„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 3. April 2011

Harald Welzer, Klimakriege. Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird, Frankfurt a.M. 2008

1. Prolog: Welzer und Plessner im Vergleich
2. shifting baselines
3. Arbeitsteilung und Verantwortung
4. Totale Situationen und partikulare Rationalität
5. Zur Kontinuität gesellschaftlicher Entwicklung
6. Drei Handlungsalternativen

An dieser Stelle möchte ich nochmal auf das Thema meines erstens Posts zu „Klimakriege“ vom 30.03.2011 zu sprechen kommen. Welzer bezweifelt die Vergleichbarkeit des Entwicklungsstands von „Entwicklungsverläufe(n) von Gesellschaften“: „Es könnte sein, dass Gesellschaftsentwicklungen ganz unterschiedlichen Pfaden folgen können, die sich klassischen Vorstellungen von Vor- und Rückentwicklungen gar nicht fügen“ (vgl. Welzer 2008, S.106f.). Man muß sich deshalb, so Welzer, „von dem Gedanken lösen, dass Kausalität eine Kategorie sozialen Handelns ist.“ (Vgl. Welzer 2008, S.124f.)

Soziales Handeln ist Welzer zufolge nicht kausal, sondern „rekursiv“, weshalb noch so gut geplante gemeinsame Aktivitäten oft anders ausgehen, als beabsichtigt. Bei Planungen müssen wir uns ja auf das unterschiedliche Wissen aller Beteiligten und auf unsere wechselseitigen Erwartungen aneinander abstimmen. Und wir wissen ja schon von Tomasello, daß diese Rekursivität, „ich weiß, daß Du weißt, daß ich weiß, was wir gemeinsam wissen und wollen“, prinzipiell unendlich ist, aber aus pragmatischen Gründen zu einem bestimmten Zeitpunkt, an dem ausreichende Einigkeit hergestellt worden ist, abgebrochen wird, um zur Tat zu schreiten: „Vor diesem Hintergrund verlieren Kategorien wie Ursachen und Wirkungen, Bedingungen und Folgen, Strukturen und Funktionen etwas von dem Glanz, den sie in soziologischen und philosophischen Theorien haben, und schmutzige Kategorien wie Zufall und Gefühle drängen sich nach vorn.“ (Welzer 2008, S.125)

Das macht es so schwierig, eine globale Katastrophe wie die Klimaveränderung, wenn man sie schon nicht verhindern kann, wenigstens in ihren Folgen zu kontrollieren. Denn natürlich beinhalten die verschiedenen Gesellschaften weltweit völlig verschiedene kulturelle Entwicklungsverläufe, und diese Gesellschaften erheben nun nach dem Gerechtigkeitsmodell ihre Ansprüche auf einen bestimmten Standard an Wohlstand. Diesen Standard liefert aber bedauerlicherweise ausgerechnet das Wirtschaftsmodell, das diese Klimakatastrophe überhaupt erst verursacht hat, also der westliche Kapitalismus: „... schon jetzt ist ohne weiteres sichtbar, dass diejenigen, die von einer weiteren Steigerung der verhängnisvollen Emissionen profitieren, die Karte der Gerechtigkeit spielen, um ungebremst ihre anachronistische Auffassung von Modernisierung in die Wirklichkeit übersetzen zu dürfen, während diejenigen, denen die Überlebensmöglichkeiten abhanden kommen, Gerechtigkeit darin einzuklagen versuchen, dass sie wenigstens irgendwo überleben dürfen, wenn schon nicht dort, wo sie eigentlich leben möchten.“ (Welzer 2008, S.122)

Zu den aktuellen, am Gerechtigkeitsprinzip orientierten Verteilungskämpfen um die immer knapper werdenden Ressourcen kommt dann noch das Generationenverhältnis hinzu. Was die gegenwärtigen Generationen noch an Wohlstand für sich in Anspruch nehmen, wird kommenden Generationen in unerreichbare Ferne rücken. Die Klimakatastrophe zwingt uns also, die wechselseitigen unterschiedlichen Interessen unserer Zeitgenossen auf globaler Ebene zu koordinieren und darüberhinaus auch die Interessen künftiger Generationen zu berücksichtigen, was, wollten wir dies auf inhaltlicher Ebene versuchen, praktisch ein Ding der Unmöglichkeit ist. Eine solche Interessenabstimmung kann nur auf formaler Ebene Aussicht auf Erfolg haben, und das einzige Kriterium, das mir einfällt, an dem wir uns dabei orientieren können, besteht darin, jetzt so zu leben und zu handeln, daß andere und vor allem auch künftige Generationen noch die Möglichkeit haben, ein selbstbestimmtes Leben zu führen

Welzer unterscheidet hier interessanterweise zwischen individuellem und gesellschaftlichem Handeln: „Würde man sich die Strategie des Weitermachen-wie-üblich herunterdekliniert auf die Ebene eines Individuums vorstellen, hätte man ... sofort eine soziopathische Person vor Augen, die nicht das mindeste Problem damit hat, das 70-fache() aller anderen Personen zu verdienen und trotzdem in erheblichem Umfang deren Rohstoffe zu konsumieren, die deshalb das 15-fache an Energie, Wasser und Nahrungsmittel verbraucht und im Vergleich zu weniger begünstigten Personen das 9-fache an Schadstoffen wieder an die Umwelt abgibt. Diese soziopathische Person ist darüber hinaus kategorisch uninteressiert an den Lebensbedingungen ihrer Kinder und Enkel und nimmt bei all dem in Kauf, dass wegen ihm und seinesgleichen weltweit 852 Millionen Menschen Hunger leiden und 20 Millionen auf der Flucht sind.“ (Welzer 2008, S.252f.)

Im Unterschied zu Individuen unterliegen „kollektive Akteure aber keinen Zurechnungen moralischer Art“: „Solange man es in Handlungszusammenhängen nicht mit persönlichen Zurechnungen und Zuschreibungen zu tun hat, hat Moral keinerlei Handlungsrelevanz.“ (Welzer 2008, S.253) – Ich möchte hinzufügen, daß es umso wichtiger ist, das individuelle Handeln keiner statistischen Bewertung zu unterziehen und als eine klimarelevante Größe nicht geringzuschätzen.

Wenn also gesellschaftliche Entwicklungen keinen Gesetzmäßigkeiten unterliegen, weil „menschliche Überlebensgemeinschaften immer mit Kontingenz, Zufall und Gewalt konfrontiert sind“, so daß „sich Zufall und Kontingenz aus sozialen Prozessen (nicht) entfernen lassen“ (vgl. Welzer 2008, S.123), so haben sie doch teil an der Expressivität menschlichen Handelns. Indem die Menschen ihre Gegenwart auf eine Vergangenheit und auf eine Zukunft beziehen, orientieren sie ihr eigenes Handeln und geben ihm Sinn. Der Sinnbezug mag zwar nur lose mit den tatsächlichen Ereignissen gekoppelt sein, aber er wirkt sich dennoch auf die individuelle Identitätsbildung aus, – entsprechend der von Plessner beschriebenen exzentrischen Positionalität, d.h. in einem beständigen Mißverhältnis von Intention und Erfüllung.

Und letztlich: so lose kann die Kopplung weder zwischen gesellschaftlicher Entwicklung und kulturellem Sinn noch zwischen Einstellung und Verhalten (vgl. Welzer 2008, S.27f.) sein, wenn kulturbedingter, jahrhundertelanger Raubbau an den Wäldern auf der Osterinsel mit einer geradezu erschreckenden Kontinuität zur Auslöschung einer ganzen Kultur hat führen können. Auch hier ist wiedermal eine Geschichte „alternativlos“ verlaufen (vgl. Welzer 2008, S.124), obwohl ihr jederzeit Alternativen zur Verfügung gestanden hätten. Solche scheinbaren „Zwangsläufigkeiten“ scheint es in der Geschichte der Menschheit recht oft gegeben zu haben, ungeachtet der zentralen Bedeutung, die der Zufall in der gesellschaftlichen Entwicklung auch sonst innehat.

Die Unhintergehbarkeit des Sinnbezugs gesellschaftlicher Entwicklung zeigt sich besonders drastisch am zwiespältigen Verhältnis des Menschen zu Naturkatastrophen. Ob Katastrophen überhaupt als Katastrophen wahrgenommen werden und wie sie als Katastrophen bewertet werden, hängt immer auch von der lebensweltlichen ‚Einordnung‘ erlebter Katastrophen ab. (Vgl. Welzer 2008, S.62ff.) Die bekannteste menschliche Reaktion auf Naturkatastrophen ist, sie als göttliche Bestrafung für die Sündhaftigkeit der betroffenen Gesellschaft zu bewerten, wie wir es z.B. von der biblischen Sintflut kennen. Welzer hält deshalb zu Recht fest: „Im Katastrophenfall zeigt sich nicht der Ausnahmezustand einer Gesellschaft, sondern lediglich eine Dimension ihrer Existenz, die im Alltag verborgen bleibt. Vor diesem Hintergrund sollte nicht nur untersucht werden, was Gesellschaften zusammenhält, sondern auch, was sie zerfallen lässt.()“ (Welzer 2008, S.44)

Die Frage, was eine Gesellschaft im Verborgenen zusammenhält und was sie zerfallen läßt, hat Blumenberg mit dem Thema der Lebenswelt verknüpft. Ich würde diese Frage gerne dahingehend modifizieren, was denn eine Gesellschaft an verborgener Schuld angehäuft hat, z.B. biblisch gesprochen: als gegen Witwen, Waisen und Fremde gerichtete Gleichgültigkeit, oder – immer noch biblisch, aber insbesondere auf die Klimakatastrophe bezogen – gegen das Lebensrecht künftiger Generationen? Dann erscheint es tatsächlich nicht mehr als bloß mythologisch oder irrational, sondern im Gegenteil als höchst rational, angesichts der zunehmenden Verflechtung sozialer, technischer und natürlicher Katastrophen, wie wir sie jetzt in Fukushima vor Augen haben, erschrocken innezuhalten und den Blick eben auf die eigenen Schuldzusammenhänge zu richten, egal, wie sehr uns die Experten darüber versichern, daß ‚bei uns‘ nie ein Erdbeben in der Größenordnung von 9,0 auftreten kann. Dann hat ein solcher Sinnbezug, ob er nun als ‚Bestrafung‘ wahrgenommen wird oder nur als ‚Warnung‘, tatsächlich die Funktion eines „starting points“, der zwar keine „Kausalkette“ einer nicht mehr rückgängig zu machenden Entwicklung hervorruft (vgl. Welzer 2008, S.221), aber durchaus eine neue Orientierung ermöglicht (vgl. Welzer 2008, S.259). In diesem Sinne wären auch Hiroshima/Nagasaki (Anders) oder der Holocaust (Assmann) zu verstehen, – eben nicht in dem Sinne, daß sie nie mehr möglich sein werden, sondern vor allem als Warnung, daß sie nie mehr möglich sein sollen.

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