„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 1. April 2011

Harald Welzer, Klimakriege. Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird, Frankfurt a.M. 2008

1.  Prolog: Welzer und Plessner im Vergleich
2. shifting baselines
3. Arbeitsteilung und Verantwortung
4. Totale Situationen und partikulare Rationalität
5. Zur Kontinuität gesellschaftlicher Entwicklung
6. Drei Handlungsalternativen

Daß die Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Funktionen, insbesondere der Arbeit sich auf das Selbstverständnis individueller Handlungssubjekte auswirkt, wissen wir nicht erst seit Marx. Schon Wilhelm von Humboldt hatte in seiner Schrift über die Grenzen des Staates (1792) die Notwendigkeit von Bildung damit begründet, daß der Mensch in der Gesellschaft, anders als im Naturzusammenhang, wo sein Überleben tagtäglich von seinen Entscheidungen und seinen Taten unmittelbar abhängt, weder sein Handeln noch die Folgen seines Handelns mehr in ihrem Zusammenhang zu überblicken vermag. Weder die Kleidung, die er trägt, noch die Nahrung, die er zu sich nimmt, noch die Wohnung, die er bewohnt, hat er selbst geschneidert, geerntet oder gebaut.

Humboldt war davon überzeugt, daß die unausbleiblichen schädlichen Folgen für das individuelle Selbstwert- und Verantwortungsgefühl nur durch Bildung zu kompensieren wären, d.h. durch eine gesteigerte Sensibilität für die Bedürfnisse der menschlichen Natur, durch die Herausbildung sozialer Kompetenzen und Interessen und eines möglichst vielfältigen und umfassenden Horizonts.

Auch Harald Welzer führt das fehlende Verantwortungsgefühl angesichts der sozialen und ökologischen Folgen der drohenden und teilweise auch schon eintretenden Klimakatastrophe, wie z.B. die Klimakriege in den Dürreregionen Afrikas, auf die Arbeitsteilung zurück: „Eine Voraussetzung dafür, verantwortlich handeln zu können, besteht zum Beispiel darin, dass die Parameter für ein planvolles Handeln bekannt sind. In modernen funktional differenzierten Gesellschaften mit ihren langen Handlungsketten und ihren komplexen Interdependenzen ist es für den Einzelnen prinzipiell schwierig, ein Verhältnis zwischen dem herzustellen, was er an Handlungsfolgen auslöst, und dem, was er qua eigener Handlungssteuerung praktisch verantworten kann.“ (Welzer 2008, S.30) – Da ist es natürlich einfacher, die jeweiligen Verantwortlichen immer woanders zu vermuten: in der Politik und bei den zuständigen Experten.

Hinzu kommt die zeitliche und räumliche Verteilung der Ursachen und Wirkungen. (Vgl. Welzer 2008, S.31f. und S.254) Wenn schon nationale ‚Alleingänge‘ angesichts globaler Zusammenhänge angeblich nichts bringen – aktuell haben wir das wieder auf europäischer Ebene, wo ich wiedermal das Argument höre, es bringe nichts, in Deutschland die Atomkraftwerke abzuschalten, wenn Frankreich seine Atomkraftwerke weiter betreibt –, dann wundert es nicht, wenn sich jeder Einzelne von uns fragt, was es bringt, Strom zu sparen oder bewußt einzukaufen etc. So auch Welzer: „Es ist politisch unverantwortlich, den Eindruck zu erwecken, dass Probleme, die auf das ökonomische Prinzip des Wachstums durch Ressourcenvernutzung zurückgehen, durch individuelle Verhaltensmaßregeln zu lösen seien.“ (Welzer 2008, S.254)

Solche Statements sind für ein Bewußtsein individueller Verantwortung natürlich nicht gerade hilfreich. Ich persönlich halte es gerade für ein unverzichtbares Moment psychischer Hygiene, Lebensqualität jenseits des ökonomischen Mainstreams neu zu erfinden – also eben nicht mitzumachen, sondern sich innerlich frei zu halten – und dabei eben nicht zu fragen, was es im Sinne einer statistischen Größe ‚bringt‘. Freiheit des Urteilens und Handelns ist keine Frage der Statistik. Sie ist überhaupt nicht skalierbar, weil sie keine ‚Größe‘ ist, sondern nur ein Ort, und zwar ein Nicht-Ort im utopischen Sinne. Denn auch das ist Utopie, und als solche eben kein „Irrtum“ einer „vorausgesetzten Anthropologie“ mit Tendenz zum Totalitarismus. (Vgl. Welzer 2008, S.260) Mit Humboldt gesprochen haben wir es hier einfach nur mit Bildung zu tun. D.h. auch wesentlich, daß es um Menschlichkeit geht; und wie soll ich über Menschlichkeit reden ohne Anthropologie?

Welzer selbst setzt jedenfalls schon viel Anthropologie voraus, wenn er das Verschwinden von Verantwortung auf die Arbeitsteiligkeit der modernen Gesellschaften zurückführt: „Das Problem des Schwindens von Verantwortung ist also eines, das sich mit gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen selbst ergibt, und es stellt gewissermaßen den Preis der Fortentwicklung und Neuschaffung solcher Institutionen dar – Verantwortlichkeit transformiert sich in Zuständigkeit, und damit automatisch auch in Nicht-Zuständigkeit. Gravierender ist aber vielleicht noch, dass man Verantwortung nur übernehmen kann, solange ein zeitliches Verhältnis zwischen Handlung und Handlungsfolge besteht, das eine wechselseitige Zurechnung erlaubt.“ (Welzer 2008, S.31)

Die implizite Anthropologie, die dieser durchaus berechtigten Darstellung von Strukturen individueller Verantwortungslosigkeit zugrundeliegt, besteht in der These, daß individuelle Motivation und Erfolgsaussichten untrennbar zusammengehören. (Vgl. Welzer 2008, S.50) Diese These hat etwas für sich und sie ist auch gut begründet. Aber letztlich bewegen wir uns mit dieser Art von Motivationstheorie auf der Ebene von Eseln, die wir hinter einer an einer Angel befestigten Karotte herlaufen lassen, damit sie brav den Karren dahin ziehen, wo wir wollen. Den Erfolg immer vor Augen, bleibt es doch unsicher, ob wir ihn nicht letztlich gerade deshalb verfehlen.

Worauf ich hinaus will, ist, daß diese Motivationstheorien dem Menschen keine Freiheit lassen. Wir entscheiden uns in einem Geflecht von angestrebten Zwecken und zur Verfügung stehenden Mitteln und kommen gerade so aus dem Verhängniszusammenhang der globalisierten Warenproduktion und Bedürfnisbefriedigung nicht heraus. Welzer schränkt die Freiheit des Menschen zu sehr ein. Aber gerade der von Welzer entwertete Blick auf die Geschichte, von der wir angeblich nichts mehr lernen können, zeigt, daß die Menschen anthropologisch durchaus nicht auf naheliegende und kurzfristige Erfolgserlebnisse festgelegt sind. Historische Konzepte der Nachhaltigkeit zeigen, daß Menschen durchaus in der Lage sind, größere zeitliche Zusammenhänge in ihr Handeln einzubeziehen. (Vgl. Ulrich Grober, Die Entdeckung der Nachhaltigkeit. Kulturgeschichte eines Begriffs, München 2010)

In der Beschreibung des Menschen müssen die Ebenen auseinandergehalten werden, – auch wenn sie letztlich untrennbar zusammenhängen. Welzer vermengt aber insbesondere zwei Ebenen: z.B. die anthropologische Ebene, in der der Mensch aufgrund seiner exzentrischen Positionalität ‚neben sich‘ steht, was u.a. heißt, daß er mit dem eigenen widersprüchlichen Verhalten leben lernen muß. Welzer stellt in diesem Sinne fest: „Dabei muss man sehen, dass Einstellung und Verhalten zwei Dinge sind, die nur sehr lose miteinander verkoppelt sind, wenn überhaupt. Einstellungen kann man situationsentlastet, jenseits von Realitätsprüfungen und konkreten Entscheidungsbedingungen haben, während Handlungen in der Regel unter Druck stattfinden und von situativen Erfordernissen bestimmt werden – weshalb es sehr oft vorkommt, dass Menschen Handlungen begehen, die ihrer Einstellung widersprechen.“ (Welzer 2008, S.27f.)

Bei Plessner wird diese lose Kopplung zwischen innerer Einstellung und äußerlichem Verhalten schlüssig aus der anthropologischen Verfassung des Menschen erklärt. Das hilft dem Menschen in der modernen, arbeitsteiligen Gesellschaft natürlich sehr dabei, mit den Anforderungen, denen er sich stellen muß, zurechtzukommen. Er trägt sehr zurecht und zu seinem eigenen Schutz in Gesellschaft immer einer ‚Maske‘, und niemand würde es ihm danken, wenn er sie aus Gründen der Authentizität plötzlich abnähme, um von nun an allen gegenüber rücksichtslos ehrlich zu sein.

Man kann sich also durchaus auf soziologischer Ebene mit der gesellschaftlichen Arbeitsteilung befassen, und man kann auch auf psychologischer Ebene die Auswirkungen auf das individuelle Bewußtsein beschreiben und analysieren. Aber wenn es darum geht, beide Ebenen zu beurteilen und zu bewerten, sollte man sie streng auseinanderhalten und jedenfalls nicht die individuellen Entscheidungen und individuelles Handeln nach statistischen Kriterien ‚skalieren‘.

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