„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 2. April 2011

Harald Welzer, Klimakriege. Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird, Frankfurt a.M. 2008

1. Prolog: Welzer und Plessner im Vergleich
2. shifting baselines
3. Arbeitsteilung und Verantwortung
4. Totale Situationen und partikulare Rationalität
5. Zur Kontinuität gesellschaftlicher Entwicklung
6. Drei Handlungsalternativen

Welzer definiert „partikulare Rationalitäten“ als in sich abgeschlossene „Wirklichkeiten“, „die von außen betrachtet sinnlos oder geradezu irre erscheinen, in der Perspektive der Akteure aber in umfassende Sinnsysteme eingebunden sein können.“ (Vgl. Welzer 2008, S.36) Die „gesellschaftswissenschaftlichen Deutungsinstrumente“ sind „auf solche partikulare Sinnsysteme ... nicht geeicht, da sie an rationalen Handlungsmodellen orientiert sind.“ (Vgl. ebenda) Diese partikularen Rationalitäten können sich von der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung abkoppeln und ihre eigene, von außen unkontrollierbare Dynamik entfalten, die „selbst die Beteiligten hinterher verständnislos, sich selber seltsam fremd(), vor den Ergebnissen stehen lässt.“ (Welzer 2008, S.70)

Wir kennen solche soziale Katastrophen meistens aus Diktaturen, in der deutschen Vergangenheit insbesondere den Holocaust. Aber auch in ganz ‚normalen‘ Gesellschaften können sich auf kleinstem Raum, von der Gesellschaft abgeschottete, partikulare Rationalitäten herausbilden, die Welzer auch als „totale Situationen“ bezeichnet, „denen die soziale Heterogenität eines Alltags fehlt, in dem wechselnde Rollen, Sozialkontakte und Anforderungen korrigierend oder konflikthaft aufeinander einwirken.“ (S.28) Nicht nur die offensichtliche „Gewaltdynamik“ in Kriegen und totalitären Gesellschaften, sondern auch in ganz ‚normalen‘ Familien, Fanvereinen etc. kann zu solchen totalen Situationen führen, in denen die Mitglieder einer verschworenen Gemeinschaft jede persönliche Berechenbarkeit und jeden Bezug zu anderen Lebenszusammenhängen verlieren und kurzfristig ‚ausrasten‘.

Weil es eigentlich niemandem von uns, wie ich vermute, schwerfallen wird, sich an ‚totale‘ Situationen zu erinnern, in denen das Gruppenverhalten die Kontrolle über den eigenen Verstand übernimmt, halte ich eigentlich den Begriff der partikularen Situation nicht für besonders brauchbar, um damit solche Extremsituationen wie Genozid oder systematisches Foltern zu beschreiben. Eigentlich gehört der Begriff der partikularen Rationalität zur schon im letzten Post angesprochenen gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Diese Thematik reicht von Schleiermacher, der zwischen den gesellschaftlichen Praxisbereichen des Staates, der Kirche, der Wissenschaft und der freien Gesellschaft unterschieden hat, bis hin zu Dietrich Benners Praxeologie, in der er von einer sich in sieben Teilpraxen ausdifferenzierenden gesellschaftlichen Gesamtpraxis spricht: von Politik, Arbeit, Kunst, Wissenschaft, Religion, Pädagogik und Ethik. In diesen Modellen einer arbeitsteiligen Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilpraxen funktionieren die einzelnen Praxisbereiche nach jeweils eigenen Gesetzen, also ‚partikular‘, und keine darf die jeweils anderen Praxisbereiche mit ihren Strukturen dominieren oder beherrschen.

Besonders kraß hat Luhmann diese funktionale Differenzierung ausformuliert. Bei ihm bilden die verschiedenen gesellschaftlichen Funktionssysteme füreinander Umwelten, und sie sind für das, was in den jeweils anderen ‚Umwelten‘ geschieht, ‚blind‘; sie können auch nicht mehr in der Person des Menschen, weder bewußtseinsmäßig noch in seinem Handeln, zusammengefaßt werden, weil der Mensch in Luhmanns Systemtheorie nicht mehr vorkommt. Stattdessen spricht er nur noch von „psychischen Systemen“, die selbstverständlich ebenfalls für alle anderen Systeme, also auch für ihre psychischen Mitsysteme, blind sind.

Wenn man also von partikularen Rationalitäten spricht, so läßt sich die Herausbildung von totalen Situationen, die sich von der Gesamtgesellschaft völlig abschotten, nur noch graduell beschreiben. Folterkeller sind dann eben nur noch etwas partikularer als z.B. Religionsgemeinschaften. Doch wenn man an die Amish People oder an die Herrnhuter Brüdergemeinde denkt, ist auch diese Kennzeichnung schwierig aufrechtzuerhalten. Man wird diese von der Gesamtgesellschaft abgeschotteten Lebensgemeinschaften wohl kaum mit fanatischen Fanclubs oder mit extremistischen politischen Parteien vergleichen wollen. Letztlich hat man dann auch kein Kriterium mehr, um die spezifische Partikularität von Scientology von anderen religiösen Gemeinschaften abzusetzen.

Und auch in die andere Richtung stellt sich auf gradueller Ebene die Frage: wann hört die Partikularität auf und wann beginnt die globale oder auch universelle Orientierung an der Menschheit? Ist denn nicht selbst die Perspektive auf die Menschheit partikular? Gleicht denn nicht der globalisierte Raubbau auf unserem Planeten einer totalen Situation? Ich muß dabei an zwei Romantitel denken: an den „Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil und an „Fluß ohne Ufer“ von Hans Henny Jahnn. Der „Mann ohne Eigenschaften“ war für mich immer eine Metapher für den von keiner regionalen, kulturellen und biologischen Besonderheit (Eigenschaft) eingegrenzten (partikularisierten) allgemeinen Menschen, der gerade dadurch seine Individualität im höchsten Maße zu vollenden versucht, daß er sich auf keine speziellen Eigenschaften hin ‚verallgemeinern‘ lassen will. Denn das Partikulare ist zugleich auch immer das Allgemeine: die nationale Identität ist so allgemein wie partikular, die Geschlechtsidentität ist so allgemein wie partikular, die berufliche Identität ist so allgemein wie partikular.

Aber auch mit dem „Mann ohne Eigenschaften“ nimmt Robert Musil noch eine bloß partikulare Identitätsbestimmung vor. Denn der Mann ohne Eigenschaften ist ein Mensch, und er repräsentiert in seiner Person nur die Menschheit, – also eine partikulare Realität. Hans Henny Jahnn geht weiter: in „Fluß ohne Ufer“ beschreibt er biologische Experimente, in denen die Protagonisten sich vor dem umfassenden Horizont der Evolution zu finden versuchen. Sie versuchen den ihnen zu eng gewordenen Rahmen der Menschheit zu sprengen, – sich also nicht mehr nur als Männer ohne Eigenschaften zu behaupten, sondern sich einzureihen in den Fluß ohne Ufer.

Vor welchem Forum sind wir also wirklich universell? Vor welchem Forum verlassen wir den Rahmen der Partikularität, der totalitären Abschottung gegenüber dem ‚Rest‘ der Welt? Stellen wir die Frage so – und ich denke, das ist die Frage, auf die es, was die Zukunft der Menschheit betrifft, letztlich ankommt –, dann macht es wenig Sinn, extreme Gewaltsituationen oder soziale Katastrophen auf die Dynamik partikularer Rationalitäten zurückzuführen.

Die Unterscheidung, auf die Welzer mit der partikularen Rationalität eigentlich hinauswill, scheint mir auf etwas anderes hinauszulaufen, und dafür scheint mir Plessners Differenzierung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft brauchbarer zu sein. Welzer schreibt: „Die Konzentration auf eine sehr enge Wir-Gruppe schafft eine eigene Sinnwelt, die zu der diffusen, unreinen Sinnwelt außerhalb der Gruppe scharf kontrastiert. Dabei ist das Hineinwachsen in die Kultur einer solchen Wir-Gruppe nicht das Ergebnis einer spontanen Entscheidung oder eines Beitritts, sondern erfolgt langsam und kann durch Entfremdungsgefühle, Einsamkeit und gefühlte Ablehnung durch die Mehrheitsgesellschaft motiviert sein.“ (Welzer 2008, S.169)

Damit haben wir den Begriff der Gemeinschaft im Plessnerschen Sinne. Diese Gemeinschaft zeichnet sich weniger durch ihre Partikularität aus – obwohl dieser Begriff durchaus auf die Gemeinschaft anwendbar ist –, als vielmehr durch ihren Umgang mit Intimität und die daraus für das Individuum und seine Identität sich ergebenden Folgen. Und dieser Gemeinschaft steht nun nicht etwa eine nicht-partikulare Öffentlichkeit gegenüber, sondern eine durchaus selbst wiederum funktional ausdifferenzierte Öffentlichkeit, die vor allem durch gesellschaftliche Strukturen bzw. Mechanismen gekennzeichnet ist, die die Intimität der miteinander interagierenden Individuen voreinander schützen, – wiederum auch mit allen daraus sich ergebenden Folgen für die individuelle Authentizität und Identität.

Letztlich ist vor allem individuelles Urteilen und Handeln – besonders wenn wir uns unserer persönlichen Verantwortung bewußt sind – notwendigerweise ‚partikular‘. Denn wirkliche Gewissensentscheidungen richten sich immer gegen Mehrheitsentscheidungen und erscheinen deshalb nicht nur als partikular, sondern sogar als asozial. Auch hier ist deshalb die Frage, was individuelles Handeln angesichts globaler „Ressourcenvernutzung“ (vgl. Welzer 2008, S.254) eigentlich bringt, kontraproduktiv. Selbst ein aufrechter Nihilist wie Günther Anders hat sich von seinem eigenen partikularen Pessimismus nicht davon abhalten lassen, durch sein individuelles Handeln ein Beispiel für den Widerstand gegen den ökonomischen Zeitgeist zu geben.

Auf dieses individuelle Handeln kommt es letztlich an, und eines der beliebtesten Totschlagargumente ist eben der Egoismus- und Partikularismusvorwurf gegen jene, die einfach nur nicht mehr mitmachen wollen.

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