlichen Denkkategorien nicht überflüssig, ganz im Gegenteil! Umso wichtiger nämlich ist die ständige kritische Aufmerksamkeit auf die metaphorische Verführung unseres Denkens, die verschiedenen Bereiche nicht einfach nur zusammenzubringen, um zu neuen Erkenntnissen zu gelangen, sondern sie aufeinander zu reduzieren, sie also in sich zusammenfallen zu lassen und so unseren Verstand zu schwächen. Ohne Kategorien im ursprünglichen Sinne funktioniert nämlich jene zweite Naivität nicht, auf die ich hier immer so viel Wert lege. Vielmehr würde sie außer Kontrolle geraten, weil ihr der kritische Gegenpol fehlt.

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Donnerstag, 21. Juli 2011

Raoul Schrott/Arthur Jacobs, Gehirn und Gedicht. Wie wir unsere Wirklichkeit konstruieren, München 2011

2. Methode
    – Interdisziplinarität
    – Korrelation
    – Statistik
3. Zum Projekt einer Ästhesiologie des Geistes (Plessner)
4. Metaphern, Analogien und exzentrische Positionalität
5. Bewußtsein: Schaltkreise, Regelkreise und Netzwerke
6. Zum Konzept eines Kernselbsts (Damasio)
7. Haltungen
8. Gestaltwahrnehmung und Kategorien
9. Naivität und Kritik/Reflexion
10. Statistisches Verstehen von Sätzen und unmittelbares Verstehen von Metaphern
11. Reine Stimuli: die Sichtbarmachung von nur ungenau Geschautem
12. Regel und Regelbruch: Differenz von Sagen und Meinen
13. Poesie versus Narrativität
14. Genetisch vorprogrammiert? – Denkfiguren als Operationsmodi des Gehirns

Wenn von Bewußtsein die Rede sein soll, so kann man sich dabei nicht damit begnügen, sich nur mit Selbstbewußtsein, Kognition oder mit Intelligenz zu befassen. Bewußtsein ist ein vielschichtiges Phänomen und umfaßt paradoxerweise auch unbewußte Prozesse, die wir gewöhnlich mit dem Begriff der Intuition bezeichnen. Diese unbewußten Bewußtseinsprozesse reichen weit in die Biologie unseres Körpers hinein. Ich habe versucht, diese Zusammenhänge mit dem Bild einer Pyramide darzustellen. (Vgl. meinen Post vom 01.06.2011) Dabei spielt der Begriff der Haltung eine zentrale Rolle. ‚Haltung‘ ist eine Symbiose aus Bewußtsein und Körper. Unser Bewußtsein wird so sehr vom Körper getragen (gehalten), wie es unsere körperlichen Prozesse beeinflußt. Beides zusammen nenne ich Haltung.

Anhand des Buches von Schrott und Jacobs läßt sich nun sehr schön zeigen, daß es nicht einfach nur eine Haltung im Sinne einer Lebenshaltung der Person gibt, – eine Haltung, die wir auch als ‚Gesinnung‘ bezeichnen können, sondern daß es sehr viele verschiedene Haltungen gibt. Das ist eigentlich auch zu erwarten, wenn Haltung tatsächlich in erster Linie als Handlungspotential verstanden werden soll, als fertige, zur Verfügung stehende Verhaltensstrukturen, die wir in den dazugehörigen Situationen nur noch ‚abzurufen‘ brauchen. Nach diesem Verständnis gibt es so viele Haltungen, wie es bestimmte Gelegenheitsstrukturen gibt, also Rollenerwartungen, auf die wir uns innerlich vorbereiten können. Aber es gibt auch offene, nicht auf bestimmte Situationen festgelegte Haltungen, die es uns ermöglichen, in unvorhersehbaren Situationen, etwa in Notsituationen, einen kühlen Kopf zu bewahren.

In dem Buch von Schrott und Jacobs finde ich nun etwa sieben verschiedene Grundhaltungen. Dazu zählen z.B. Wahrnehmungs- und Verstehenshaltungen (vgl. Schrott 2011, S.64f.), etwa die Kinästhetik (Schrott und Jacobs sprechen von „Sensomotorik“, was aber dasselbe meint) und instinktive wie auch durch Erfahrung erworbene Fähigkeiten der Gefahreneinschätzung (welches Tier, das in meinem Blickfeld auftaucht, ist gefährlich, welches harmlos?). Über die bloße Wahrnehmung hinaus geht die Verstehenshaltung, das, was Schrott meint, wenn er immer wieder „Lernen“ mit „Konditionierung“ gleichsetzt. (Vgl. Schrott 2011, S.47 u.ö.) Auf diese problematische Gleichsetzung werde ich noch in einem späteren Post gesondert eingehen.

Die Verstehenshaltung macht tatsächlich den Eindruck einer Konditionierung, aber sie beinhaltet doch wesentlich mehr als das. Sie ist eine aus ursprünglichen Bewußtseinsprozessen ins Unbewußte herabgesunkene Bereitschaft, bestimmte Sprechakte, literarische Texte, persönliche Eigenheiten uns nahestehender Personen etc. bestimmten Kontexten und in Frage kommenden Intentionen zuzuordnen. Das geschieht weitgehend reflexhaft. Dennoch haben wir es bei der Verstehenshaltung mit einer Bewußtseinsleistung zu tun, mit Bildung, und nicht einfach nur mit Konditionierung.

Daß wir es bei Wahrnehmungs- und Verstehenshaltungen mit Handlungspotentialen zu tun haben, macht folgendes Zitat deutlich: „Was uns zunächst an einem realen Objekt bewusst wird, ist eigentlich aus separat verarbeiteten Komponenten (vom Wie zum Was) zusammengesetzt. Einen Löwen von einem Lamm unterschieden zu haben, heißt, dass jene Regionen im primären visuellen Kortex aktiv geworden sind, die spezifische Farben, Formen, Dimensionen und Bewegungen wahrgenommen haben. Gleichzeitig wurden damit jedoch schon einzelne Handlungsroutinen initialisiert – der erste Schritt dazu vorbereitet, ein Lamm zu streicheln oder vor einem Löwen zu flüchten, je nachdem, wie wir konditioniert wurden. Für ein Wort gilt Ähnliches: seine Klangfigur ruft zunächst jene neuronalen Strukturen wieder wach, die an der Herausbildung des mit ihm verbundenen Konzepts beteiligt waren – als die semantischen Informationen, die seinen Bedeutungshof ausmachen. Da diese Konzepte letztlich auf einem Wissen über die ‚reale Welt‘ basieren, wird auch jene Sensomotorik aktiviert, mit der wir auf sie reagieren können. Den Namen eines Werkzeuges nur zu hören – Experimente zeigen dies –, genügt, um bereits den primären motorischen Kortex zu aktivieren, der die damit verbundenen Handgriffe steuert.“ (Schrott 2011, S.64f.)

Als eine weitere Grundhaltung möchte ich hier die Denkhaltung nennen, denn im Denken haben wir es nie nur mit rein logischen, abstrakten Gedankengebilden zu tun. Vielmehr ist unser ganzer Körper über die Inhalte des Denkens, also über die Vorstellung, wie auch über deren innere Artikulation am Denken beteiligt: „Unsere auf Wörtern basierenden Gedanken (die aber nur einen Teil unseres Denkens darstellen) sind automatisch mit den motorischen Abläufen für ihre Artikulation verbunden.“ (Schrott 2011, S.65) – Über die Vorstellungen, die die Wörter in uns wachrufen, sind wir körperlich insofern am Denkprozeß beteiligt, als wir sie in einem inneren Wahrnehmungsraum lokalisieren (Kinästhetik), zum anderen dadurch, daß die Wörter selbst einen mal geringeren, mal höheren Grad an Aktivität suggerieren, auf den wir uns sensomotorisch einstellen: „Wie viel an Aktivität dabei durch einzelne Worte wachgerufen wird, hängt weniger von deren Komplexität ab, sondern davon, wie viel Bewegung ihre Bedeutung impliziert: eine Liste von aktiven Verben zu hören und zu lesen, produziert mehr potentielle Motorik als eine Liste von passiven Verben.“ (Schrott 2011, S.65)

Was für die Denkhaltung gilt, gilt natürlich auch für die Lesehaltung: „Was das Lesen trotz seiner Schnelligkeit zu solch einer vereinnahmenden Erfahrung macht, beruht also auch darauf, dass semantische Konzepte aktiviert werden, die Gefühle und unbewusste Bewegungsabläufe in Gang setzen ... Denn was uns beim Lesen primär ‚bewegt‘, sind eben jene körperlichen Erfahrungswerte, die wir mit Worten verbinden – jene konditionierten Assoziationen, die unsere Lebenserfahrung thematisch als Erinnerung abgespeichert hat. Wie tief das Psychische‘ dabei ins ‚Soma‘ des Körpers geht, zeigt sich daran, dass das periphere Nervensystem bis in die Milz, die Lymphknoten und ins Knochenmark reicht, in die für das Immunsystem wichtigen Organe. ... Dass das Lesen eines Textes zu einer dermaßen emotionalen Angelegenheit werden kann – im Gegensatz zur Analyse und Interpretation, die größerer geistiger Anstrengung und eines Bestands bedürfen –, hat mit dieser Art Psycho-Somatik zu tun. Es gelangen nämlich weit mehr Inputs vom limbischen System (wo Emotionen archiviert werden) hinauf in die Hirnrinde (wo sie evaluiert werden) als wieder herab.“ (Schrott 2011, S.66)

Der Hinweis auf das „‚Soma‘ des Körpers“ gibt mir gleich das nächste Stichwort, denn eine wesentliche Haltungskomponente bildet die Homoödynamik: „Unter diesem Gesichtspunkt sind Gefühle nichts anderes als in der Erinnerung gespeicherte körperliche Verhaltenswerte und Erfahrungszustände. Unser Gehirn verbindet hierbei erinnerte Emotionen und präsentische Gefühle (die gleichfalls letztlich homöostatischen Ursprungs sind) mit einem konzeptuellen Modell der Welt – zugleich aber auch mit fokussierten Sinneseindrücken sowie diffusen Wahrnehmungen am Rand. Es überblendet all dies simultan zum Eindruck eines geschlossenen, in sich einheitlichen Moments.“ (Schrott 2011, S.64) – Hier haben wir alle Elemente einer Haltung, die von bewußten „konzeptuellen Modellen der Welt“ hinabreichen bis in das Reich von Emotionen und Gefühlen als gespeicherten Verhaltens- und Erfahrungswerten. An dieser Stelle fehlt aber eine weitere Differenzierung zwischen Emotionen und Gefühlen, wie wir sie von Damasio kennen, die das von Schrott beschriebene Modell eines sich selbst beobachtenden Gehirns (vgl. Schrott 2011, S.370) um die Dimension eines auch seinen Körper beobachtenden Gehirns ergänzen könnte.

Desweiteren wäre hier die Sprechhaltung als eine weitere Grundhaltung zu nennen. Sie beinhaltet Elemente wie Prosodie und Intonation. (Vgl. Schrott 2011, S.287ff., 291, 295, 305ff., 315, 327f., 352 u.ö.) In der Prosodie und in der Intonation kommen beim Sprechen neben der expliziten Bedeutung implizite Bedeutungen zum Tragen, die mehr über die eigentlichen Intentionen des Sprechers ‚aussagen‘ als die Wörter selbst: „Eine gelungene Kommunikation bemisst sich deshalb auch daran, inwieweit unsere Körpersprache mit dem, was wir sagen übereinstimmt und eine rhythmische Einheit bildet.“ (Schrott 2011, S.315)

Und zum Schluß möchte ich hier noch die Erwartungshaltung nennen. Hierbei haben wir es mit einem Spannungsbogen zwischen dem zu tun, was wir auf routinierte Weise von Situationen und Texten erwarten können, und dem, was dieser Erwartungshaltung widerspricht und uns überrascht. Situationen und Texte sind für uns dann interessant und spannend, wenn sie uns im Rahmen dieser Erwartungshaltung weder über- noch unterfordern: „Der Wahrnehmungsprozess an sich hat etwas Stimulierendes – insofern als er sich auf Erwartungshaltungen bezieht. Werden diese auf vorhersehbare Weise eingelöst, langweilen wir uns schnell; werden sie jedoch auf bewältigbare Weise korrigiert, überrascht uns das angenehm.“ (Schrott 2011, S.133)

Ob diese verschiedenen Grundformen von Haltungen nun vollständig sind, will ich mich nicht festlegen. Auch hatte ich nicht die Absicht, mit den hier aufgezählten verschiedenen Grundhaltungen trennschafte Differenzierungen vorzunehmen. Vieles überschneidet und ‚überlappt‘ sich, wie es ja auch nicht verwunderlich ist, da uns diese Struktur des Überlappens und Überblendens in allen Bereichen der menschlichen Physiologie und des menschlichen Bewußtseins immer wieder begegnet. Aber was ich schon glaube zeigen zu können, ist, daß die Haltung ein komplexes Set von Wechselwirkungen zwischen Bewußtsein und Körper beinhaltet. Das Fundament dieser beständigen Wechselwirkungen bildet dabei die Gestaltwahrnehmung und das Sinnverstehen. Nur vermittelt über diese Bewußtseinsleistungen entsteht Haltung, – nicht durch Konditionierung.

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Raoul Schrott/Arthur Jacobs, Gehirn und Gedicht. Wie wir unsere Wirklichkeit konstruieren, München 2011

2. Methode
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    – Korrelation
    – Statistik
3. Zum Projekt einer Ästhesiologie des Geistes (Plessner)
4. Metaphern, Analogien und exzentrische Positionalität
5. Bewußtsein: Schaltkreise, Regelkreise und Netzwerke
6. Zum Konzept eines Kernselbsts (Damasio)
7. Haltungen
8. Gestaltwahrnehmung und Kategorien
9. Naivität und Kritik/Reflexion
10. Statistisches Verstehen von Sätzen und unmittelbares Verstehen von Metaphern
11. Reine Stimuli: die Sichtbarmachung von nur ungenau Geschautem
12. Regel und Regelbruch: Differenz von Sagen und Meinen
13. Poesie versus Narrativität
14. Genetisch vorprogrammiert? – Denkfiguren als Operationsmodi des Gehirns

Hatte ich im letzten Post vom Bewußtsein als dem Rätsel gesprochen, wie es das Gehirn schafft, die Zusammengehörigkeit derjenigen Nervenzellen zu identifizieren und zu interpretieren, die im gleichen Rhythmus feuern, so hat Antonio R. Damasio eine mögliche Antwort dieses Rätsels mit dem Konzept des Kernselbsts genauer ausformuliert. (Vgl. Antonio R. Damasio: Descartes’ Irrtum, Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn, Berlin 5/2007 (1994), S.144, 147, 223, 313, 318f., 322f., 342, und: ders., Ich fühle, also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstseins, Berlin 8/2009 (1999), S.30f., 204-235 u.ö.) Bei Schrott finden sich an verschiedenen Stellen Hinweise auf die neurophysiologischen Grundlagen eines solchen Kernselbsts. Damit meine ich seine Hinweise auf jenes kurze Zeitfenster unserer bewußten Aufmerksamkeit, das Schrott auch ganz ähnlich zu Damasios Kernselbst als „neuronalen Puls“ (Schrott 2011, S.371f.) umschreibt.

Dieser neuronale Puls fokussiert unsere Aufmerksamkeit auf ein Zeitfenster zwischen 200-300 Mikrosekunden (vgl. Schrott 2011, S.33 u.ö.) und 3-4 Sekunden (vgl. Schrott 2011, S.372), von Schrott auch als „Trägerwelle“ beschrieben, „die sich vom ‚Rauschen‘ abhebt“ (vgl. Schrott 2011, S.373). Das entspricht der Leistung des Kernselbsts bei Damasio als ‚Hervorheben‘ eines Objekts aus dem räumlichen und zeitlichen Kontext. (Vgl. Damasio 8/2009 (1999), S.205) Das macht auch gleich deutlich, daß das Kernselbst auf fundamentaler Ebene die Gestaltwahrnehmung organisiert.

Die von Schrott angesprochenen 200-300 Millisekunden bilden jedenfalls so etwas wie Bewußtseinsatome: unterhalb dieses Zeitraums verlaufen die ‚Bewußtseins‘-Prozesse unbewußt. In den „statistisch dominanten 3-Sekunden-Zyklus“ (Schrott 2011, S.372) passen also rein rechnerisch „4 bis 5 Informationseinheiten gleichzeitig“ (Schrott 2011, S.56). Das ist Schrott zufolge der Grund, warum es in allen Weltgegenden und in allen Sprachen „durchschnittlich zwischen 2 und 4 Sekunden“ braucht, „um einen Vers zu rezitieren“. (Vgl. Schrott 2011, S.S.372)

Doch zurück zu Damasios Kernselbst: Damasio beschreibt das Kernselbst als „ein flüchtiges Phänomen, das für jedes Objekt, mit dem das Gehirn interagiert, neu erschaffen wird“ (Damasio 8/2009 (1999), S.30). Es ist so eng mit den Objekten verknüpft, auf die hin es unsere Aufmerksamkeit fokussiert, daß diese Objekte den „Impuls“ bilden, der den fortdauernden, einen Bewußtseinsstrom erzeugenden „Pulsschlag“ des Kernselbsts „von Augenblick zu Augenblick“ initiiert. (Vgl. Damasio 8/2009 (1999), S.213 und Damasio 5/2007 (1994), S.144, 147, 313, 322, 342)

Damasio vergleicht diesen vom pulsierenden Kernselbst rhythmisch strukturierten Bewußtseins- bzw. Gedankenstrom auch mit einer Musik, die, „solange sie forttönt“, wir selbst sind (vgl. Damasio 8/2009 (1999), S.208f.); oder er beschreibt sie als einen „nichtsprachlichen Bericht“, der „dem gerade angelegten neuronalen Muster (innewohnt)“: „Vom Geschichtenerzählen bekommen Sie kaum etwas mit, weil die Vorstellungen, die die geistige Bühne beherrschen, jene sind, deren Sie  sich in diesem Augenblick bewusst sind – die Objekte, die Sie sehen oder hören –, und nicht jene, die flüchtig ihr Selbst-Gefühl im Akt des Erkennens wachrufen. Manchmal ist alles, was Sie bemerken, das Geflüster einer nachfolgenden sprachlichen Übersetzung, einer Schlussfolgerung, die sich aus dem Bericht ergibt: Ja, ich bin es, der sieht oder hört oder berührt. Doch obwohl dieser Wink nur halb erahnt ist, wenn das Geschichtenerzählen durch eine neurologische Erkrankung unterbrochen wird, dann wird auch Ihr Bewusstsein aufgehoben – und der Unterschied ist gewaltig.()“ (Damasio 8/2009 (1999), S.209)

Diese Leistung des Kernselbsts als „Trägerwelle“ (Schrott) bzw. als „Puls“ unseres Bewußtseinsstroms, wird nicht durch einen lokalisierbaren Arbeitsspeicher oder ein lokalisierbares Netzwerk von Schaltkreisen bewirkt. Vielmehr haben wir es mit einer „Gesamtheit“ von „Hirnmechanismen“ zu tun, „die fortwährend und unbewusst dafür sorgen, dass sich die Körperzustände in jenem schmalen Bereich relativer Stabilität bewegen, der zum Überleben erforderlich ist. Ständig repräsentieren diese Mechanismen – unbewusst – den Zustand des lebendigen Körpers in seinen vielen Dimensionen. Diesen Aktivitätszustand innerhalb der Gesamtheit der betreffenden Mechanismen bezeichne ich als Proto-Selbst, den unbewussten Vorläufer jener Stufen des Selbst, die in unserem Geist als bewusste Protagonisten des Bewusstseins in Erscheinung treten: Kernselbst und autobiografisches Selbst.“ (Damasio 8/2009 (1999), S.36)

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Mittwoch, 20. Juli 2011

Raoul Schrott/Arthur Jacobs, Gehirn und Gedicht. Wie wir unsere Wirklichkeit konstruieren, München 2011

2. Methode
    – Interdisziplinarität
    – Korrelation
    – Statistik
3. Zum Projekt einer Ästhesiologie des Geistes (Plessner)
4. Metaphern, Analogien und exzentrische Positionalität
5. Bewußtsein: Schaltkreise, Regelkreise und Netzwerke
6. Zum Konzept eines Kernselbsts (Damasio)
7. Haltungen
8. Gestaltwahrnehmung und Kategorien
9. Naivität und Kritik/Reflexion
10. Statistisches Verstehen von Sätzen und unmittelbares Verstehen von Metaphern
11. Reine Stimuli: die Sichtbarmachung von nur ungenau Geschautem
12. Regel und Regelbruch: Differenz von Sagen und Meinen
13. Poesie versus Narrativität
14. Genetisch vorprogrammiert? – Denkfiguren als Operationsmodi des Gehirns

Wenn ich hier in diesem Post von Bewußtsein auf der einen Seite und von Schaltkreisen, Regelkreisen, Prozessoren, Netzwerken und Arbeitsspeichern auf der anderen Seite spreche, so sollte nach den vorangegangenen Erläuterungen zu Metaphern und Analogien klar sein, daß wir auch hier keine wörtlich zu verstehenden Begriffe verwenden, sondern Metaphern: „Schon die Vorstellung, es gäbe im Gehirn ‚Schaltkreise‘ und für Sprache zuständige ‚Module‘ ... basiert auf einer Metapher. Sie entstammt der militärischen Elektrotechnik des Zweiten Weltkriegs ... Da es in unserem Hirn jedoch keine klar identifizierbaren Schaltkreise gibt, die Sprache derart lokal aktivieren würden wie auf einem Schaltbrett, scheint der Vergleich mit einem Netzwerk passender.“ (Schrott 2011, S.176)

Gerade im Sinne eines möglichen Nutzens jener zweiten Naivität, mit der wir produktiv auf Metaphern zurückgreifen, um sie als unverzichtbare Mittel unseres Erkenntnisprozesses zu nutzen, müssen wir uns dabei zugleich immer selbstkritisch bewußt bleiben, daß wir auch gar nicht anders können, als in Metaphern zu reden. Denn unsere Sprache funktioniert grundlegend nicht wortwörtlich im Sinne von 1:1-Zuschreibungen von Bedeutungen, sondern uneigentlich und ironisch (vgl. Schrott 2011, S.475), so wie schon Plessner zufolge die menschliche Expressivität Intentionalität nur dadurch zum Ausdruck bringen kann, daß sie sie in diesem Ausdruck verfehlt. Schrott kommt dieser anthropologischen Grundstruktur von Expressivität nahe, wenn er hinsichtlich der Umgangssprache festhält: „Der Unterschied zwischen der dichterischen und der Umgangssprache besteht allein darin, dass bei Letzterer die Metaphorik für unser Denken bereits konstitutiv geworden ist.“ (Schrott 2011, S.195) – Und was Schrott hier über die Umgangssprache schreibt, gilt letztlich auch für die wissenschaftliche Fachsprache, die trotz des 1:1-Formalismus ihrer Begriffe in einen allgemein-sprachlichen Kontext eingebettet ist, wenn diese Begriffe Sinn machen sollen.

Was nun den Versuch der Neurophysiologen betrifft, das Bewußtsein auf neuronale Schalt- und Regelkreise zurückzuführen, so könnte man sich durch die bisherige Vergeblichkeit dieser Versuche zu einer wiederum ironischen Definition des Bewußtseins veranlaßt sehen: ‚Bewußtsein‘ bezeichnet dann nichts anderes als das bislang ungelöst gebliebene Rätsel, wie es das Gehirn schafft, die Zusammengehörigkeit derjenigen Nervenzellen zu identifizieren und zu interpretieren, die im gleichen Rhythmus feuern: „Noch sind keine Gehirnpartien oder Netzwerke identifiziert, welche auf die anderswo synchron feuernden Neuronen selektiv reagieren.“ (Jacobs 2011, S.155) – Denn Jacobs’ auf dieses Problem folgende Annahme, daß vielleicht bereits das bloße synchrone Feuern ausreichen könnte, um sie als zusammengehörig zu klassifizieren, erscheint angesichts der überwältigenden Gesamtaktivität des Gehirns doch als etwas dürftig.

So bleibt zumindestens vorläufig – wie ich aber denke: auch prinzipiell – nichts anderes übrig, als sich damit zu begnügen, das Bewußtsein als ein Anforderungsprofil zu umschreiben, zu dem die passenden neuronalen Strukturen noch nicht gefunden worden sind. Diese müßten die Fähigkeit des Gehirns unterstützen, sich selbst zu beobachten und zu manipulieren: „Verbunden mit der Fähigkeit, sich selbst zu belohnen, ist der grundlegend reflexive Charakter kognitiver Prozesse. Sie kalibrieren sich innerhalb gewisser Grenzen quasi selber. Und es scheint, als besäßen wir – anders als ein Computer – die Fähigkeit, unsere Software in jene Hardware zu konvertieren, die aus den ‚Modulen‘ des Kurz- und Langzeitgedächtnisses besteht. So entsteht gewissermaßen die Schleife des Selbstreflexiven: jene Introspektion, die dann wieder die eigenen Operationen examiniert und beeinflusst. In diesem Sinne lässt sich unser Bewusstsein als antithetische Disparität zwischen dem Gehirn als Beobachter seiner Selbst und dem Gehirn als Objekt seiner Observationen definieren. Dieses Wissen um sich selbst – das sich in vielen Sprachen aus ein und derselben Wurzel ableitet: als Bewusstsein und Gewissen, als conscience und consciousness – zeigt das Verhältnis zwischen Selbst-Bewusstsein und Selbst-Belohnung auf.“ (Schrott 2011, S.370)

‚Vorläufig‘ – vorsichtig formuliert – stehen den Neurophysiologen nur die besagten Metaphern von Schaltkreisen, Regelkreisen, Netzwerken, Prozessoren und Arbeitsspeichern zur Verfügung. Diese Metaphern bringen zugleich an den Tag, daß die damit beschriebenen neuronalen Prozesse vor allem ein Manko aufweisen: über kein Zentrum zu verfügen: „Die Rede von ‚Sprachzentren‘ oder einem in jüngster Zeit identifizierten ‚Glaubenszentrum‘ trägt zu dieser Illusion bei – und sie gilt auch für die mentalen Phänomene aus den Bereichen der Poesie, Ästhetik und Rhetorik. All dies Netzwerken von Nervenzellen zuschreiben zu wollen, ist zumindest problematisch: komplexe Prozesse lassen sich eben nicht ohne weiteres auf einfache Reizsituationen reduzieren.“ (Schrott/Jacobs 2011, S.10)

Was es stattdessen gibt, sind „Relaisstationen“, die Nervenimpulse aus verschiedenen Regionen zusammenführen und weiterleiten (vgl. Schrott 2011, S.62), und Regelkreise oder Prozessoren, die die Aktivitäten verschiedener Hirnareale, z.B. die für Musik und Sprache, synchronisieren (vgl. Schrott 2011, S.327ff.): „So wie musikalische Impulse nicht nur von einem Zentrum, sondern von mehreren Arealen gleichzeitig prozessiert werden, überlappen sich auch die Schaltkreise von Musik und Sprache. Die Prosodie eines Verses wird eher in der rechten Gehirnhälfte aufgelöst, während das Erfassen seiner Aussage eher in der linken vor sich geht.“ (Schrott 2011, S.329)

Außerdem ist viel von ‚Arbeitsspeichern‘ die Rede, die als „Komputationsräume“ fungieren, um z.B. die vielen verschiedenen „syntaktische(n), semantische(n), kontextuelle(n), pragmatische(n) und emotionelle(n) Informationen zur Deckung (zu) bringen“, die wir bei der Konzeptionalisierung von Sätzen benötigen. (Vgl. Schrott 2011, S.356) Diese Arbeitsspeicher machen die enormen Mengen an Informationen und mentalen Konzepten erst „verschiebbar“ (vgl. Schrott 2011, S.45f.) und frei kombinierbar, indem sie „Spielräume des Denkens“ (Schrott 2011, S.86) eröffnen.

Wenn so ein Arbeitsspeicher, beispielsweise der dorsolaterale präfontale Kortex, „die von unterschiedlichen Gehirnregionen gelieferten Informationen über Objekt, Farbe, Form und Lage zu einem einheitlichen Ganzen“ zusammensetzt und so „analogiebildendes Denken“ ermöglicht (vgl. Schrott 2011, S.46), haben wir es unbezweifelbar mit einem Bewußtseinsprozeß zu tun. Aber bildet dieser Arbeitsspeicher deshalb schon ein Korrelat für das Bewußtsein?

Dem steht entgegen, daß dieses Bewußtsein aus mehr besteht, als aus der Fähigkeit, wohlgeformte Sätze zu generieren: „Wir denken nicht nur in Worten, nein: unser Bewusstsein resultiert zu etwa gleichen Teilen auch aus instinktiven Empfindungen wie Schmerz, Emotionen, unsymbolisierten Gedanken und mentalen Bildern. Dass sprachloses Denken möglich ist, ohne dass die Gedanken dabei zum Schweigen kommen, belegen pathologische Studien.“ (Schrott 2011, S.73) – Es gibt viele andere Relaisstationen und Regelkreise, die nur zum Teil genetisch vorprogrammiert, zu einem anderen erheblichen Teil aber erworben sind, durch bewußtes Lernen und Übung (vgl. Schrott 2011, S.273), aber auch einfach nur durch Gewöhnung.

Also ist auch das Bewußtsein global verteilt über die beiden Hemisphären des Gehirns, und es entsteht erst durch beständiges Überblenden der verschiedenen Regelkreise, ohne daß sich dabei ein koordinierendes Zentrum dingfest machen läßt. Als vernünftigstes (und einfachstes) Erklärungsmodell bietet sich auch hier wiederum Plessners exzentrische Positionalität an.

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Raoul Schrott/Arthur Jacobs, Gehirn und Gedicht. Wie wir unsere Wirklichkeit konstruieren, München 2011

2. Methode
    – Interdisziplinarität
    – Korrelation
    – Statistik
3. Zum Projekt einer Ästhesiologie des Geistes (Plessner)
4. Metaphern, Analogien und exzentrische Positionalität
5. Bewußtsein: Schaltkreise, Regelkreise und Netzwerke
6. Zum Konzept eines Kernselbsts (Damasio)
7. Haltungen
8. Gestaltwahrnehmung und Kategorien
9. Naivität und Kritik/Reflexion
10. Statistisches Verstehen von Sätzen und unmittelbares Verstehen von Metaphern
11. Reine Stimuli: die Sichtbarmachung von nur ungenau Geschautem
12. Regel und Regelbruch: Differenz von Sagen und Meinen
13. Poesie versus Narrativität
14. Genetisch vorprogrammiert? – Denkfiguren als Operationsmodi des Gehirns

Plessners exzentrische Positionalität basiert auf der Gegenüberstellung von Körper und Gehirn, dem Körperleib. Schrott entwickelt in „Gehirn und Gedicht“ neben der schon im Titel zum Ausdruck kommenden Gegenüberstellung weitere, das ganze Buch durchziehende Gegenüberstellungen, von denen die wichtigste die sowohl wahrnehmungspsychologische Strukturen wie kulturelle und rhetorische Techniken betreffende Gegenüberstellung von Figur und Grund ist: „Gestaltpsychologisch gesprochen erhalten Figur und Grund ... somit erst in der Gegenüberstellung ihre Konturen ...“ (Schrott 2011, S.203)

Wie schon im letzten Post angesprochen handelt es sich hierbei um Analogien zwischen optischen und figurativen Täuschungen. Schrott zählt insgesamt vier optische Täuschungen auf, die ihre Entsprechung auf der Ebene des Sprachverstehens (figurative Täuschungen) haben: Ambiguitäten (Kippfiguren und perspektivische Täuschungen), Verzerrungen (Stock im Wasser, Müller-Lyersche Täuschungen (gleich lange Linien, die durch zusätzliche Markierungen als unterschiedlich lang erscheinen)), Fiktionen (Gestaltillusionen beim Rorschach-Test, Auffüllen von Lücken beim Kaniza-Dreieck) und Paradoxa (M.C. Eschers unmögliche Welten, das unmögliche Dreieck). (Vgl. Schrott 2011, S.148f.) Sprachliche Analogien zu diesen optischen Täuschungen bilden Sätze wie „Jeder Mann liebt eine Frau“ (ambig): es könnte hier eine bestimmte Frau wie Helena gemeint sein oder einfach nur irgendeine Frau. – „Er ist Kilometer größer“: Übertreibung bzw. perspektivische Verzerrung. – „Im Rückschritt liegt der Fortschritt.“ (Paradox) – „Sie lebt in einem Spiegel“ (Fiktion): sprachliche Konstruktion einer virtuellen Welt. (Vgl. Jacobs 2011, S.157)

Alle diese Täuschungen beruhen auf Gestaltprinzipien: „1. Wir trennen eine Figur vom Grund. 2. Wir sehen jedes Reizmuster so, dass die resultierende Struktur so einfach wie möglich ist (Gesetz der guten Gestalt). 3. Ähnliche oder nahe Dinge erscheinen uns zu Gruppen geordnet (Gesetz der Ähnlichkeit und der Nähe). 4. Wir tendieren dazu, Punkte auf direktestem Weg zu Linien zu verbinden (Gesetz der fortgesetzt durchgehenden Linie). 5. Dinge, die sich in die gleiche Richtung bewegen, erscheinen uns zusammengehörig (Gesetz des gemeinsamen Schicksals).“ (Schrott 2011, S.483) – Sowohl auf der Wahrnehmungsebene wie auch auf der Ebene des Sprachverstehens vervollständigen wir deshalb einzelne Sinneseindrücke wie z.B. gleichfarbige, sich in die gleiche Richtung bewegende Flecken im Gebüsch zu einem Löwen (vgl. Schrott 2011, S.130) oder bestimmte Redefiguren wie z.B. Metalepsen, die einzelne Argumentationsschritte überspringen, zu einer wohlgeformten, schlüssigen Logik, der wir uns beugen, ohne den impliziten Betrug zu bemerken. (Vgl. Schrott 2011, S.452)

Mit perspektivischen Verzerrungen, Auslassungen und insbesondere Gegenüberstellungen von Strukturen und Figuren arbeiten insbesondere Metaphern und Analogien. Um die verschiedenen stilistischen Elemente, die Schrott insgesamt unter dem Sammelnamen Metapher/Analogie zusammenfaßt, zu unterscheiden, schlägt er vor, eine Skalierung vorzunehmen, „die vom empirisch Überprüfbaren zum nur subjektiv Nachvollziehbaren führt:
  1. Eigenschaften von A gehören auch B an. (Synekdoche: pars pro toto – DZ)
  2. Eigenschaften von A hängen von B ab. (Metonymie – DZ)
  3. Eigenschaften von A verhalten sich zueinander wie Eigenschaften von B zueinander. (Analogie – DZ)
  4. Einzelne Eigenschaften von A sehen aus wie B. (Simile – DZ)
  5. A ist nicht B; aber da ist etwas an A, das an B erinnert (ohne dass es sich anders sagen lässt.)“ (Metapher – DZ (Schrott 2011, S.193))
Für diesen Post ist hier am interessantesten, wie Schrott den Unterschied zwischen Simile und Metapher begründet. (Vgl. Schrott 2011, S.193f.) Der zunächst nur rein äußerliche, nicht inhaltlich bestimmte Unterschied besteht vor allem darin, daß man bei einem Simile ein ‚wie‘ einfügt: „Julia ist wie die Sonne.“ Verzichtet man auf das ‚wie‘, haben wir eine Metapher. Aber dieser zunächst nur rein äußerliche Unterschied hat nun einen erstaunlichen Effekt: Benutzen wir nämlich das ‚wie‘, verhalten wir uns Julia (A) und der Sonne (B) gegenüber wie Beobachter, die zwei nebeneinandergestellte Objekte von außen betrachten. Verzichten wir aber auf das ‚wie‘, werden die beiden miteinander verglichenen Objekte A und B überblendet und sie erhalten eine räumliche Tiefenschärfe, in deren Mitte wir uns nun versetzt fühlen: „Statt A und B (wie beim Simile – DZ) perspektivische Linien zu verleihen, an denen gemeinsame Ähnlichkeiten augenfällig werden, vereinnahmt das absolut gesetzte Ist-Gleich der Metapher den Betrachter: statt von außen, besieht er sie gleichsam von innen; und um ihren Sinn zu erkennen, muss er sich in die durch sie geschaffene Welt stellen.“ (Schrott 2011, S.203)

Hier entsteht etwas, das Plessner die Doppelaspektivität von Innen und Außen nennt. Wir sind beim Verstehen einer Metapher gleichzeitig Mitte und Peripherie. Mit der Metapher eröffnet sich so etwas wie ein „dreidimensionaler Denkraum“ (vgl. Schrott 2011, S.196): „So konstruieren wir quasi zwischen A und B einen psychisch fühlbaren, dreidimensionalen Raum; wir entwerfen von den beiden Begriffspolen aus – über die Längen- und Breitenkreise der mit ihnen assoziierten Konzepte – ein in sich geschlossenes Universum, in dessen Mitte wir uns selbst sehen.“ (Schrott 2011, S.197)

Das ist an sich schon eine interessante Parallele zu Plessners exzentrischer Positionalität. Noch interessanter wird es aber für mich, wenn Schrott feststellt, daß die Metapher „eine Art optischer Täuschung“ darstellt, „durch die wir paradoxerweise die reale Welt besser erkennen.“ (Vgl. Schrott 2011, S.200) – Diesen Gedanken, daß Täuschungen nicht unbedingt ein Erkenntnishindernis darstellen müssen, sondern sogar ein Erkenntnismittel sein können, habe ich in meinem Post zu Günther Anders (vom 24.01.2011) mit meinen Überlegungen zur zweiten Naivität verbunden. Schrott meint mit seiner ‚paradoxen‘ Überlegung, daß im Unterschied zur optischen Täuschung die figurative Täuschung der Metapher Sachverhalte zum Ausdruck bringen hilft, die durch wörtliche Rede nicht erfaßt werden können: „... denn ihre Bilder wollen ja das nur ungenau Geschaute sichtbar werden lassen und dem Überhörten zur Sprache verhelfen.“ (S.260) – Jenes ungenau Geschaute nämlich, das durch genaueres Hinsehen nicht etwa deutlicher wird, sondern im Gegenteil ganz aus unserem Blickfeld verschwindet.

Dazu gehört natürlich, daß wir das Verwenden von Metaphern kontrollieren und wir uns nicht durch rhetorische Tricks am Gebrauch unseres Verstandes hindern lassen. So hatte ich auch die zweite Naivität verstanden, die sich als kontrollierte Naivität über die erste, unkontrollierte Naivität erhebt.

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Dienstag, 19. Juli 2011

Raoul Schrott/Arthur Jacobs, Gehirn und Gedicht. Wie wir unsere Wirklichkeit konstruieren, München 2011

2. Methode
    – Interdisziplinarität
    – Korrelation
    – Statistik
3. Zum Projekt einer Ästhesiologie des Geistes (Plessner)
4. Metaphern, Analogien und exzentrische Positionalität
5. Bewußtsein: Schaltkreise, Regelkreise und Netzwerke
6. Zum Konzept eines Kernselbsts (Damasio)
7. Haltungen
8. Gestaltwahrnehmung und Kategorien
9. Naivität und Kritik/Reflexion
10. Statistisches Verstehen von Sätzen und unmittelbares Verstehen von Metaphern
11. Reine Stimuli: die Sichtbarmachung von nur ungenau Geschautem
12. Regel und Regelbruch: Differenz von Sagen und Meinen
13. Poesie versus Narrativität
14. Genetisch vorprogrammiert? – Denkfiguren als Operationsmodi des Gehirns

Wenn Jacobs sich an einer Stelle auf Wolfgang Köhlers „psychophysischen Isomorphismus“ (1938) bezieht und diesen als eine Hypothese beschreibt, „der zufolge strukturelle Eigenschaften zentralnervöser Prozesse identisch sind mit den strukturellen Eigenschaften der ihnen entsprechenden psychologischen Tatsachen“ (vgl. Jacobs 2011, S.153), dann haben wir es hier mit einer Thematik zu tun, die dem Projekt einer Ästhesiologie des Geistes entspricht, wie es Plessner konzipiert hat (vgl. meine Posts vom 14. und 15.07.2010).

Der Grundgedanke der Plessnerschen Ästhesiologie besteht darin, daß das menschliche Bewußtsein ein Sinnganzes bildet, das auch den menschlichen Organismus und seine Sinne umfaßt. Diese Einheit wird von Plessner als eine analoge Gliederung dreier verschiedener Ebenen beschrieben: der Physiologie der Sinnesorgane, der psychischen Befindlichkeit und der geistigen Artikulation. Zwischen diesen drei Ebenen gibt es eine durchgängige Korrespondenz bzw. „Akkordanz“. Mit Hilfe der Sprache als wiederum einer Einheit aus artifiziellen (Zeichenfunktion) wie natürlichen (Ausdrucksfunktion) Prozessen sind wir Plessner zufolge in der Lage, unsere körperlich-leiblichen Erregungszustände und unsere seelische Befindlichkeit als Einheit einer geistigen Person zu integrieren.

Weder bei Köhler noch bei Plessner wird gesagt, daß die sinnesphysiologischen bzw. zentralnervösen Prozesse mit psychologischen bzw. geistigen Prozessen identisch sind. Mit Bezug auf Köhler ist z.B. nur davon die Rede, daß deren strukturellen Eigenschaften identisch sind. Wir haben es also bei dieser Identitätsbehauptung lediglich mit einer Analogiebeziehung zu tun, bei der Physiologie und Psyche sich strukturell decken (überlappen). Mit diesem Konzept arbeitet auch Plessner in seiner Ästhesiologie des Geistes, wenn er Strukturen der Sinnesphysiologie, der Psyche und des Geistes auf analoge Weise gliedert und übereinanderblendet.

In diesem Verfahren der Überlappung bzw. Überblendung analoger Strukturen auf neurophysiologischer, sinnesphysiologischer, psychosomatischer und Bewußtseinsebene besteht nun die eigentliche Parallele zwischen Plessner und Schrott/Jacobs. Das zeigt sich beispielhaft an Schrotts und Jacobs Vergleichen zwischen optischen und figurativen Täuschungen. (Vgl. Schrott 2011, S.145-150 u.ö.) Mit den optischen Täuschungen befinden wir uns auf der Ebene der Sinneswahrnehmungen im engeren Sinne, in diesem Fall den Gesichtssinn betreffend, und mit den figurativen Täuschungen befinden wir uns auf der Ebene des Bewußtseins, insbesondere dem Sprachbewußtsein im engeren Sinne.

Beide Täuschungsformen eint das Gestaltprinzip, über das sie miteinander vergleichbar werden. Um Rubins Kippbild, eine weiße Figur auf schwarzem Hintergrund, mal als Vase und mal als zwei einander zugewandte Gesichter im Profil wahrnehmen zu können, müssen sie sich allererst in meinem Bewußtsein zu einer Gestalt formen können. Das Gleiche gilt für das Verstehen von Wörtern: um eine Bank mal als ‚Sitzgelegenheit‘, mal als ‚Geldinstitut‘ zu verstehen, müssen sie sich zuvor in meinem Bewußtsein als mögliche, in Frage kommende Bedeutungen konstituiert haben.

Die optische Gestalt eines Wahrnehmungsgegenstandes und die Sinngestalt eines Wortes ergeben sich also aus ähnlichen (analogen) Strukturen, denen wiederum die gleichen neurophysiologischen Prozesse zugrundeliegen, die wiederum eng mit Motorik und Sensomotorik vernetzt sind: „Dass sich diese optischen Täuschungen mit diversen rhetorischen Figuren abgleichen lassen, mag evolutionsbiologisch daher rühren, dass Sprache nicht nur von den neuroanatomischen Regionen gesteuert wird, die ursprünglich die Motorik von Arm- und Handbewegungen kontrollierten, um auf dieser Grundlage später Syntax herauszubilden. Auch die Gehirnmodule, die einmal nur für die perzeptionelle Klassifizierung von Objekten zuständig waren, um sie in kombinierbare Geone umzuwandeln, könnten für unsere Semantik rekrutiert worden sein. Das ist Spekulation – unbestreitbar jedoch ist das neuronale Zusammenwirken visueller, sensomotorischer und linguistischer Areale.“ (Schrott 2011, S.149f.)

Dieses im Evolutionsprozeß und in der individuellen Ontogenese ständig stattfindende Umfunktionieren körperlicher Organe und neurophysiologischer Prozesse sowie biologisch wie kulturell bedingter Verhaltensweisen (vom Spuren lesen zum Schriften lesen), das sich Überlagern wie Sedimentieren älterer wie neuerer Funktionen und Mechanismen auf körperlicher wie geistiger Ebene bis hin zum Überlappen bzw. Überblenden vorhandener Strukturen auf anatomischer, neurophysiologischer wie mentaler Ebene zu neuen Funktionszusammenhängen und Gestalten möchte ich gerne im Plessnerschen Sinne als exzentrische Positionalität interpretieren. Diese hat nach wie vor im Körperleib ihr Urprinzip, also in der Gegenüberstellung von Körper und Gehirn. Aber diese Gegenüberstellung findet sich schon in unserem zentralnervösen Organ selbst, nämlich als Gegenüberstellung von rechter und linker Hemisphäre, die ihre verschiedenen arbeitsteiligen Funktionen zu neuen Gestalten zusammenfügen, etwa beim Lesen eines Textes, dessen Wörter und Sätze wir analysieren (linke Hemisphäre) und dessen Bedeutung wir realisieren (rechte Hemisphäre), und beides in einem einzigen Akt des Sinnverstehens.

Dieses Prinzip des Überblendens verschiedener Strukturen zu einem neuen Ganzen setzt sich fort auf der neurophysiologischen Ebene von Schaltkreisen und Netzwerken, die sich global verteilt in den verschiedenen Arealen und Schichten des Gehirns zu neuen gemeinsamen Funktionen zusammenfügen und überlappen. Dieses zentralnervöse Verfahren des beständigen Zusammenschaltens, Überblendens und Aufeinanderbeziehens global voneinander getrennter Schaltkreise und Netzwerke führt Schrott zufolge zu Schleifen der Selbstreflexion, die das Gehirn zum „Beobachter seiner Selbst“ werden lassen (vgl. Schrott 2011, S.370)), – eine Formulierung, die an Damasios Als-ob-Körperschleifen erinnert, ohne allerdings die bei Damasio und Plessner thematisierte Gegenüberstellung von Gehirn und Körper explizit miteinzubeziehen.

Dennoch haben wir es hier ganz offensichtlich mit neurophysiologischen Mechanismen zu tun, die zur exzentrischen Positionalität des Menschen funktional sind. Ich halte es deshalb für durchaus möglich und auch für sinnvoll, das von Schrott und Jacobs mit „Gehirn und Gedicht“ angestoßene interdisziplinäre Projekt zu einer Ästhesiologie des Geistes zu erweitern und es – wie Plessner schreibt – „über das ganze Gebiet menschlicher Tätigkeit“ auszudehnen. (Vgl. Einheit der Sinne, S.295)

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Raoul Schrott/Arthur Jacobs, Gehirn und Gedicht. Wie wir unsere Wirklichkeit konstruieren, München 2011

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3. Zum Projekt einer Ästhesiologie des Geistes (Plessner)
4. Metaphern, Analogien und exzentrische Positionalität
5. Bewußtsein: Schaltkreise, Regelkreise und Netzwerke
6. Zum Konzept eines Kernselbsts (Damasio)
7. Haltungen
8. Gestaltwahrnehmung und Kategorien
9. Naivität und Kritik/Reflexion
10. Statistisches Verstehen von Sätzen und unmittelbares Verstehen von Metaphern
11. Reine Stimuli: die Sichtbarmachung von nur ungenau Geschautem
12. Regel und Regelbruch: Differenz von Sagen und Meinen
13. Poesie versus Narrativität
14. Genetisch vorprogrammiert? – Denkfiguren als Operationsmodi des Gehirns

Die bei der Beobachtung von Hirnaktivitäten von den verschiedenen nichtinvasiven Methoden gelieferten Daten beruhen vor allem auf statistischen Berechnungen. So weit ich es mit meinem mathematisch ungeschulten Verstand beurteilen kann, haben wir es dabei vor allem mit zwei Formen der Statistik zu tun, – zumindestens subsumiere ich diese beiden mathematischen Gebiete unter die Statistik, auch wenn das fachlich vielleicht nicht ganz korrekt ist. Gemeint sind die Wahrscheinlichkeitsrechnung und die vergleichende Korrelation von verschiedenen, willkürlich zusammengestellten Mengen zwecks Feststellung, ob sich so signifikante Zusammenhänge sichtbar machen lassen.

Solche ‚Mengen‘ können einerseits Häufigkeiten sein, wie z.B. das Feuern von Neuronen und Neuronengruppen, und andererseits können es Bewußtseinsphänomene sein, etwa subjektive Erlebnisse und Wahrnehmungen, oder auch Haltungen und Verhaltensweisen, etwa einfache Denkprozesse, situationsbezogene Vorstellungen etc. Komplexeres Verhalten in realen sozialen Situationen begleitende Hirnaktivitäten lassen sich mit den umständlichen Apparaturen, die den Neurophysiologen bislang zur Verfügung stehen, noch nicht beobachten.

Die neurophysiologischen Erkenntnisse, die sich so gewinnen lassen, beruhen also unabhängig von den verwendeten Apparaturen vor allem auf der Interpretation von statistisch erworbenen Daten. Nicht umsonst hält Jacobs fest, daß man auf diesem Weg bestenfalls zu ‚Kausalnarrationen‘ gelangen kann. (Vgl. Jacobs 2011, S.25) Mit den auf harten Fakten zurückzuführenden Kausalgesetzlichkeiten der klassischen Naturwissenschaften hat das nicht mehr viel zu tun. Daten sind keine Fakten! Daten werden im Unterschied zu Fakten überhaupt erst dann zu Daten, wenn sie interpretiert werden! Ohne Interpretation haben wir es noch nicht einmal mit Daten zu tun. Das gilt schon für die Phase, in der wir Daten sammeln. Denn um Daten sammeln zu können, müssen wir schon eine ungefähre Vorstellung, also eine mögliche Interpretation davon haben, was wir da gerade sammeln. Und das gilt erst recht für die Phase, in der wir die Daten auswerten. Erst in der Auswertung – also wiederum durch die Interpretation – wird durch die Daten etwas sichtbar, das unser Wissen über bestimmte Zusammenhänge erweitern könnte.

Nicht von ungefähr sprechen Schrott und Jacobs von einem „Blindenstock“ (vgl. Schrott/Jacobs 2011, S.9), mit dem wir – um diese Metapher auszubauen – in eine bestimmte Richtung stochern, in der Hoffnung auf eine Bordsteinkante zu stoßen oder auf eine Tür, oder was auch immer sich nach unserer Erwartung auf diesem Weg finden sollte und uns bestätigen könnte, daß wir nicht in die Irre gehen. Statistiken leisten also vor allem eines: sie machen sichtbar, was wir auf anderem Wege nicht in den Blick bekommen können. Meistens haben wir es dabei mit überkomplexen Situationen zu tun oder mit riesigen Zahlenverhältnissen – wenn z.B. moderne Scanner Nervenaktivitäten an 100.000 Orten im Gehirn gleichzeitig messen –, die unseren einfachen Menschenverstand überfordern.

Es sollte also für jeden Forscher selbstverständlich sein, daß er es beim Umgang mit statistisch erhobenen Daten nicht mit der Wirklichkeit zu tun hat, sondern mit Interpretationen von Zahlenverhältnissen. Statistik ist also zwar eine Forschungsmethode aber kein Naturprozeß! Sie ist nicht das Faktum selbst, – nicht einmal eine Interpretation eines Faktums. Sie ist lediglich die Interpretation eines Datums.

Wenn Schrott an einer Stelle dennoch von „harten statistischen Fakten“ spricht (vgl. Schrott 2011, S.270), so haben wir es hier mit einem Oxymoron zu tun. Die Wörter ‚hart‘, ‚statistisch‘ und ‚Fakten‘ zu einem Begriff zusammenzufügen, ist etwa so sinnvoll wie das berüchtigte hölzerne Eisen.

Noch an anderen Stellen habe ich Probleme mit Schrotts und Jacobs Umgang mit der Statistik, auf die ich dann aber noch in einem der folgenden Posts eingehen werde. Für jetzt will ich nur kurz darauf verweisen, daß ich es für falsch halte, das kindliche Erlernen der Sprache, insbesondere der Syntax, auf eine statistische Methode zurückzuführen. (Vgl. Schrott 2011, S.181) Denn Statistik ist nicht nur kein Naturprozeß, – sie ist auch kein Bewußtseinsprozeß. Sie hat allererst gewisse fundamentale Bewußtseinsprozesse zur Voraussetzung, Bewußtseinsprozesse, die auch dem Sprechenlernen zugrundeliegen. Ich meine hier generell die Gestaltwahrnehmung und beim Sprechenlernen insbesondere das Verstehen von Bedeutungen und von Sinn.

Keine Statistik funktioniert ohne Kategorienbildung und – wie ebenfalls in den folgenden Posts noch zu zeigen sein wird – Kategorienbildung beruht auf der Fähigkeit zur Gestaltwahrnehmung. Erst wo wir Ähnlichkeiten zwischen Dingen und Intentionen erkennen und verstehen, können wir sie Mengen zuordnen, die wir dann vergleichen können. Und nur aufgrund der Ähnlichkeit von Kausalverhältnissen, Intentionen und Situationen, können wir Erwartungshaltungen herausbilden hinsichtlich dessen, welche Wörter in einem beim Sprechen oder Lesen sich formenden Satz wahrscheinlich noch folgen werden, so daß das sprechenlernende Kind erste rudimentäre Vorstellungen von einer Syntax entwickeln kann.

Das kann man natürlich als statistische Methode bezeichnen, die das Kind beim Sprechenlernen anwendet. Dabei übersieht man aber die eigentliche Bewußtseinsleistung, die diesem Lernprozeß zugrunde liegt. Bei aller anerkennenswerten Interdisziplinarität, die Schrott und Jacobs in „Gehirn und Gedicht“ zeigen, wird hier doch eine Gefahr deutlich, die sich gerade in interdisziplinären Untersuchungen verbirgt: der unbedachte Umgang mit verschiedenen Methoden, hier z.B. insbesondere Phänomenologie, Hermeneutik und Statistik. Die Phänomenologie eignet sich am besten, um unmittelbare, subjektive Erlebnisse zu beschreiben; die Hermeneutik eignet sich am besten, um mittelbare Kontexte zu beschreiben; und die Statistik eignet sich am besten, um Zusammenhänge dort sichtbar zu machen, wo sie sich dem einfachen menschlichen Verstand prinzipiell entziehen. Der Verschiedenheit dieser Methoden müssen wir uns immer bewußt sein, um unberechtigte, in die Bereiche des Bewußtseins hineinreichende Kausalnarrationen zu vermeiden.

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