„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 19. Februar 2011

Jan Assmann, Griechenland und die Disziplinierung des Denkens

in: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität, München 6/2007 (1992), S.259-292

Ähnlich wie zur Problematik individueller Intelligenzunterschiede gibt es anscheinend eine Diskussion zum kulturellen Potential unterschiedlicher Schriftsysteme. Das ist für mich nicht nur insofern interessant, als es meine These, daß es eine Analogie zwischen der Schrift (‚Textkörper‘) und dem Körperleib gibt (vgl. meine Posts vom 04.und 05.02.11), bestätigt, sondern darüberhinaus auch deshalb, weil Assmann hier eine ähnliche Position vertritt wie ich hinsichtlich der Intelligenz: daß es nämlich hinsichtlich des kulturellen Potentials nicht auf das „Schriftsystem“, sondern auf die „soziopolitische Verwendung“ (vgl. Kulturelles Gedächtnis (1992), S.269), also auf den Gebrauch ankommt, den eine Gesellschaft bzw. Kultur von ihrem Schriftsystem macht: „Unter dem Begriff ‚Schriftsystem‘ werden Fragen der Struktur, des inneren Aufbaus und der Funktionsweise einer spezifischen Schrift behandelt, z.B. ob eine Schrift ideographisch, syllabisch oder alphabetisch ist, ob sie an eine Einzelsprache gebunden ist oder ob sie auch Laute/Wörter/Sätze einer anderen Sprache wiedergeben kann usw. Unter dem Begriff der ‚Schriftkultur‘ geht es demgegenüber um Fragen der Institutionen und Traditionen des Schreibens, des Umgangs mit Texten, der Einbettung von Schrift und schriftlich fixierten Texten in die Gesellschaft. Es liegt auf der Hand, daß die Konsequenzen der Schrift auf der Ebene ihrer gesellschaftlichen Einbettung, d.h. der Schriftkultur entschieden werden.“ (Vgl. Kulturelles Gedächtnis (1992), S.264f.)

Da gibt es durchaus andere Positionen. Assmann zitiert z.B. einen E.A. Havelock, der der griechischen Alphabetschrift das kulturelle Potential zu Philosophie und Wissenschaft zuspricht, weil das Alphabet eine getreue Transkription der mündlichen Sprache ermöglicht, die das Textverständnis vom kulturellen Kontext unabhängig macht. (Vgl. Kulturelles Gedächtnis (1992), S.260ff.) Um z.B. die ägyptischen Hieroglyphen zu verstehen, kommt man – so Havelock – ohne genaue Kenntnisse des kulturellen Kontextes nicht aus: „Havelock meint, daß ‚nicht-alphabetische‘ Schriften so schwer zu lesen seien, daß sie dem Leser nur Bekanntes zumuten könnten. Daher erginge sich die orientalische Literatur bis heute in Klischees und Formeln, die die Komplexität der Erfahrung auf leicht Wiedererkennbares reduzierten.“ (Kulturelles Gedächtnis (1992), S.263) – Sprich: das kulturelle Potential (der IQ?) der Hieroglyphenschrift ist sehr gering; das kulturelle Potential (der IQ?) der Alphabetschrift ist sehr hoch.

Assmann wendet sich ganz entschieden gegen eine solche okzidentale Voreingenommenheit für die eigene Schriftlichkeit und stellt die Hieroglyphen und die semitischen Schriftsysteme auf eine Ebene mit der griechischen Alphabetschrift, insofern er festhält, daß jedes Schriftsystem zunächstmal vor allem dazu dient, die eigene Sprache möglichst perfekt zu kodieren: „In der Wiedergabe der eigenen Sprache stehen die semitischen Konsonantenschriften dem griechischen Alphabet in nichts nach. Sie sind lediglich durch ihre Bezogenheit auf die semitische Sprachstruktur weniger zur Wiedergabe fremder Sprachen geeignet.“ (Kulturelles Gedächtnis (1992), S.263)

Wiedergabefähigkeit von fremden Sprachen – also weitgehende Unabhängigkeit von kulturellen Kontexten – wiederum ist ein besonderes Merkmal des griechischen Alphabets, und da ist es nun kein Wunder, daß es gerade „seefahrende Händler gewesen sind wie die Phöniker und Griechen“ (Kulturelles Gedächtnis (1992), S.263), die die Alphabetschrift entwickelt und perfektioniert haben. Also auch hier haben wir wieder einen Vorrang des soziopolitischen Interesses, also einen Vorrang des kulturellen Gebrauchs des Schriftsystems vor dem scheinbar ‚freischwebenden‘ kulturellen Potential des Schriftsystems.

Ein weiteres kulturelles Moment dieses Schriftgebrauchs besteht Assmann zufolge darin, daß die Schrift in Griechenland weder von Priestern noch von politischen Machthabern zum eigenen Machterhalt instrumentalisiert wurde, – anders als z.B. die Hieroglyphen, die eine Schrift der Eingeweihten und Priester war und deshalb nicht frei war für einen öffentlichen Gebrauch. Aufgrund dieses „Macht-Vakuums“ wurde „das Eindringen von Oralität in die griechische Schriftkultur begünstigt.“ (Vgl. Kulturelles Gedächtnis (1992), S.269) – Assmann geht also davon aus, daß es nicht eigentlich die zur Wiedergabe von gesprochener Sprache besonders geeignete Alphabetstruktur war, die das mündliche Element in der griechischen Schriftkultur so stark ausgeprägt hat, sondern das fehlende priesterliche und politische Interesse an der Schrift. So konnte die ‚Poesie‘ eines Homer zur „nationale(n) Urkunde“ des Hellenismus und letztlich des Abendlandes werden (vgl. Kulturelles Gedächtnis (1992), S.269) und an die Stelle der heiligen Texte der ägyptischen Tempelanlagen und der Thora treten.

Assmann läßt keinen Zweifel daran, daß er das besondere kulturelle Potential der ägyptischen Hieroglyphen zu schätzen weiß: „Sie bezieht sich mit ihrer realistischen Bildhaftigkeit unmittelbar auf die Welt, und mit ihrer Zeichenfunktion sowohl auf die phonetische als auch auf die semantische Ebene der Sprache. Sie gibt also nicht nur ‚was in der Stimme ist‘, sondern ‚was in der Psyche ist‘ und darüber hinaus auch noch ‚was in der Welt ist‘ wieder.“ (Kulturelles Gedächtnis (1992), S.265) – Die Hieroglyphen eröffnen damit mehr Ebenen des Textverstehens als die griechische Alphabetschrift, die nur das wiedergibt, „was in der Stimme ist“, was sie ja auch so außerordentlich geeignet macht, um kontextunabhängig gelesen zu werden. Diese Kontextunabhängigkeit bedeutet aber eben zugleich einen kulturellen Verlust an Welthaltigkeit und seelischem Ausdruck.

Die kulturellen Potentiale der Schriftsysteme sind also durchaus verschieden, aber sie entscheiden nicht darüber, welchen Gebrauch die Menschen von ihrer Schrift machen, – so wenig wie der Intelligenzunterschied zwischen den Menschen darüber entscheidet, welchen Gebrauch sie von ihrer Intelligenz machen. Aufgrund dieser weiteren Analogie zwischen dem Schriftgebrauch und dem Verstandesgebrauch war es mir hier noch einmal wichtig, auf Assmann zurückzukommen. Ich habe nämlich vor, mich in meinen nächsten Posts mit Stanislas Dehaenes Forschungen zum Verhältnis von Schriftlichkeit und Gehirnentwicklung zu befassen. Und der kritische Punkt in dieser Verhältnisbestimmung ist letztlich, inwieweit kulturelle Innovationen auf neurophysiologische Mechanismen zurückgeführt werden können.

Es wird also auch hier um die Frage gehen, was das bestimmende Moment in diesem Verhältnis ist: die Dehaene zufolge begrenzte Plastizität des Gehirns oder der geschichtlich offene, kulturelle Gebrauch dieser plastisch begrenzten Gehirnfunktionen.

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Donnerstag, 10. Februar 2011

Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität, München 6/2007 (1992)

1. Lebenswelt als „Einheit von Gesellschaft und Gedächtnis“
2. Der Körperleib als Urbild aller Grenzbestimmungen
3. Nachtrag: Zirkulation von Sinn und Serienproduktion

An dieser Stelle soll noch einmal ein Vergleich zwischen Anders, dem Technologiekritiker, und Assmann, dem Altertumswissenschaftler, gezogen werden. Dabei geht es um die Begriffe der ‚Sinnstiftung‘ und der ‚Serienproduktion‘. Es gibt nämlich eine auffallende Analogie zwischen der von Anders beschriebenen Wirtschafts-‚Ontologie‘ und Assmanns Textbegriff; eine Analogie, die möglicherweise auch auf einen impliziten ‚Nihilismus‘ des prinzipiellen Hermeneutikers, also Sinnauslegers Jan Assmann hindeutet. Die Analogie besteht im Prinzip der Wiederholung, die bei beiden, bei Assmann wie Anders, die Sinn- bzw. Seinshaftigkeit von Texten bzw. Produkten bestimmt. Texte müssen wiederaufgenommen, also gelesen und interpretiert werden, damit sie Sinn haben können, und Produkte müssen in Serie gehen, damit sie ‚Wert‘ haben können.

Dabei macht es keinen Unterschied, daß es sich bei der Interpretation von Texten immer auch um Variation und Innovation handelt (vgl. Kulturelles Gedächtnis (1992), S.99f.), wir es also nicht nur mit einer gleichförmigen Serienfolge zu tun haben wie in der Warenproduktion. Denn gerade die Verbindung von Technologie und Kapitalismus in der Warenproduktion verlangt geradezu eine entsprechende ständige Variation und Innovation der technischen Produkte, so daß man auch hier eben nicht von einer ‚geistlosen‘ Wiederholung des Immergleichen sprechen kann.

Diese Analogie geht so weit, das Assmann sogar wie beim Geld von einer Sinnzirkulation spricht: „Sinn bleibt nur durch Zirkulation lebendig. Die Riten sind eine Form der Zirkulation. Die Texte hingegen sind es von sich aus noch nicht, sondern nur insoweit, als sie ihrerseits zirkulieren.() Wenn sie außer Gebrauch kommen, werden sie eher zu einem Grab als zu einem Gefäß des Sinns ...“ (Vgl. Kulturelles Gedächtnis (1992), S.91)

Doch was bei Assmann zur Entwicklung eines Bildungsgedächtnisses beiträgt (vgl. Kulturelles Gedächtnis (2000), S.33, 43), führt bei Anders zu einem zweideutigen ontologischen Status insbesondere der Produkte von Rundfunksendungen (vgl. Antiquiertheit Bd.1, S.131, 142f.): die Urteilskraft der Konsumenten, inwiefern es sich bei ihnen um bloße Informationen oder um die Ereignisse selbst handelt, wird geschwächt. Dieser zweideutige Status überträgt sich auch auf alle anderen Produkte der Warenproduktion. Sie alle nehmen den Status von ‚Phantomen‘ an, also einem gespenstischen Zwitter zwischen realen Phänomenen und bloßen Illusionen.

Das führt zugleich zu einer Neudefinition des Verhältnisses von Produzenten und Konsumenten: von nun an sind auch die im Ganzen der Warenproduktion befangenen Produzenten selbst nur noch Konsumenten (vgl. Antiquiertheit Bd.1, S.6f.), und die Konsumenten werden zu Produzenten, weil sie in ‚Heimarbeit‘ vor den Rundfunkgeräten an der Produktion des Massenmenschen beteiligt sind (vgl. Antiquiertheit Bd.1, S.103).

Anders’ Kennzeichnung dieser ontologisch zweideutigen ‚Produkte‘ als ‚Phantome‘ und die damit verbundene Diagnose des Nihilismus leuchtet ohne weiteres ein. Auch daß Assmann notwendigerweise zum gegenteiligen Ergebnis kommen muß, nämlich zur kulturellen Notwendigkeit der Sinnaktualisierung durch mal rituelle (mündliche Kulturen), mal kommentatorische und interpretatorische ‚Wiederholung‘ (schriftliche Kulturen), leuchtet unmittelbar ein. Zugleich stellt sich aber ein leichtes Unbehagen ein, weil man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, daß beide Prozesse, die Wirtschaftsontologie und die Erinnerungskultur, dasselbe Grundprinzip miteinander teilen, – daß möglicherweise der Nihilismus also die gleiche Wurzel hat wie die Humanität: nämlich das Sinnbedürfnis des Menschen. Denn wäre der Mensch nicht sinnbedürftig, wie könnte er sonst der Serienproduktion von Waren, der Inversion von Angebot und Nachfrage als einer Erzeugung der Nachfrage durch das Angebot, verfallen wie einer Drogensucht?

Daß also Nihilismus und Humanismus nach Auschwitz sich aus derselben Quelle speisen, läßt sich kaum leugnen. Wie aber ist es gemeint, wenn ich dem hinzufüge, daß auch der Humanismus selbst seinen Nihilismus in sich trägt? – Dazu führt mich das Gegenprinzip zur Wiederholung als Sinn, Sein und Wert stiftendem Grundprinzip: bei Anders die Atombombe und bei Assmann ‚Auschwitz‘. So wie die Atombombe die Wirtschaftsontologie grundsätzlich in Frage stellt, weil sie nicht wiederholt werden kann, also nicht in Serie gehen kann, so stellt ‚Auschwitz‘ den Humanismus in Frage, weil es nicht wiederholt werden darf. ‚Auschwitz‘ legt den inneren Nihilismus jedes künftigen menschlichen Sinnbezugs offen. (Vgl. Kulturelles Gedächtnis (2000), S.36f.)

Daß aus diesem Nihilismus etwas Positives, nämlich Humanität, hervorgehen soll, scheint Mephisto, dem Anders jede Legitimität abgesprochen hat (vgl. Antiquiertheit Bd.1, S.277f.), wieder zu rechtfertigen. Aber auch im Humanismus des nicht-wiederholen-Dürfens von Auschwitz ist nicht mehr von einer Wiederherstellung des Guten auf einer höheren Ebene die Rede, sondern lediglich von einer daraus erwachsenden Verantwortung für ein auch künftig mögliches menschenwürdiges Leben, – und zwar vor der (moralisch nicht, geschichtlich aber durchaus) wiederholbaren Folie faktischer Sinnlosigkeit.

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Dienstag, 8. Februar 2011

Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität, München 6/2007 (1992)

1. Lebenswelt als „Einheit von Gesellschaft und Gedächtnis“
2. Der Körperleib als Urbild aller Grenzbestimmungen
3. Nachtrag: Zirkulation von Sinn und Serienproduktion

In Form von zwei Thesen beschreibt Assmann das Verhältnis zwischen dem Individuum und der Gesellschaft. (Vgl. Kulturelles Gedächtnis (1992), S.130f.) In der ersten These stellt er die Entstehung von Ich-Identität als einen Prozeß dar, der von der Gesellschaft ausgeht: „Ein Ich wächst von außen nach innen. Es baut sich im Einzelnen auf kraft seiner Teilnahme an den Interaktions- und Kommunikationsmustern der Gruppe, zu der er gehört, und kraft seiner Teilhabe an dem Selbstbild der Gruppe. Die Wir-Identität der Gruppe hat also Vorrang vor der Ich-Identität des Individuums ...“ (Kulturelles Gedächtnis (1992), S.130)

Diesen Bildungsprozeß kann Assmann nur so beschreiben, weil er keinen Begriff vom Körperleib und der Grenze, vor der jeder Mensch steht, hat. Zwar ergänzt er seine These mit dem Hinweis, daß sich eine individuelle Identität „immer am Leitfaden des Leibes“ entwickelt, der so die Basis eines „irreduziblen Eigenseins“ bildet (vgl. Kulturelles Gedächtnis (1992), S.131), aber dieser Basis fehlt bei Assmann die Plessnersche Grenzhaftigkeit. Sie ist nur der Ort, auf den der gesellschaftliche Bildungsprozeß hinzielt, gewissermaßen als Nährboden des aus ihm erwachsenden wirhaften Ich. Mit dieser eingeschränkten Blickweise auf den Körperleib geht bei Assmann auch eine anatomische Beschränkung auf die „neuronale() Ausstattung“ des Gedächtnisses einher. (Vgl. Kulturelles Gedächtnis (1992), S.47)

Was Assmann dabei entgeht, ist, daß der Körperleib selbst schon seine Grenze zwischen Innen und Außen mit sich führt, unabhängig von jeder Gesellschaftlichkeit, und diese so zum Ur-Bild jeder weiteren Grenzbestimmung von Innen und Außen wird. Dem scheinbar von außen nach innen wachsenden Ich, von dem Assmann hier so bildhaft spricht, geht ein von innen nach außen wachsendes Bewußtsein voraus, bei dem man vielleicht noch nicht von einer Ich-Identität im engeren Sinne sprechen kann, das aber von Anfang an exzentrisch positioniert ist. Diese exzentrische Verhältnisbestimmung zum Körperleib wird so zum Ur-Bild jeder weiteren Grenzbestimmung, auch jener des kulturellen Gedächtnisses, dem Assmann mit dem Ethnologen Wilhelm E. Mühlmann eine „limitische() Struktur“ (von limes = Grenze (vgl. Kulturelles Gedächtnis (1992), S.153)) zuspricht: „Je komplexer die Kultur, desto größer wird der Graben, den sie im Inneren der Gruppe aufreißt, weil immer nur wenige Spezialisten das entsprechende Wissen zu verwalten und zu praktizieren imstande sind ... .“ (Kulturelles Gedächtnis (1992), S.153), S.149)

Assmann läßt keinen Zweifel daran, daß wir es hier nicht nur mit einem bloß quantitativen Speicherproblem zu tun haben, sondern mit einer die Gesellschaft stratifizierenden Qualitätsbestimmung von Kultur: „Wir müssen also unterscheiden zwischen einer repräsentativen und einer exklusiven Elitekultur.“ (Kulturelles Gedächtnis (1992), S.153), S.150) – Eine solche limitische Struktur überträgt das dualistische Körper-Geist-Schema – als idealistischer Verhältnisbestimmung des Körperleibs – auf die Kultur. Die Menschen werden kulturell in zwei Klassen geteilt: den ‚Leib‘, also diejenigen, die für die leiblichen Bedürfnisse zu sorgen haben, und den ‚Geist‘, also diejenigen, die für die geistigen Bedürfnisse zu sorgen haben. Assmann beteiligt sich an so einer ideologischen Spaltung der Gesellschaft nicht. Aber der stratifizierende Mechanismus ist doch derselbe.

Seiner ersten These vom von außen nach innen wachsenden Ich stellt Assmann nun dialektisch eine zweite These gegenüber: „Kollektive oder Wir-Identität existiert nicht außerhalb der Individuen, die dieses ‚Wir‘ konstituieren und tragen. Sie ist eine Sache individuellen Wissens und Bewußtseins.()“ (Kulturelles Gedächtnis (1992), S.131)

So sehr diese These für sich gesehen unserer eigenen Verhältnisbestimmung des Körperleibs nahekommt, beinhaltet sie letztlich doch eine dem Schema vom Ganzen und seinen Teilen folgende dialektische Bestimmung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft: „These 1 behauptet den Vorrang des Ganzen vor dem Teil, These 2 den des Teils vor dem Ganzen. Es handelt sich um die in der Sprachwissenschaft wohlbekannte Dialektik von Dependenz und Konstitution (oder Deszendenz und Aszendenz). Der Teil hängt vom Ganzen ab und gewinnt seine Identität erst durch die Rolle, die er im Ganzen spielt, das Ganze aber entsteht erst aus dem Zusammenwirken der Teile.“ (Kulturelles Gedächtnis (1992), S.131)

Assmanns These unterscheidet sich also von unserer Verhältnisbestimmung: statt einer einseitigen Fundierung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft haben wir eine gleichursprüngliche, wechselseitige Fundierung von Individuum und Gesellschaft vorliegen, von der aus der dialektische Prozeß zwischen Individuum und Gesellschaft gedeutet wird. Diese Aufhebung des einseitigen Fundierungsverhältnisses spiegelt die Andersartigkeit dieses Zugangs zum Menschen wider, da von der Gesellschaft aus der Körperleib weder in seiner arbeitsteiligen Anatomie noch als organischer Funktionszusammenhang in den Blick kommen kann.

Wenn ich die „limitische Struktur“ des kulturellen Gedächtnisses auf ihr Urbild im Körperleib mit seiner exzentrischen Positionalität zurückführe, so meine ich damit, daß der Mensch auf ein sichtbares Gegenüber angewiesen ist, um sich dazu verhalten, sprich: sich dazu positionieren zu können. Zu seiner Lebenswelt kann er sich nicht verhalten. Er verbleibt in seiner animalischen Verhaftung in der Mitte der Lebenswelt ihr gegenüber unbeweglich. Die einzige Möglichkeit des Menschen in einer mündlichen Kultur, die noch über kein kulturelles Gedächtnis verfügt, sich zu seiner Lebenswelt zu verhalten, ist, da er nicht aus dieser Lebenswelt heraus kann (so wie er nicht aus seiner ‚Haut‘ heraus kann), sich dem anderen, fremden ‚Menschen‘ – sprich: einer fremden Lebenswelt – gegenüber zu stellen und sich so davon abzusetzen, um so zu einem Selbstverhältnis zu kommen. In der noch lebensweltlichen Formung eines Selbstbilds ist diese Absetzung gegenüber dem sichtbaren Anderen deshalb so ursprünglich zentral, weil die eigene kulturelle Gestalt durch weitgehende Verschmelzung mit den lebensweltlichen Mechanismen unsichtbar bleibt.

Daß sich diese lebensweltliche Gewöhnung an Spiegelungsprozessen – zumal in Kombination mit Machtinteressen – auch auf die Herausbildung einer eigenständigen Gedächtniskultur überträgt, ist dann nicht mehr weiter verwunderlich. Hier bedarf es der zusätzlichen Schulung eines individuellen Verstandesgebrauchs, um eine individuelle Auseinandersetzung mit dem kulturellen Gedächtnis zu befördern.

Um sich in einer mündlichen Kultur zu sich selbst exzentrisch positionieren zu können, bedarf der Mensch also des Anderen als Fremden. Nur so kann er seine im Körperleib vorgegebene Grenzbestimmung in eine selbstbewußte gesellschaftliche Haltung übertragen.

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Montag, 7. Februar 2011

Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität, München 6/2007 (1992)

1. Lebenswelt als „Einheit von Gesellschaft und Gedächtnis“
2. Der Körperleib als Urbild aller Grenzbestimmungen
3. Nachtrag: Zirkulation von Sinn und Serienproduktion

Nachdem ich im letzten Post die Lebenswelt mit dem kommunikativen Gedächtnis gleichgesetzt habe, stellt sich nun natürlich in gewisser Weise die Frage, ob wir diesen Begriff überhaupt noch brauchen und nicht gleich vom kommunikativen Gedächtnis sprechen können, was natürlich auch umgekehrt gilt: warum noch vom kommunikativen Gedächtnis reden, wenn wir die damit verbundenen Phänomene einfach auch als Lebenswelt bezeichnen können. Zunächst bleibt festzuhalten, daß wir es hier mit einem Übergangsbereich zu tun haben zwischen einem bewußtseinphilosophischen und einem kulturwissenschaftlichen Zugang zum Menschen. Aus altertumswissenschaftlicher Sicht haben wir es in erster Linie mit kulturellen Lebensformen zu tun, von denen aus man sich an das individuelle Bewußtsein heranarbeitet. Aus bewußtseinsphilosophischer Sicht haben wir es vor allem mit subjektiven Weltverhältnissen zu tun, von denen aus man sich an soziale Strukturen heranarbeitet.

Nun könnte man beide Sichtweisen für einander gleichwertig halten, in dem Sinne, daß – gleichgültig von welcher Richtung aus wir uns den mit ‚Lebenswelt‘ bzw. ‚kommunikatives Gedächtnis‘ beschriebenen Phänomenen nähern – man letztlich doch mit verschiedenen Begriffen über dasselbe redet. Das sehe ich aus zwei Gründen nicht so. Erstens aus wissenschaftspolitischen Gründen: die Bewußtseinsphilosophie wurde lange von seiten der Philosophie und aktuell wieder von biologistischen Ansätzen (Neurobiologie) aus gerne als eine veraltete, längst erwiesenermaßen unangemessene Beschreibungsweise des Menschen abgetan. Schon wissenschaftspolitisch ist also Bewußtseinsphilosophie der gesellschaftswissenschaftlichen unterlegen.

Zweitens bin ich aber davon überzeugt, daß es eigentlich genau umgekehrt ist: nicht nur die gesellschaftswissenschaftlichen, sondern auch die kulturwissenschaftlichen Beschreibungen des Menschen sind einseitig fundiert im individuellen Bewußtsein des Menschen, – das ich mit Plessner insbesondere auf die Grenzbestimmung des Körperleibes zurückführe. ‚Einseitig fundiert‘ heißt: es gibt keine Dialektik der Gleichursprünglichkeit zwischen individuellem Körperleib und dem ganzen gesellschaftlichen und kulturellen Komplex. Vielmehr müssen wir diesen Komplex in seinen Möglichkeiten und Grenzen allererst vom Körperleib her begründen, bevor man den umgekehrten Weg gehen und das individuelle Bewußtsein vom Sozialen her begründen und bestimmen kann.

Da ich nun die Lebenswelt vor allem als Bewußtseinsphänomen verstanden wissen will, möchte ich gerne an diesem Begriff festhalten, denn der Begriff des kommunikativen Gedächtnisses verweist weniger auf das individuelle Bewußtsein als auf dessen soziale Determiniertheit und Funktionalität. Lebenswelt meint im Rahmen einer Kennzeichnung des Menschen als exzentrischer Positionalität dessen Positionierung in der Mitte einer Welt, also seine naive Unmittelbarkeit, die es ihm unmöglich macht, diese Welt in Frage zu stellen. Diese zentrale Positionierung hält seiner exzentrischen Positionierung als Peripherie, seinem der-Welt-gegenübergestellt-Sein, die Waage. Dies ist es, was ich Haltung nenne und was ich im Falle der Eigenständigkeit unserer Urteilskraft als Wechselverhältnis von Naivität und Kritik bezeichne. Das kommunikative Gedächtnis bringt weder dieses Drin-Sein in der Mitte der Lebenswelt noch das Draußen-Sein der Welt gegenüber zum Ausdruck. Es beschreibt eine vernetzte Struktur und beinhaltet weder eine individuelle Positionsbestimmung (als Person) noch eine gemeinschaftliche Horizontbestimmung (als Lebenswelt).

In diesem Post möchte ich noch einmal auf die Ähnlichkeiten in der Begrifflichkeit von Lebenswelt und Gedächtnis eingehen. Dabei beziehe ich mich auf Assmanns „Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität“ (1992).

Assmann beschreibt die Differenz zwischen mündlichen und schreibenden Dichtern: „Für den mündlichen Dichter ist die Tradition nicht ‚außen‘: sie geht durch ihn hindurch und erfüllt ihn von innen. Der schreibende Dichter hingegen sieht sich der Tradition von außen gegenüber und fühlt sich auf sein innerstes Selbst angewiesen, um sich ihr gegenüber behaupten zu können.“ (Kulturelles Gedächtnis (1992), S.99) – Hier haben wir genau die zwei verschiedenen, der Exzentrizität entsprechenden Positionen: der mündliche Dichter befindet sich mitten in der Lebenswelt, also einer Kultur, die noch kein schriftliches Gedächtnis hervorgebracht hat, während der schreibende Dichter sich seiner schriftlichen Kultur gegenübergestellt sieht, also exzentrisch positioniert ist. Denn: „Erst durch die Schriftform gewinnt die Überlieferung eine Gestalt, der gegenüber sich ihre Träger kritisch verhalten können.()“ (Kulturelles Gedächtnis (1992), S.100)

Die Lebenswelt wird als eine „kulturelle Formation“ dargestellt, mit der „von Haus aus eigene(n) Tendenz, über die Konventionalität und Kontingenz, d.h. die Auch-anders-Denkbarkeit ihrer Wirklichkeitskonstruktionen, den Schleier der Vergessenheit zu breiten“. (Vgl. Kulturelles Gedächtnis (1992), S.136) Diese Tendenz „erklärt sich aus der natürlichen Kulturangewiesenheit des Menschen.“ (ebenda) Das Tier nämlich „ist durch seine Instinkte an eine (artspezifische) Umwelt angepaßt“; der Mensch braucht stattdessen eine „symbolisch vermittelt(e) und dadurch bewohnbar“ gemachte „Welt“, eben eine Lebenswelt, als „(zweite) Natur“. (Vgl. Kulturelles Gedächtnis (1992), S.136f.)

Hinsichtlich der Zeitlichkeit der Lebenswelt erscheint es mir als besonders interessant, wie Assmann das kommunikative Gedächtnis dem kollektiven Gedächtnis zuordnet. Er spricht vom letzteren als „Bezugsrahmen“: „Zwar ‚haben‘ Kollektive kein Gedächtnis“ – ein Gedächtnis hat nur der individuelle Mensch –, „aber sie bestimmen das Gedächtnis ihrer Glieder. Erinnerungen auch persönlichster Art entstehen nur durch Kommunikation und Interaktion im Rahmen sozialer Gruppen. ... Subjekt von Gedächtnis und Erinnerung bleibt immer der einzelne Mensch, aber in Abhängigkeit von den ‚Rahmen‘, die seine Erinnerung organisieren.“ (Vgl. Kulturelles Gedächtnis (1992), S.36)

Dieser soziale „Bezugsrahmen“, in dem und auf den hin sich das individuelle Gedächtnis ‚kommunikativ‘ formiert, müßte, wenn ich das richtig verstehe, ähnlich wie die shifting baselines funktionieren und mitwandern mit den Grenzen dessen, was wir an umweltlichen und kulturellen Veränderungen individuell und intergenerationell (drei bis vier Generationen) wahrnehmen können. Die shifting baselines bezeichnen unmerkliche Veränderungen, die so langsam vor sich gehen, daß sie außerhalb der 80 bis 100 Jahre umfassenden Zeitspanne von drei bis vier Generationen liegen, innerhalb deren noch Zeitzeugen über frühere Zeiten berichten können. Alles, was außerhalb dieser Zeitspanne liegt, fällt in mündlichen Traditionen entweder dem endgültigen Vergessen anheim oder gehört zum Sagen- und Mythenrepertoire der ‚Altvorderen‘, von denen man nur noch aus Liedern und Erzählungen weiß.

Der soziale Rahmen, der das individuelle Gedächtnis formiert, ist also deckungsgleich mit der Lebenswelt, in der wir uns bewegen. Ihre Zeitspanne besteht in der mitwandernden und deshalb zeitlosen ‚Gleichzeitigkeit‘ von den genannten drei bis vier Generationen. Der Rahmen ändert sich nie, weil sich nie eine Generation und kein einzelner Mensch je außerhalb dieses Rahmens befindet. Das ist genau der Grund, warum globale ‚Katastrophen‘ wie die Klimaveränderung immer wieder auf Skepsis stoßen. Die mit ihnen einhergehenden Veränderungen liegen nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich so weit auseinander, daß sie für das individuelle Gedächtnis nicht ‚kommunizierbar‘ sind. Dazu bedarf es eines kulturellen Gedächtnisses, das über die lebensweltliche Begrenztheit des Bezugsrahmens hinausreicht.

Auf den historischen Zeitpunkt einer kulturellen Freisetzung der anthropologisch im Körperleib angelegten individuellen Urteilskraft verweist folgende Textstelle: „Im Zusammenhang mit dem Schriftlichwerden von Überlieferungen vollzieht sich ein allmählicher Übergang von der Dominanz der Wiederholung zur Dominanz der Vergegenwärtigung, von ‚ritueller‘ zu ‚textueller Kohärenz‘. Damit ist eine neue konnektive Struktur entstanden. Ihre Bindekräfte heißen nicht Nachahmung und Bewahrung, sondern Auslegung und Erinnerung. An die Stelle der Liturgie tritt die Hermeneutik.“ (Kulturelles Gedächtnis (1992), S.17f.) – Indem so ein „Umgang mit fundierenden Texten: auslegend, nachahmend, lernend und kritisierend“ möglich wird (vgl. Kulturelles Gedächtnis (1992), S.102), kommt die individuelle Urteilskraft zu ihrem Recht. Der Mensch beginnt seinen Verstand zu gebrauchen, innerhalb des lebensweltlichen ‚Rahmens‘, aber in zunehmendem Maße auf individuelle Weise. Denn nicht, daß wir ihm nicht entkommen, ist das Entscheidende, sondern ob und wie wir um ihn wissen.

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Samstag, 5. Februar 2011

Jan Assmann, Religion und kulturelles Gedächtnis, München 3/2007 (2000)

(Einführung: Was ist das „kulturelle Gedächtnis“?, S.11-44; Unsichtbare Religion und kulturelles Gedächtnis, S.45-61; Monotheismus, Gedächtnis und Trauma. Reflexionen zu Freuds Moses-Buch, S.62-80; FünfStufen auf dem Wege zum Kanon. Tradition und Schriftkultur im alten Israel und frühen Judentum; S.81-100; Erinnern, um dazuzugehören. Schrift, Gedächtnis und Identität, S.101-123; Kulturelle Texte im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, S.124-147; Text und Ritus. Die Bedeutung der Medien für die Religionsgeschichte, S.148-166; Officium memoriae: Ritus als Medium des Denkens, S.167-184; Zitathaftes Leben. Thomas Mann und die Phänomenologie der kulturellen Erinnerung, S.185-207; Ägypten in der Gedächtnisgeschichte des Abendlandes, S.210-222)

1. Oberfläche und Tiefe
2. Haltung und „vertikale Verankerung“
3. Lebenswelt und Gedächtnis

Nachdem wir zwischen Bewußtsein und Gedächtnis differenziert haben (siehe meinen Post „Oberfläche und Tiefe" vom 04.02.11), müssen wir jetzt noch auf die Differenz von Lebenswelt und Gedächtnis eingehen. Das fällt insofern leicht, als ich schon einmal die Lebenswelt als ein Bewußtseinsphänomen (siehe meinen Post vom 23.01.11) beschrieben hatte und zwischen Lebenswelt und Gedächtnis insofern dieselbe Differenz besteht wie zwischen Bewußtsein und Gedächtnis. Diese Differenz können wir hier noch einmal dahingehend pointieren, daß die Lebenswelt, anders als das kulturelle Gedächtnis, keinen Außenhorizont hat (den Außenhorizont des kulturellen Gedächtnisses bildet die Schrift (vgl. Kulturelles Gedächtnis 2000, S.106f.)).

Aus diesem Merkmal ergeben sich nun mehrere Konsequenzen. Zunächst wäre festzuhalten, daß die Lebenswelt nicht tradiert bzw. überliefert wird, jedenfalls nicht im Sinne einer bewußten Traditionspflege, wie sie zum kollektiven und kulturellen Gedächtnis gehört. Denn Lebenswelt findet auch dort statt und wird auch dort ‚überliefert‘, wo nicht rezipiert wird. Die Lebenswelt bildet also keinen ‚Text‘ im Sinne Assmanns, demzufolge wie auch immer gespeicherte Symbol- und Zeichensysteme nur durch Rezeption zu Texten werden. Außerdem beinhaltet zwar die Lebenswelt notwendigerweise, daß sie nur unbewußt, also hinter unserem Rücken ‚funktioniert‘, aber diese Unbewußtheit hat keine zeitliche ‚Tiefe‘, wie das kulturelle Gedächtnis: „Das kulturelle Gedächtnis umfaßt ... das Uralte, Abgelegene, Ausgelagerte“ (vgl. Kulturelles Gedächtnis 2000, S.41). – Damit ist also das Unbewußte des kulturellen Gedächtnisses um einige Ebenen tiefer anzusetzen als die Lebenswelt.

Die Lebenswelt befindet sich also außerhalb der Zeit. Sie ist ähnlich dem Mythos (vgl. Kulturelles Gedächtnis 2000, S.192) eine zeitlose Dimension, aber anders als der Mythos beinhaltet ihre Zeitlosigkeit eben keine Tiefe. Es ist einfach der Unterschied, ob etwas niedergeschrieben und dann vergessen wurde, um so eine Dimension des kulturellen Unbewußten zu formen, oder ob lebensweltliche Mechanismen hinter unserem Rücken unser Denken beeinflussen.

Wenn die Lebenswelt mit einer Gedächtnisfunktion in Verbindung gebracht werden kann, dann vor allem mit dem kommunikativen Gedächtnis. Das kommunikative Gedächtnis ist mit dem individuellen Bewußtsein identisch, insofern seine Mechanismen unsere Wahrnehmung und unser Erleben strukturieren. (vgl. Kulturelles Gedächtnis 2000, S.13f., 108ff., S.116f.) Wir sehen und wir erleben – mehr oder weniger – das, was wir in bestimmte vorgeprägte Muster einfügen können. (vgl. Kulturelles Gedächtnis 2000, S.189u.ö. (hier gehört natürlich ein Verweis auf meinen Post vom 23.01.11 hin)) Das hier von mir dazwischen geschobene „mehr oder weniger“ bildet dabei den Spielraum der individuellen Urteilskraft.

Exakt so wie Assmann das kommunikative Gedächtnis beschreibt, funktioniert auch die Lebenswelt. Aus dieser Funktionsweise des kommunikativen Gedächtnisses bzw. der Lebenswelt ergibt sich, daß es bzw. sie ‚unsichtbar‘ ist, was nur ein anderes Wort für ‚unbewußt‘ ist, uns aber weitere Aufschlüsse über die Funktionsweise gibt. So verweist Assmann z.B. auf Ethnologen, die, um den ältesten Menschheitskulturen auf die Spur zu kommen, sich vor allem bei Völkern umschauen, die noch in mündlichen Kulturen leben, und das nicht etwa in erster Linie, weil mündliche Kulturen per se älter sind als Schriftkulturen, sondern weil sich „im Schutz der Unsichtbarkeit des Gedächtnisses archaische Kulturbestände erhalten haben könnten.“ (Vgl. Kulturelles Gedächtnis 2000, S.103)

Der Grund dafür liegt darin, daß diese Völker ihren Kulturbesitz noch nicht in sichtbarer Gestalt vor Augen haben. Ihr Kulturbesitz ist noch identisch mit ihrer Lebenswelt. Das Vergessen ist für sie deshalb noch kein Problem, zumindestens aus ihrer Innenperspektive heraus, – denn wenn sie etwas ‚vergessen‘, so wissen sie nichts davon, und es ist so endgültig weg, daß es nicht wiederentdeckt werden kann. Auch im Laufe der Zeit auftretende Variationen des Kulturbestandes werden aufgrund der fehlenden Sichtbarkeit nicht bemerkt. Wenn eine Variation auftritt, so ist sie schon im Moment ihres Auftretens schon immer dagewesen. Erst mit der Sichtbarkeit des Kulturbestandes können Veränderungen bemerkt und sogar als Innovation angestrebt werden: „Erst durch die Schriftform gewinnt die Überlieferung eine Gestalt, gegenüber derer sich ihre Träger kritisch und innovativ verhalten können.“ (Kulturelles Gedächtnis 2000, S.142)

Da also mündliche Kulturen Variation nicht aktiv wollen und experimentell umsetzen können, weil die Kultur als Lebenswelt praktiziert wird, und nicht als bewußte Tradition, sind mündliche Kulturen insgesamt viel langlebiger als Schriftkulturen, und ihre Epochenwechsel liegen viel weiter auseinander: „Die Perioden der Ur- und Frühgeschichte zählen nach Jahrtausenden und -zehntausenden.“ (Kulturelles Gedächtnis 2000, S.102) – Genau dieser langsame Wechsel der Epochen ist es, was mündliche Kulturen für Ethnologen so interessant macht.

Erst die Schriftkultur bringt also eine neue Sichtbarkeit in die Welt des Menschen und eröffnet ihm eine neue Perspektive außerhalb seiner Lebenswelt, einen neuen Außenhorizont. Um dem nun auftretenden Innovationsdruck entgegenzutreten, wird innerhalb des Kulturbestandes noch einmal ein bestimmter kultureller Textbestand ‚geheiligt‘, sprich kanonisiert. So „wird Kultur zu einer Insel im Ozean des Vergessens, die Kontinuität über Jahrhunderte, ja Jahrtausende ermöglicht.“ (Vgl. Kulturelles Gedächtnis 2000, S.105; vgl. auch S.133f., 142, 145f.) Die Heiligung bzw. Kanonisierung eines bestimmten kulturellen Textbestandes wirkt also ähnlich stabilisierend wie die lebensweltliche Unsichtbarkeit mündlicher Kulturen.

Die unsichtbare Lebenswelt funktioniert letztlich wie eine „unsichtbare Religion“, und diese ist aufgrund ihrer Unsichtbarkeit „säkularisierungsresistent“. (Vgl. Kulturelles Gedächtnis 2000, S.115) Umso wichtiger ist es, ihr so viel wie möglich auf die Spur zu kommen, denn sie ist es, die uns am Gebrauch des eigenen Verstandes hindert. Zugleich aber bildet sie geradezu eine Voraussetzung unseres Verstandes, weshalb ich immer von einem Wechselverhältnis von Naivität und Kritik spreche.

Es gibt aber noch einen weiteren Aspekt, der mit der Unsichtbarkeit der Lebenswelt verbunden ist. Wir kennen inzwischen Plessners „Noli me tangere“, mit dem er das Bedürfnis der Seele nach Unsichtbarkeit beschreibt. In dem Moment, wo die Seele durch einen Mißbrauch von Intimität oder durch ein Versagen gesellschaftlicher Umgangsformen sichtbar wird, wird sie traumatisiert. Die Lebenswelt ist so etwas wie die Seele einer Gemeinschaft. Auch sie wird durch Sichtbarkeit ‚beschädigt‘, allerdings nur, um sich aufs neue zu verbergen und in eine neue Form lebensweltlicher Unsichtbarkeit zurückzuziehen. Nicht umsonst liest man immer wieder Berichte über die Weigerung von ‚Naturvölkern‘, sich photographieren zu lassen. Die damit verbundene Angst, es könnte einem die Seele geraubt werden, ist weniger abergläubisch als man als aufgeklärter ‚Europäer‘ denkt.

Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit bilden also eine Grenze der Lebenswelt. Die Lebenswelt ist prinzipiell unsichtbar, weil sie nur hinter unserem Rücken, also außerhalb unseres Blickfeldes funktioniert. Deshalb kann sie auch nie eine Gestalt annehmen, z.B. als kulturelles Gedächtnis und schon gar nicht als kultureller Text. Die Lebenswelt bildet kein ‚formatives‘ Wissen; sie tritt überhaupt nicht als Wissen auf, also auch nicht als normatives Wissen. Ethnologen und Altertumswissenschaftler haben bei der Erforschung archaischer Lebensformen einfach den Vorteil, den jeweiligen Lebenswelten von außen gegenüberzutreten und dort ‚Gestalten‘ zu erkennen, wo die ‚indigenen‘ Bevölkerungen nur ihre Innenperspektive zur Verfügung haben. Auch dies ist ein weiterer Grund, warum ein Altertumswissenschaftlicher wie Jan Assmann wohl niemals Nihilist sein kann. Er muß sich einfach dem Faktum stellen, daß, wo und wann immer Menschen gelebt haben, ihr ganzes Leben lang und über Generationen hinweg Sinn hervorgebracht und akkumuliert wurde.

Der Nihilismus von Günther Anders war genährt von der Vernichtungsgewalt der Atombombe. Inzwischen sind aber viele neue Generationen herangewachsen und es sind mehr als 60 Jahre seit Hiroshima und Nagasaki ins Land gegangen. Die Menschen haben gelebt und gehandelt, sicher so – da wäre Anders rechtzugeben –, als wären sie Nihilisten und als gäbe es keine Zukunft, jedenfalls keine, für die man sich verantwortlich fühlt. Aber unvermeidlich wurde auch sinnhaft gelebt, und diesen Sinn zu leugnen, wäre nur eine weitere Form der Menschenfeindlichkeit und Inhumanität. Und Anders selbst wäre der letzte, der sich eine so menschenfeindliche Haltung durchgehen ließe.

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Jan Assmann, Religion und kulturelles Gedächtnis, München 3/2007 (2000)

(Einführung: Was ist das „kulturelle Gedächtnis“?, S.11-44; Unsichtbare Religion und kulturelles Gedächtnis, S.45-61; Monotheismus, Gedächtnis und Trauma. Reflexionen zu Freuds Moses-Buch, S.62-80; FünfStufen auf dem Wege zum Kanon. Tradition und Schriftkultur im alten Israel und frühen Judentum; S.81-100; Erinnern, um dazuzugehören. Schrift, Gedächtnis und Identität, S.101-123; Kulturelle Texte im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, S.124-147; Text und Ritus. Die Bedeutung der Medien für die Religionsgeschichte, S.148-166; Officium memoriae: Ritus als Medium des Denkens, S.167-184; Zitathaftes Leben. Thomas Mann und die Phänomenologie der kulturellen Erinnerung, S.185-207; Ägypten in der Gedächtnisgeschichte des Abendlandes, S.210-222)

1. Oberfläche und Tiefe
2. Haltung und „vertikale Verankerung“
3. Lebenswelt und Gedächtnis

In diesem Post möchte ich näher auf die Exzentrizität des kulturellen Gedächtnisses eingehen. Dazu gehört allererst, daß wir uns klar darüber werden, daß es trotz dessen im folgenden aufgezeigten, insbesondere über die Schrift ermöglichten Exzentrizität nur einen realen Träger dieses Gedächtnisses gibt: „Weder die Gruppe, noch gar die Kultur ‚hat‘ in diesem Sinne ein Gedächtnis. So zu reden, wäre eine unzulässige Mystifikation. Nach wie vor ist der Mensch der einzige Träger des Gedächtnisses. Worum es geht, ist die Frage, in welchem Umfang dieses einzelne Gedächtnis sozial und kulturell determiniert ist.“ (Kulturelles Gedächtnis 2000, S.19)

Wenn wir also von einem universalisierten Bindungsgedächtnis im Sinne des kulturellen Gedächtnisses sprechen und damit von der Möglichkeit eines bestimmten, in der Vergangenheit verankerten Zukunftsbezugs, so heißt dies, daß wir es hier mit einer Extension der im Körperleib begründeten exzentrischen Positionalität des individuellen Menschen als Person zu tun haben. Mit der individuellen Person ist aber nach Plessner ein Ganzes aus Körper, Seele und Geist gemeint, wofür ich bislang den Begriff der Haltung verwendet habe und auch weiterhin verwenden werde. Den Begriff der Haltung möchte ich nun aber im Sinne des kulturellen Gedächtnisses mit dem Begriff der „vertikalen Verankerung“ (vgl. Kulturelles Gedächtnis 2000, S.189, 199f., 202f., 206f.) ergänzen.

Als ‚Haltung‘ hatte ich bisher die mit der exzentrischen Positionalität des Menschen verbundene Notwendigkeit bezeichnet, sich zu seiner Körperlichkeit zu verhalten. Dabei ging es zum einen um den konkreten Bezug zu bestimmten Situationen und zum anderen um die grundsätzliche ‚Verhältnismäßigkeit‘ des Bezugs zur Welt, d.h. zur Sinnhaftigkeit der Welt, wobei ich hier noch nicht eigens zwischen Erinnerung (Gedächtnis) und Wahrnehmung differenziert hatte. Mit ‚Haltung‘ meinte ich ein sich-Halten im sinnleeren und insofern einem impliziten Nihilismus durchaus nahestehenden ‚Raum‘, dem ich keine eigene Substanz zusprechen möchte. Denn die Grenze zwischen Körper und Leib, an der sich diese exzentrische Position, dieser leere Raum eröffnet, hat zwar ihre materielle (biologische) Grundlage am Körper, aber mit der exzentrischen Positionierung zu dieser Grenze ergibt sich weder eine neue ‚Materie‘ noch eine metaphysische Substanz, sondern lediglich eine neue Struktur bzw. eine ‚Gestalt‘.

Nun gibt es aber nicht nur eine Haltung im ‚Raum‘, sondern auch in der ‚Zeit‘, und damit ist eben der Bezug zum kulturellen Gedächtnis gemeint. Das kulturelle Gedächtnis beinhaltet für unsere erweiterte Sicht auf die Haltung zwei wesentliche Momente: ein kulturelles bzw. kollektives Unbewußtes und eine Erweiterung des Situationsbegriffs: die „zerdehnte Situation“ (vgl. Kulturelles Gedächtnis 2000, S.126-130, 141f., 144f.)

Das Unbewußte und die zerdehnte Situation ergeben sich aus dem Übergang von mündlichen zu schriftlichen Kulturen. Ein kollektives bzw. kulturelles Unbewußtes gab es zwar auch schon in mündlichen Kulturen, da es auch hier schon spezifische Mnemotechniken gab, zu denen nur ausgewählte Gedächtnisspezialisten wie z.B. Priester und Barden Zugang hatten, so daß der übrigen Bevölkerung eine Teilnahme am kulturellen Gedächtnis nur an bestimmten Festtagen möglich war und ihnen auch dann nur eine Auswahl des kulturellen Gedächtnisses vergegenwärtigt wurde. Aber erst die Schrift ermöglichte es, ‚Texte‘ aufzubewahren, die wirklich in Vergessenheit geraten konnten. Assmanns Textbegriff beinhaltet, daß nur jene Zeichensysteme als ‚Text‘ bezeichnet werden dürfen, die wirklich gelesen bzw. vorgetragen werden. Der Textbegriff hängt an der Wiederholung. Wird er nicht wiederaufgegriffen, also wiederholt, handelt es sich nicht um einen Text. (Vgl. Kulturelles Gedächtnis 2000, S.127u.ö. (Interessant wäre es hier übrigens, diesen Textbegriff auch auf den Hypertext und auf das Internet zu beziehen und entsprechend zu variieren. Schließlich hat auch das Internet ein Gedächtnis!))

Bei vergessenen ‚Texten‘, an die sich nicht einmal mehr Schriftgelehrte und andere Schriftexperten erinnern, handelt es sich also gar nicht mehr um Texte in diesem Sinne. Dennoch besteht aufgrund der Schriftlichkeit die Möglichkeit, daß sie wiederentdeckt werden und dann aufgrund ihrer Unzeitgemäßheit – weil sie eben nicht mehr zum kulturellen Kanon gehören – eine ‚subversive‘ Wirkung entfalten können: „Das kulturelle Gedächtnis umfaßt im Gegensatz zum kommunikativen Gedächtnis das Uralte, Abgelegene, Ausgelagerte und im Gegensatz zum kollektiven und Bindungsgedächtnis das Nichtinstrumentalisierbare, Häretische, Subversive, Abgespaltene. Mit dem Begriff des kulturellen Gedächtnisses ist die äußerste Entfernung von dem erreicht, was unseren Ausgangspunkt gebildet hat: das individuelle Gedächtnis in seinen neuronalen und sozialen Bedingungen.“ (Kulturelles Gedächtnis 2000, S.41)

Mit dieser Qualität der speziell der Schriftlichkeit verdankten Aufbewahrung von nicht mehr gelesenen und schließlichen vergessenen ‚Texten‘ hängt der Begriff der „zerdehnten Situation“ zusammen. Zur unmittelbaren Situation gehört die konkrete beidseitige Anwesenheit von Sprecher und Hörer. Wo diese nicht mehr gegeben ist, und das beginnt schon beim Boteninstitut (vgl. Kulturelles Gedächtnis 2000, S.130), bei dem es sich darum handelt, Botschaften mithilfe eines Kuriers über einen räumlichen Abstand hinweg zu ‚senden‘, wird die unmittelbare Situation ‚gedehnt‘. Mit der Schriftlichkeit besteht nun nicht nur die Möglichkeit, große räumliche Strecken, sondern auch große zeitliche Strecken zu überwinden, sich also einerseits als Autor an potentielle Leser in einer fernen Zukunft zu richten oder als Leser verlorengegangene Schriften wiederzuentdecken und als bedeutsam für die eigene Zeit wahrzunehmen und wiederzubeleben. Solche Schriften wurden z.B. zur Zeit des Alten Testaments im Rahmen des Deuteronomiums ‚wiederentdeckt‘. (Vgl. Kulturelles Gedächtnis 2000, S.120) Und im Mittelalter wurden die Schriften des Aristoteles ‚wiederentdeckt‘, mit allen damit verbundenen sozialen und kirchenpolitischen Folgen.

Man kann also mit guten Gründen von einem kulturellen Unbewußten sprechen: „Mit dem kulturellen Gedächtnis eröffnet sich die Tiefe der Zeit.“ (Kulturelles Gedächtnis 2000, S.37) – Schon diese über die Schrift vermittelte Trennung von Sprecher und Hörer in Autor und Leser berechtigt, wie ich finde, von einer dem kulturellen Gedächtnis eigenen exzentrischen Positionalität zu sprechen, wobei an die Stelle des Körperleibs die Schrift als materielle Basis dieser neuen Grenzbestimmung tritt. Und die Grenze verläuft hier zwischen dem (noch) ungelesenen Textkörper und dem durch das Lesen wiederaufgenommenen, zum ‚Leben‘ erweckten Text. Hier haben wir eine wirkliche Analogie vorliegen.

Der Begriff der zerdehnten Situation trifft sich übrigens mit Plessners Beschreibung des Geistes. So wie der kulturelle Text sich über die raumzeitlichen Begrenzungen der unmittelbaren Kommunikationssituation erhebt (vgl. Kulturelles Gedächtnis 2000, 127) und einen Standort oberhalb (wahlweise auch ‚unterhalb‘, eben exzentrisch) konkreter Situationen einnimmt, hebt auch der ‚Geist‘ bzw. – bei ihm gleichbedeutend – die ‚Kultur‘ die „raumzeitliche Verschiedenheit der Standorte“ auf. (Vgl. „Stufen“, S.304f.)

Kommen wir nun zur vertikalen Verankerung als Form einer Haltung in der Zeit. Assmann greift in diesem Zusammenhang eine Begriffsbildung von Ernst Kris, einem Thomas-Mann-Interpreten, auf: die „gelebte Vita“. (Vgl. Kulturelles Gedächtnis 2000, S.188) Dabei geht es darum, daß Thomas Mann in seinem Joseph-Roman ein Konzept des „zitathaften Lebens“ entwickelt. (Vgl. Kulturelles Gedächtnis 2000, S.186, 189, 199f.) Dieses zitathafte Leben besteht darin, daß wir uns in unserer Lebensführung an Vorbildern orientieren. Man kennt das auch schon vom kommunikativen Gedächtnis her, so wie es Assmann selbst beschreibt und auch Harald Welzer in seinem Buch „Das kommunikative Gedächtnis“ (2002). Wir erinnern uns an unsere Erlebnisse nicht so, wie sie sich tatsächlich ereignet haben, sondern wir orientieren uns bei unseren Erinnerungen an Büchern, die wir gelesen, und an Filmen, die wir gesehen haben, oder auch einfach nur, indem wir uns an Vorbildern, die uns geprägt haben, orientieren. So funktioniert auch das zitathafte Leben, indem wir uns unsere Biographie selber ‚basteln‘, also sie uns so zurechtlegen und auch leben, wie es uns vor dem Hintergrund einer kulturellen Folie als richtig erscheint.

So funktionierte schon der Mythos: „Der Mythos kennzeichnet zwar, Thomas Mann zufolge, in der Menschheitsgeschichte ein frühes Stadium, in der Entwicklungsgeschichte des Einzelnen dagegen ein spätes und reifes.() Gemeint ist das bewußte Begreifen, Vertiefen und Ausleben der vertikalen Verankerung des eigenen Daseins, eben das zitathafte Leben, das neben Überblick und Erinnerung auch Distanz zur Gegenwart, zur ‚horizontalen Vernetzung‘ erfordert. Die Idee des Zitathaften Lebens geht noch einen Schritt über die Stufe halbbewußten oder ‚träumerischen‘ Lebens im Mythos hinaus. Sie bezieht sich auf das Subjektiv- und Reflexiv-Werden des Mythos im lebenden Ich, das ihn dann nicht mehr einfach ausagiert, sondern – mit Thomas Mann zu reden – ‚zelebriert‘ ...“ (Kulturelles Gedächtnis 2000, S.199f.)

Die horizontale Vernetzung bezieht sich auf den Gegenwartsbezug des Menschen, und die vertikale Verankerung bezieht sich auf den über die Vergangenheit vermittelten Zukunftsbezug des Menschen. Wir haben es hier mit einer recht seltsamen Zeitdimension zu tun, die ich wiederum am besten als exzentrische Positionalität beschreiben kann. Normalerweise stellt man sich die Zeitlinie ja nicht als Vertikale, sondern als Horizontale vor, in dem Sinne, daß sich ein Gegenwartspunkt auf einem waagerechten Zeitpfeil ständig ‚vorwärts‘ bewegt. Auf der Vertikalen bewegt sich aber gar nichts, weshalb ja auch von einer ‚Verankerung‘ die Rede ist. Es ist vielmehr die Vertikale selbst, die sich bewegt, nämlich mit dem jeweiligen Menschen, der mit Hilfe dieser Vertikalen seine jeweilige biographische Gestalt zu verwirklichen versucht. Er führt diese Vertikale in seinem Lebenslauf mit sich und versucht sich dabei möglichst immer auf dem selben Punkt zu ‚halten‘, dem Punkt auf der Vertikalen nämlich, an dem er sich orientiert.

Die Vertikale besteht in einem Vergangenheitsbezug und in einem Zukunftsbezug: „Was Gleichzeitigkeit oder Zeitlosigkeit, das Ineinanderblenden von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in der Zeit, das sind Spiegelung und Entsprechung von Oben und Unten im Raum. ... Das Mythische oder Wirkliche ist am Anbeginn (also ‚unten‘ – DZ), und es ist ‚oben‘, es ‚kehrt wieder‘ und es ‚kommt herab‘.“ (S.192) – Wer sich auf dieser vertikalen Linie ‚verortet‘, lebt also in zwei Dimensionen: in der nach ‚unten‘, auf den Anbeginn der Zeit gerichteten Dimension und in der nach ‚oben‘, auf die „ebensoferne Zukunft“ gerichteten Dimension. (Vgl. Kulturelles Gedächtnis 2000, S.192) Er orientiert sich an irgendeinem, für ihn bedeutsamen mythischen „Muster“ (vgl. Kulturelles Gedächtnis 2000, S.189) und versucht dieses in seinem Leben ‚erstmalig‘ wiederzubeleben.

Für dieses scheinbare Paradox von Erstmaligkeit und Wiederholung steht der Mythos. (Vgl. Kulturelles Gedächtnis 2000, S.191) Der Mythos besteht darin, daß er immer wieder wiederholt wird, daß zugleich aber das, was wiederholt wird, sich jeweils erstmalig und einzigartig ereignet. Mythen erzählen immer von Erstmaligkeiten, die dann zum Muster werden, die in ihrer Wiederverlebendigung wiederum zu Erstmaligkeiten werden. Das hört sich seltsam an, aber jede Beispielgeschichte lebt von dieser Struktur: als einmaliger Fall für viele Fälle zu stehen, die jeder für sich wieder anders sind. Beispielgeschichten vereint das Paradox, über Individuelles zu reden, ohne es zu verallgemeinern. (Vgl. Günther Buck, Lernen und Erfahrung – Epagogik. Zum Begriff der didaktischen Induktion, Darmstadt 3/1989)

Haben wir es hier also schon von der narrativen Struktur her mit einem seltsamen Zeitmuster zu tun – das übrigens nicht nur ein Grundmuster des Mythos, sondern von Narrativität schlechthin bildet! –, so mutet es noch seltsamer an, wenn Assmann ‚Auschwitz‘ zu einem Grenzdatum unserer Erinnerungskultur erhebt, das nicht wiederholt werden darf. (Vgl. Kulturelles Gedächtnis 2000, S.36f.) Hier muß also ein narrativer Textkorpus eine gegen sein eigenes Grundprinzip gerichtete Rezeptionswirkung entfalten: nicht wiederholt zu werden!

Die vertikale Verankerung bezeichnet also eine zeitliche, die eigene Biographie formende Haltung, die darin besteht, daß wir uns auf einen Punkt auf dieser Achse hin ‚halten‘, uns also an einem bestimmten mythischen Muster orientieren. So eröffnet sich uns ein über die Vergangenheit vermittelter Zukunftsbezug, d.h. ein Lebenssinn. Wie ich schon im letzten Post anmerkte: als Altertumswissenschaftler kann man schon aus beruflichen Gründen kein Nihilist sein. Denn wer sich mit dem kulturellen Gedächtnis befaßt, befaßt sich notwendigerweise mit ‚Sinn‘. Sonst gäbe es keinen Gegenstand, den man als kulturelles Gedächtnis beschreiben könnte.

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Freitag, 4. Februar 2011

Jan Assmann, Religion und kulturelles Gedächtnis, München 3/2007 (2000)

(Einführung: Was ist das „kulturelle Gedächtnis“?, S.11-44; Unsichtbare Religion und kulturelles Gedächtnis, S.45-61; Monotheismus, Gedächtnis und Trauma. Reflexionen zu Freuds Moses-Buch, S.62-80; FünfStufen auf dem Wege zum Kanon. Tradition und Schriftkultur im alten Israel und frühen Judentum; S.81-100; Erinnern, um dazuzugehören. Schrift, Gedächtnis und Identität, S.101-123; Kulturelle Texte im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, S.124-147; Text und Ritus. Die Bedeutung der Medien für die Religionsgeschichte, S.148-166; Officium memoriae: Ritus als Medium des Denkens, S.167-184; Zitathaftes Leben. Thomas Mann und die Phänomenologie der kulturellen Erinnerung, S.185-207; Ägypten in der Gedächtnisgeschichte des Abendlandes, S.210-222)

1. Oberfläche und Tiefe
2. Haltung und „vertikale Verankerung“
3. Lebenswelt und Gedächtnis

Bei Günther Anders glaubte ich mit seiner im Zerbrechen des Generationenverhältnisses notwendig gewordenen Neubesinnung auf die Menschheit auf eine zur individuellen Leib-Körpergrenze analoge exzentrische Positionalität gestoßen zu sein. (Vgl. meinen Post vom 28.01.2011 zum homo excentricus) Dieser auf die Menschheit bezogenen exzentrischen Positionalität fehlt allerdings die materielle Basis, also eine mit dem Körperleib vergleichbare Verhältnisbestimmung. Anders bezieht die Neubestimmung von Menschheit als Handlungssubjekt auf das Faktum der mit der Atombombe jederzeit drohenden Auslöschung alles Lebens auf dieser Erde. Alles Wissen und Handeln des Menschen muß sich von nun an mit dem Bezug auf diese globale, die Menschheit als ganze einbeziehende Gefahrenlage rechtfertigen. Die Atombombe bildet also den ultimativen legitimierenden Hintergrund, vor dem sich die Gestalt der künftig noch einzig möglichen Menschheit als Überlebenssubjekt abhebt.

Aber diese Legitimitätsfolie ist in keiner Weise mit dem individuellen Körperleib vergleichbar, und deshalb kann man hier nicht wirklich, auch nicht im analogen Sinne, von einer exzentrischen Positionalität, weder der Menschheit noch von einzelnen Generationen sprechen, so sehr auch deren Handeln über den Fortbestand künftiger Generationen vorentscheidet. Deshalb habe ich versucht, mir bei einem Theoretiker des kulturellen Gedächtnisses Klarheit zu verschaffen, und ich bin bei Jan Assmann fündig geworden. Es gibt bei Assmann gewisse Parallelen zu Anders und zu Plessner, die hier sehr aufschlußreich sind. Die Parallele zu Anders besteht hauptsächlich in der Hervorhebung eines bestimmten geschichtlichen Datums, das von Assmann als eine menschheitliche Grenzmarkierung ins Zentrum aller künftigen wissenschaftlichen Forschung gestellt wird, also ähnlich der Atombombe bei Anders. Während Anders aber als Technologiekritiker mit der Atombombe sorgenvoll in die Zukunft schaut, sieht Jan Assmann als Altertumswissenschaftler (was ihn übrigens, nebenbei gesagt, schon aus beruflichen Gründen gegen jede Form von Nihilismus immun macht) mit dem Verweis auf ‚Auschwitz‘ vor allem sorgenvoll auf die Vergangenheit, – natürlich auf eine Vergangenheit mit dem ihr eigenen Zukunftsbezug: daß sie sich nicht wiederholen soll: „Auschwitz, das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte, hat längst die Dimensionen einer ‚normativen Vergangenheit‘ angenommen, die unter keinen Umständen in Vergessenheit geraten kann und darf, weil sie weit über die Erinnerungen der Täter und Opfer hinaus Sache eines solchen universalisierten Bindungsgedächtnisses und fundierendes Element einer globalen Zivilreligion geworden ist ...“ (Kulturelles Gedächtnis 2000, S.36f.)

Wichtig ist hierbei der Begriff des „universalisierten Bindungsgedächtnisses“, das auf ein Menschheitssubjekt verweist, das sein künftiges Handeln an eine Erinnerung ‚bindet‘. Es ist dieser Vergangenheitsbezug, der den Unterschied dieses Menschheitssubjekts zu jenem ausmacht, das Günther Anders beschreibt. Schwerwiegender aber als das ist, daß Assmann der Erinnerung eine materielle Basis, nämlich die Schrift, zugrundelegt, die, wie ich finde, sehr wohl eine Analogie zum individuellen Körperleib bildet und die darüberhinaus sogar als eine der exzentrischen Positionalität des Körperleibs angemessene Erweiterung des menschlichen Bewußtseins funktioniert. Dem Bindungsgedächtnis bzw. dem kulturellen Gedächtnis entspricht das, was Plessner „Geist“ nennt, also der Aspekt der Mitwelt im menschlichen Bewußtsein, was natürlich hier gleich die Frage aufwirft, wie wir in diesem und den folgenden Posts zwischen Bewußtsein und Gedächtnis differenzieren wollen.

Bewußtsein und Gedächtnis beinhalten einen je verschiedenen Doppelaspekt, der in einem wiederum unterschiedlichen Weltbezug besteht. Der Doppelaspekt des menschlichen Bewußtseins besteht darin, daß es der Welt entweder gegenübersteht, als Peripherie, oder sich mitten in ihr befindet, als Zentrum. Beides bedeutet eine Differenz zur Welt, mal eine exzentrische, also spezifisch menschliche Differenz, mal eine zentrische, also spezifisch animalische Differenz. Mal haben wir es mit einem Selbstbewußtsein und mal mit einem unmittelbaren Bewußtsein zu tun. Immer aber haben wir es mit einem Bewußtsein zu tun, dem die Welt die Gesamtheit aller möglichen Gegenstände aktueller Wahrnehmung und aktuellen Handelns ist. Niemals ist das Bewußtsein die Welt selbst.

Das Gedächtnis kann nun wie das Bewußtsein einen Weltbezug haben, als der Gesamtheit aller möglichen Gegenstände vergangener Wahrnehmungen und vergangenen Handelns; als solches bildet es ein integrales Moment des Bewußtseins. Zugleich bildet es aber eine eigene Welt, eine Innenwelt, dem gegenüber das Bewußtsein genauso exzentrisch positioniert ist wie gegenüber der Außenwelt. Das Bewußtsein ist also seinem Gedächtnis gegenüber gleichermaßen Zentrum wie Peripherie.

So sind Bewußtsein und Gedächtnis – anders als Bewußtsein und Welt – ineinander verschränkt. Denn das Gedächtnis ist keine Außenwelt, sondern eine Innenwelt. Deshalb kann das kulturelle Gedächtnis, obwohl es in erster Linie einen in kulturellen Objektivationen wie der Schrift verankerten Außenhorizont beinhaltet, einen eigenen Bewußtseinsbereich bilden: als ein die biographische Gestalt des individuellen Bewußtseins präformierendes kollektives Unbewußtes. (Vgl. Kulturelles Gedächtnis 2000, S.38, 118f., 189, 191, 196 u.ö.)

Assmann beschreibt das Bewußtsein auch als „Oberfläche“ und das Gedächtnis als „Tiefe“: „Oberfläche: das ist der Raum des Bewußtseins. ... ‚Tiefe‘ bezeichnet den dem Bewußtsein entzogenen Raum der Latenz ...“ (Vgl. Kulturelles Gedächtnis 2000, S.119) – Das ist eine sehr schöne Beschreibung der Differenz von Bewußtsein und Gedächtnis. Denn das Bewußtsein ist immer Oberfläche, also Wahrnehmung, ob es sich nun der Welt als Außenwelt zuwendet oder der Welt als Erinnerung. Begegnen ihm die Gegenstände der Außenwelt von außen her, ‚spiegeln‘ sie sich in der Wahrnehmung genauso, wie wenn sie aus der Tiefe der Erinnerung auftauchen. Bewußtsein ist also immer Bewußtsein, nämlich Oberfläche; die Welt aber ist mal Außenwelt und mal Innenwelt, also Gedächtnis, und seine Dimension ist nicht der Raum, sondern die Tiefe.

Zusammengefaßt kann man also sagen: Bewußtsein meint den Bezug zur Welt als Gesamtheit der Gegenstände möglicher Wahrnehmung und möglichen Handelns. Gedächtnis meint den Bezug zur Welt als Gesamtheit realisierter Wahrnehmungen und realisierter Handlungen. Zugleich bilden Bewußtsein und Gedächtnis ein die biographische Gestalt des Bewußtseins formendes inneres Weltverhältnis.

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