„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 2. Juni 2011

Sönke Neitzel/Harald Welzer, Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben, Frankfurt a.M. 5/2011

1.  Rückblick auf de Waal
2.  Methode
3.  Referenzrahmen, Rollenerwartungen und Lebenswelt
4.  Rollenerwartungen und Arbeitsteilung
5.  Mentalitäten, Eigenschaften und Ideologien
6. Wertewandel und shifting baselines
7. Gruppendenken und Pfadabhängigkeiten
8. „Drittes Reich“ und Differenz
9. Zur Bedeutung individuellen Urteilens und Handelns

Bei Plessner ist das menschliche Verhalten eine ganzheitliche Ausdrucksform der Person: „Menschliches Verhalten in der Fülle seiner Möglichkeiten läßt sich nicht unter einem Teilaspekt begreifen.“ (Stufen, S.XVIII) – Nach Plessner hat das menschliche Verhalten bei der Untersuchung aller menschlichen Phänomene von der Physiologie bis zum Bewußtsein Priorität, so daß z.B. neurophysiologische Prozesse nicht das Verhalten erklären, sondern umgekehrt das menschliche Verhalten die neurophysiologischen Prozesse: „Nur das Verhalten erklärt den Körper, nur die dem Menschen nach seiner Auffassung und Zielsetzung vorbehaltenen Arten des Verhaltens, Sprechen, Handeln, Gestalten, Lachen und Weinen, machen den menschlichen Körper verständlich, vervollständigen seine Anatomie.“ (Lachen/Weinen, S.11)

In dem Wort steckt ‚Haltung‘, und Haltung ist ein vom menschlichen Bewußtsein zugelassenes (passives) oder angebahntes (aktives) individuelles Gleichgewicht (Homöodynamik) aus unbewußt physiologischen und bewußt intentionalen Handlungspotentialen, die unsere individuelle Urteilskraft und unser individuelles Handeln unterstützen oder behindern.

Schon Plessner hatte allerdings bei seiner Grenzbestimmung von Gemeinschaft und Gesellschaft den Begriff der „Maske“ eingeführt. Die spezifisch menschliche Expressivität als Doppelaspektivität von Innen und Außen beinhaltet nämlich, daß Denken und Handeln keine Einheit bilden oder bilden müssen. Für das menschliche Verhalten in der Gesellschaft bedeutet das, daß wir hier einen Spielraum zur Verfügung haben, in dem wir sein können, was wir nicht sind, – in dem wir so tun als ob. Dieser Spielraum ermöglicht ein seelisches Wachstum, das die Intimität und Enge der Gemeinschaft verwehrt.

Allerdings beinhaltet diese prinzipielle Grenzbestimmung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft ein wechselseitiges Ausschlußverhältnis: wo Gemeinschaft ist, kann keine Gesellschaft sein, und wo Gesellschaft ist, kann keine Gemeinschaft sein. Es gibt bei Plessner kein Kontinuum des Übergangs zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft, sondern nur den ‚heroischen‘ Sprung über eine Kluft hinweg. Nicht umsonst unterscheidet Plessner zwischen dem Durchschnittsmenschen, der immer der Gemeinschaft verhaftet bleibt, und dem Gesellschaftsheroen, der die Belastungen der arbeitsteiligen Moderne auf sich nimmt und verantwortet. (Vgl. Grenzen, S.38f.)

Dennoch bildet der Mensch auch in seiner exzentrischen Positionalität ein Ganzes aus Körper, Seele und Geist, und das soziale Leben, das er führt, die Lebenswelt, besteht zu gleichen Anteilen aus Gemeinschaft und Gesellschaft. Wie kann es also sein, daß er entweder Gemeinschaftsmensch ist oder Gesellschaftsmensch? Dieses Entweder/Oder kann nicht funktionieren. Es muß ein Übergangskontinuum geben – und sogar nicht nur eins, sondern viele Übergangskontinuen! –, die es ihm ermöglichen beides zugleich zu sein. Gerade Plessners Begriff der Maske bietet sich an, um die Funktionsweise dieser Übergangskontinuen zu erklären. Denn ‚Maske‘ meint ja letztlich nichts anderes als ‚Rolle‘.

Rollen wieder sind letztlich nichts anderes als das individuelle Verhaltensmoment, das der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung von Funktionen, kurz: der Arbeitsteilung entspricht. Zugleich sind Rollen ein wichtiges Element des Gruppenverhaltens, also von Gemeinschaften. Sie bilden also in der Tat „eine mittlere Ebene zwischen den kulturellen Bindungen und Verpflichtungen und den gruppenspezifischen und individuellen Deutungen und Handlungen“ (Neitzel/Welzer 5/2011, S.30). Sie bilden außerdem ein wesentliches Moment der institutionellen und mentalen Infrastruktur einer Gesellschaft: „Gesellschaften basieren nicht nur auf dem, was irgendwann als Quellen für Historiker lesbar wird, sondern auch aus materiellen, institutionellen und mentalen Infrastrukturen, also aus Dingen wie Fabriken, Straßen und Abwässersystemen ebenso wie aus Schulen, Behörden und Gerichten und – was häufig übersehen wird – aus Traditionen, Gewohnheiten und Deutungsmustern. Alle drei Typen von Infrastrukturen bilden die für selbstverständlich gehaltene Welt.“ (Neitzel/Welzer 5/2011, S.50)

Auf gemeinschaftlicher Ebene bleibt diese Arbeitsteilung unterschiedlicher Rollenerwartungen (in Form von Verwandtschaftsverhältnissen in der Familie: Vater, Mutter, Tochter, Sohn, Grußmutter, Großvater etc.) übersichtlich und berechenbar.„Rollenüberlagerungen“ (Neitzel/Welzer 5/2011, S.32f.), bei denen z.B. dieselbe Person zugleich die Rolle der ‚Tochter‘ in der einen Generation und die Rolle der ‚Mutter‘ in der nächsten Generation innehaben kann, bleiben kontrollierbar.

Die gesellschaftliche Arbeitsteilung kann nun aber zu völlig absurden, sogar tödlichen Rollenüberlagerungen führen, z.B. im „Dritten Reich“, wo Sekretärinnen beim Aussortieren von Personalakten über Leben oder Tod von Menschen entscheiden. (Vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.32f.) Oder wenn im Krieg ansonsten ‚harmlose‘ wirtschaftliche Produktionszweige zum Teil einer militärischen Waffenproduktion werden, so daß die Arbeiter, die bis dahin ihre ‚Rolle‘ als Arbeitnehmer mit gutem Gewissen mit-‚spielten‘, plötzlich an der Vernichtung von Menschenleben beteiligt werden. (Vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.33)

Aber genau genommen gilt das nicht nur für solche Ausnahmesituationen. Wir hatten schon bei Günther Anders gesehen, wie die Konsumenten aufgrund der Arbeitsteilung einerseits selbst hinter ihrem Rücken an der Produktion des Massenkonsumenten mitbeteiligt sind und wie andererseits die Atombombe der Arbeit die Unschuld geraubt hat, die Arbeit durch und durch moralisch verdorben hat, weil wir alle an ihrer Produktion beteiligt sind. Kurz: die Arbeitsteilung läßt niemanden ‚unbeteiligt‘.

Das ist aber nun genau der Grund, warum die individuelle Verantwortung nicht mehr gefühlt wird. Sie ist einfach nicht mehr sichtbar. Weil die spezifischen Rollen, die wir im Rahmen der arbeitsteiligen Prozesse ‚spielen‘, nur noch partikular sind, ist letztlich auch unsere Verantwortung partikular. Und in historischen Ausnahmezeiten wie dem „Dritten Reich“ und dem „Krieg“ können nun die gesellschaftlichen Funktionszweige und die wirtschaftlichen Produktionszweige beliebig auseinandergenommen und den militärischen Zwecken entsprechend neu zusammengefügt werden, so daß die verschiedenen Rollenspieler mit ihrer ‚Arbeit‘ ganz neuen Zwecken zuarbeiten, ohne daß sich an ihrer Lebenswelt irgendetwas ändert: „Gesellschaftliche Funktionszusammenhänge und Institutionen sind Speicher von Potentialen,() und das gilt im Besonderen, wenn sich diese im Krieg befinden.“ (Vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.411) – ‚Potentiale‘ heißt hier: die in den Institutionen und Betrieben organisierten Funktions- und Arbeitssteinchen lassen sich problemlos zu einem neuen Mosaik zusammenfügen, ohne daß die einzelnen ‚Steinchen‘ irgendetwas davon merken.

Das einzelne Individuum braucht zu dieser Neuorganisation keinerlei psychischen Aufwand zu leisten: „Genau deshalb bedarf es keines tiefgreifenden psychischen Umbaus, auch keiner Selbstüberwindung oder Sozialisation zum Töten, wenn Krieg ist: Dann hat sich lediglich der Zusammenhang verschoben, in dem man tut, was man ohnehin tut.“ (Neitzel/Welzer 5/2011, S.412) – Denn der Krieg selbst, als arbeitsteiliger Prozeß, wird als Arbeit wahrgenommen.

Wenn man von Rollen spricht, muß man auch von Arbeitsteilung sprechen und auch von Gruppendynamiken. An dieser Stelle macht es einfach keinen Sinn mehr, rigoros zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft zu unterscheiden, als gäbe es keinen Übergangsbereich. Gruppendynamiken beeinflussen gesellschaftliche Prozesse, und umgekehrt können gesellschaftliche Veränderungen bewußt durch Nutzung von Gruppendynamiken angebahnt und herbeigeführt werden. Der Ort, wo diese Prozesse ausgetragen werden, ist aber immer das Individuum, und deshalb ist es so wichtig, die Freiheit zu bestimmen, die in diesem Rahmen seinem Urteilen und Handeln bleibt.

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