„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 19. Mai 2011

Frans de Waal, Das Prinzip Empathie. Was wir von der Natur für eine bessere Gesellschaft lernen können, München 2011 (2009)

1.    Forschungsmethoden
2.    Die Natur des Menschen
    a)    Merkmale, Ursprungsmythen und Prinzipien
    b)    Egoismus und Selbst
    c)    Die russische Puppe (Schichtenmodell)
3.    Haltung und Empathie
    a)    Verkörperte Kognition
    b)    Der zweiteilige Prozeß
    c)    Der Abschaltknopf
4.    Unbeteiligte Perspektivenübernahme
5.    Ko-Emergenz-Hypothese

De Waal bezeichnet Empathie als einen automatischen Prozeß, auf den wir bewußt nur einen geringen Einfluß haben: „Empathie ist eine automatische Reaktion, auf die wir nur begrenzten Einfluss haben. Wir können sie unterdrücken, intellektuell abwehren oder nicht nach ihr handeln, doch abgesehen von einem winzigen Prozentsatz – den sogenannten Soziopathen –, ist niemand dagegen gefeit, auf die Situationen, in denen sich andere befinden, emotional zu reagieren.“ (de Waal 2011, S.63, 109, 163f., 269) – Und: „Dieser Mechanismus ist uralt: Er ist automatisch, setzt bereits in frühem Kindesalter ein und kennzeichnet wahrscheinlich alle Säugetiere.“ (de Waal 2011, S.163f.)

Natürlich bedeutet das nicht, daß wir ihn nicht doch auch kontrollieren könnten. Wir können ihn sogar ignorieren: „Der Begriff bezeichnet nur das Tempo und die unterbewusste Natur des Prozesses, nicht die Unfähigkeit, sich über ihn hinwegzusetzen.“ (S.109) – Aber auch wenn wir uns über unsere Emotionen hinwegsetzen, bleiben sie dennoch wirksam und warten gewissermaßen nur auf ihre Chance, uns die Zügel aus der Hand zu reißen.

Wenn de Waal also durchaus eine gewisse Beeinflußbarkeit von Emotionen zugesteht, so fehlt bei ihm doch der Bezug auf Bildung, Kultur und Lebenswelt. Mit den Momenten der Verhaltenssynchronisation, der Körpersprache und der Gefühlsansteckung haben wir es bei der Empathie zwar durchaus insgesamt mit einem unterbewußten Automatismus zu tun, aber eben auch mit ‚Haltung‘, also mit einer Gesamtgestalt aus Körper, Seele und Geist. Und mit dem Begriff der ‚Bildung‘ ist eine Durchbildung, eine Durchgeistigung des menschlichen Organismus verbunden, der allererst verantwortliches Handeln ermöglicht. Der Begriff der Freiheit, den wir hier verwenden müssen, geht weit über jene Mechanismen hinaus – wenn wir auf sie zu unserer Freiheit auch nicht verzichten können – , die uns de Waal zufolge dazu befähigen, uns über diesen Automatismus „hinwegzusetzen“.

Zu den von de Waal genannten Mechanismen, mit denen sowohl Frauen wie Männer geschlechtsunabhängig ihre Empathie ‚abstellen‘ können, gehören z.B. Abgrenzungsprozesse – der andere Mensch gehört nicht zur eigenen Gruppe, sondern, im Extremfall, zur „Feindgruppe“ (vgl.de Waal 2011, S.276) – und die Bestrafung von unfairem Verhalten (vgl.de Waal 2011, S.276, 281). Bei Männern kommt noch die Konkurrenz um Macht und Frauen (Kompetition) hinzu. (Vgl.de Waal 2011, S.278) Ein weiteres geschlechtstypisches Merkmal ist, daß Männer, wie de Waal sich ausdrückt, über „den wirksameren Abschaltknopf“ (de Waal 2011, S.276) verfügen: „Interkulturelle Studien bestätigen, dass Frauen überall für empathischer gehalten werden als Männer, infolgedessen wurde die These aufgestellt, dass das weibliche (im Gegensatz zum männlichen) Gehirn für Empathie verdrahtet ist.() Ich bezweifle, dass der Unterschied so absolut ist, doch richtig ist, dass neugeborene weibliche Säuglinge Gesichter länger betrachten als männliche Säuglinge, die dafür mehr Ausdauer haben, wenn sie sich mechanische Mobiles anschauen.“ (de Waal 2011, S.276f.)

Der Mechanismus der Empathie wird also um so unwiderstehlicher, je mehr sich die Individuen in einer Gruppe miteinander verbunden fühlen, und er wird um so schwächer, je weniger sie sich miteinander verbunden fühlen, so daß eine Empathie bei Gruppenfremden sogar ganz zum Erliegen kommen kann: „Das wichtigste Tor der Empathie ist Identifikation. Wir sind bereit, die Gefühle von jemandem zu teilen, mit dem wir uns identifizieren, weshalb es uns bei den Menschen so leicht fällt, die zu unserem inneren Kreis gehören: Für sie bleibt das Tor immer einen Spalt breit offen. Außerhalb dieses Kreises haben wir die Wahl.“ (de Waal 2011, S.275f.)

Identifikation ist demnach der wichtigste Schalter, mit dem wir Empathie ein- und ausschalten können: „Wenn die Identifikation mit anderen das Tor zur Empathie aufstößt, schließt der Mangel an Identifikation dieses Tor.“ (de Waal 2011, S.110) – Diese Identifikation kann auch auf Gruppen übertragen werden. So kann z.B. die beständige Bereitschaft von Männern, miteinander um Macht und um Frauen zu konkurrieren, in besonderen Männergruppen durch „Loyalität“ unter Kontrolle gehalten werden. (Vgl.de Waal 2011, S.280)

Alles in allem fällt also auf, daß de Waal mit seinem Versuch, der biologischen Natur des Menschen Hinweise auf eine bessere Gesellschaft zu entnehmen, sich in einem Bereich des menschlichen Lebens bewegt, der sich auf Gruppendynamiken beschränkt und mit gesellschaftlichen Strukturen nur wenig zu tun hat. Sein Nachweis, daß weder der Behaviorismus noch der Sozialdarwinismus biologisch belegbares anthropologisches Wissen beinhalten, mit dem man bestimmte kybernetisch (Behaviorismus) oder kapitalistisch (Sozialdarwinismus) orientierte Wirtschafts- und Politikmodelle begründen kann, ist zwar auf dieser allgemeinen Ebene durchaus hilfreich, um bestimmte, immer wiederkehrende politische Ideologien zurückzuweisen. De Waals Beobachtungen und Studien liefern durchaus auch gute Argumente gegen wissenschaftliche Denkschulen wie die Luhmannsche Systemtheorie, die meiner Ansicht nach in der geistigen Tradition des Behaviorismus steht.

Aber de Waals – von ihm mit aller Vorsicht formulierter – Wunsch, die Reichweite der Empathie zugunsten einer alle Völker umfassenden globalen Empathiefähigkeit zu erhöhen, sollte ihm dieser gottgleiche Eingriff in die menschliche Natur gewährt werden (vgl.de Waal 2011, S.264), zeigt letztlich nur, daß er kein Verständnis für den über die Biologie hinausgehenden Sinn der Differenz von Gemeinschaft und Gesellschaft hat. Um Empathie an den Grenzen von Gemeinschaft und Gesellschaft in einer individuellen Persönlichkeit zu integrieren, kann nur Bildung helfen, – und das ist etwas ganz anderes als eine bloße Manipulation der biologischen Grenzen der menschlichen Natur.

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2 Kommentare:

  1. Um die individuelle Person im Verlauf der Pubertät an der Grenze von Gemeinschaft und Gesellschaft zu integrieren, haben wir heute primär den Schulunterricht. In früheren Zeiten, in denen die Gemeinschaft noch mit der Lebenswelt deckungsgleich gewesen war, es also noch keine genuin gesellschaftlichen Strukturen gab, regulierten Initiationsriten den Übergang von der Kindheit zum Erwachsenenalter. Diese Regulationseinrichtungen bilden ein spezifisches Moment der menschlichen Exzentrizität.

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  2. Ich lese gerade „Das Mitternachtskleid“ von Terry Pratchett. Dabei kommt mir der Gedanke, daß die Hexen in Pratchetts Scheibenwelt Experten für Exzentrizität sind. Sie übernehmen für das Gros der Bevölkerung, die dafür keine Zeit hat, weil der tägliche Kampf ums Überleben Vorrang hat, oder die einfach nur zu bequem dazu sind, das Denken. Und sie übernehmen die Verantwortung für die Entscheidungen, die sie fällen, weil die übrige Bevölkerung zu ängstlich oder stumpfsinnig für eigene Entscheidungen und Verantwortungsübernahmen ist. Pratchett zeigt am Beispiel der Hexen, welche Gefahren mit der exzentrischen Positionalität verbunden sind: verbrannt werden, ertränkt werden und nicht zuletzt das Gackeln.

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