„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 9. Dezember 2011

Zur Ontologisierung der Lebenswelt

Käte Meyer-Drawe, Leiblichkeit und Sozialität. Phänomenologische Beiträge zu einer pädagogischen Theorie der Inter-Subjektivität, München 3/2001 (1984)
  1. Einseitig fundierte Wechselseitigkeit der Soziogenese und der Ontogenese?
  2. Inter-Subjektivität als Inter-Faktizität
  3. Pädagogischer Sinn und Verantwortung
  4. Naturalisierung des Sinns
  5. Differenz von Sagen und Meinen in der Theorie und in der Kommunikation
  6. Differenz von Gemeinschaft und Gesellschaft
  7. Grenzen der Lebenswelt: Krankheit und Krise
  8. Ambiguität von Häresie und Affirmation
  9. Phänomenologie als Ontologie
Ich spreche von der „Ontologisierung der Lebenswelt“ – ein Begriff, den Meyer-Drawe so nicht verwendet –, um damit die Merleau-Pontysche Verschmelzung von Leib und Lebenswelt, genauer: die Verschmelzung leiblicher und lebensweltlicher Vollzüge, zu beschreiben. Meyer-Drawe spricht von „Ontologie“ nicht im Sinne einer Seinsphilosophie, sondern um damit den „Vollzug primordialer Inter-Subjektivität“ als einer allen Bewußtseinskategorien vorausliegenden Seinsdimension zu kennzeichnen: also als ein Sein, das geschieht, nicht als Sein, das ist. Da es sich dabei durchweg um soziale Prozesse handelt, die den Leib noch vor aller subjektiven Selbstbezüglichkeit in Besitz nehmen oder sogar noch früher: schon eine ursprüngliche Weise seiner Weltzugewandtheit selbst bilden, liege ich wohl nicht ganz falsch, wenn ich hier von einer Ontologisierung der Lebenswelt spreche.

Diese Ontologisierung beinhaltet – wie in den vorangegangenen Posts gezeigt und von Merleau-Ponty und Meyer-Drawe immer wieder ausdrücklich festgehalten – die Dezentrierung und Depersonalisierung von Subjektivität, so daß der Mensch als Handlungssubjekt und damit ineins als Bezugspunkt einer individuellen Urteilskraft zumindestens an Bedeutung verliert, also geschwächt wird. (Vgl. Meyer-Drawe 1984, S.32)

Zur Subjektivität des Subjekts gehört z.B. seine Gegenwärtigkeit, also seine situative Präsenz, durch die ja auch seine Perspektivität entscheidend bestimmt ist. Beginnt bei Plessner diese Situiertheit menschlichen Bewußtseins mit der Grenzbestimmung des Körperleibs, also mit der Kennzeichnung seiner leiblichen Situiertheit als Hiatus bzw. als Bruch, so weist Merleau-Ponty den „Leib als ontologisches Fundament“ aus und durchbricht so „Präsenztheorien des Denkens, Wahrnehmens und Handelns. Unser Leib ist Vergangenheit und Zukunft zugleich. ... Unser Leib ist der Prototyp ontologischer Ambiguität: Er ist weder nur Natur noch nur Geist, weder nur sedimentierte Vor-Geschichte noch nur Skizze des zukünftigen Verhaltens, weder nur Subjekt noch nur Objekt, weder nur Idee noch nur Faktum, weder nur ‚Freiheit‘ noch nur ‚Knechtschaft‘.“ (Vgl. Meyer-Drawe 1984, S.144)

So fällt also der ontologisierte Leib aus jeder zeitlichen und geschichtlichen Ortsbestimmung heraus. Er ist weder jetzt noch früher oder später, sondern ‚vollzieht‘ alles in einem. Er ist der „Prototyp ontologischer Ambiguität“, weil er das Vollzugsmedium ist, in dem sich alle Vollzüge inkanieren: „Es geht nicht mehr darum, an die unveränderlichen Strukturen eines ruhenden Seins zu gelangen ..., sondern vielmehr die Veränderung selbst als ontologische Struktur, als Bewegung der Nicht-Identität zu begreifen.“ (Meyer-Drawe 1984, S.228) – In dieser Leibbestimmung tritt an die Stelle von Plessners Grenzbegriff des Körperleibs eine ontologische Ambiguität, die wir auch auf Fischschwärme und Menschenmassen beziehen können, die ebenfalls Vollzugsmedien bilden bzw. als Bewegungsformen der Nicht-Identität beschrieben werden können. Die harte Grenze des Körperleibs ist immer auch eine Oberflächengrenze und diese umfaßt sowohl Dinge wie auch Organismen, die in all ihren Stoffwechselprozessen der Verschmelzung widerstehen. Diese Körper geben ihre Identität nur in Ausnahmefällen auf, wenn das dem Überleben dient, wie z.B. in einem Fischschwarm.

Noch in einem anderen Zusammenhang spricht Meyer-Drawe von „Ontologie“. Dabei geht es um die Eröffnung einer theoretischen Perspektivität als Interdisziplinarität: „Wenn wir unsere phänomenologischen Beiträge zu einer pädagogischen Reflexion der Inter-Subjektivität ausdrücklich als einen ontologischen Versuch begreifen, dann zielen wir auf eine Begründungsdimension, aus der anthropologische und sozialwissenschaftliche Theoriekonzepte wie auch psychologische Erklärungsansätze die Möglichkeit einer Zusammenarbeit gewinnen.“ (Meyer-Drawe 1984, S.226) – Mit „Inter-Subjektivität als fundamentale ontologische Kategorie“ (ebenda) sollen „Möglichkeit und Wirklichkeit interdisziplinärer Forschung im pädagogischen Feld“ thematisiert werden. (Vgl. Meyer-Drawe 1984, S.227)

Meyer-Drawes Ontologisierung der Lebenswelt soll also den verschiedenen an der pädagogischen Forschung beteiligten Subdisziplinen und Nachbardisziplinen ein gemeinsames Forschungsfeld voraus setzen, also durch Eröffnung eines gemeinsamen Gegenstandes deren Disziplingrenzen gewissermaßen transzendieren. Wenn die verschiedenen Subdisziplinen und Nachbardisziplinen sich nicht mehr auf verschiedene Gegenstände, sondern auf den gleichen Gegenstand beziehen, eben auf die Inter-Subjektivität, ist die Gefahr nicht mehr so groß, daß sie, wie bisher, ständig aneinander vorbeireden.

Eine solche Aufhebung der Disziplingrenzen birgt aber nun wiederum die ganz andere Gefahr, daß ein bestimmter pädagogischer Diskurs monopolisiert wird, z.B. – wie es derzeit der Fall ist – als Empirie, die alle anderen ‚nicht-empirischen‘ Fragestellungen verdrängt. Wiederum eine Gefahr der Naturalisierung also. Geht es um eine gemeinsame Sprache, die so etwas wie Interdisziplinarität ermöglichen soll, sollte man vielleicht besser die Semantik, nicht die Ontologie bemühen. Ich denke dabei an Franz Fischers Theorie des Sinnes von Sinn. Demnach wären alle Disziplinen, nicht nur die pädagogischen, mit ihren Formelsprachen eingebettet in einen lebensweltlichen Sprechzusammenhang, und sie separieren sich aus dieser gemeinsamen Sprache, indem sie ihren Gegenständen angemessene Sondersprachen entwickeln. Diese Sondersprachen lassen an ihren ‚Rändern‘ Fragen unbeantwortet, die gleichwohl für die Beantwortung des zentralen Forschungsgegenstands nicht belanglos sind. Diese Fragen müssen die verschiedenen Disziplinen an andere Disziplinen weiterreichen, die sich ihnen mit ihren jeweiligen Möglichkeiten zuwenden und wiederum Fragen offen lassen müssen, die sie nun ihrerseits an andere Disziplinen weitergeben müssen.

Diese Fragestruktur wissenschaftlicher Interdisziplinarität bezeichnet Fischer als Sinn von Sinn, um damit auszudrücken, daß wir keine Frage isoliert beantworten können, weil jede Antwort wieder neue Fragen aufwirft. Damit ist die wissenschaftliche Forschung Teil der anthropologischen Grundstruktur, die in der unaufhebbaren Differenz von Sagen und Meinen, von Handeln und Wollen besteht. Ihr ‚Vollzug‘ als Sinnstiftung beinhaltet keinerlei Ontologie. Fischers Bezugsdisziplin ist hier, wie gesagt, die Semantik.

Ich weiß nun nicht, inwiefern Meyer-Drawe heute noch die Positionen in ihrem Buch „Leiblichkeit und Sozialität“ unverändert vertritt. In einem neueren Buch von ihr, das 24 Jahre später erschienen ist, kommt sie zu einer eher prekären Bestimmung des Verhältnisses von Phänomenologie und Irrationalität, in der sie auf Ontologie verzichtet: „Phänomenologische Bemühungen in diesem Sinne hatten und haben es diesbezüglich nicht leicht, insbesondere weil sich mit ihnen irrationalistische Tendenzen verbrüdern können, die sich in die allgemeine Klage über die Rationalisierung und Technisierung der Lebenswelt einreihen sowie nach neuen Formen der Selbstsorge verlangen. Rationalisierung und Technisierung lediglich zu verwerfen und der Sehnsucht nach einer vormodernen Idylle freien Lauf zu lassen, ist nicht der Weg von Phänomenologen. Sie predigen nicht Irrationalismus und beten die Natur an. Auch Authentizität, gebettet in eine Synthese von Kopf und Herz, sit nicht ihre Sache. Ein versöhnlicher Grund bleibt ihr versagt.“ (Käte Meyer-Drawe, Diskurse des Lernens, München 2008, S.118)

Das klingt nun so gar nicht mehr nach jener Verschmelzung von Leib und Lebenswelt, und auch die vielen Bezüge auf Helmuth Plessner, die in „Leiblichkeit und Sozialität“ völlig fehlen, deuten in Richtung auf ein etwas anders gelagertes Problembewußtsein. Doch wird die Differenz zwischen Plessner und Merleau-Ponty weder thematisch noch überhaupt bemerkt, denn letztlich zitiert Meyer-Drawe beide Autoren unterschiedslos zustimmend.

Wenn ich selbst hier – das möchte ich gerne noch abschließend anmerken – mich im Vergleich zwischen Plessner und Merleau-Ponty immer wieder auf Meyer-Drawe – und indirekt auch immer wieder auf Waldenfels – beziehe, so mache ich das mit der Freiheit eines Bloggers und Lesers, der sich auf die Bücher bezieht, die er gerade liest, ohne sich dem Zwang zu beugen, den ganzen Diskussionszusammenhang, der seit 1966 und seit 1984 sicherlich vielfältige Blüten getragen hat, zur Kenntnis nehmen zu müssen. Dazu fehlt mir die Zeit und auch die Lust. Möglicherweise wiederhole ich mit meinen Vorwürfen nur schon Altbekanntes und inzwischen vielleicht sogar Widerlegtes, so daß meine Kritik längst gegenstandslos geworden ist. Aber Seiten- und Quereinstiege in Diskussionszusammenhänge und das Wiederaufgreifen und Neubeantworten von möglicherweise längst gestellten und beantworteten Fragen ist nun einmal mein Ding. In diesem Sinne also: demnächst mehr ...

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Zur Ontologisierung der Lebenswelt

Käte Meyer-Drawe, Leiblichkeit und Sozialität. Phänomenologische Beiträge zu einer pädagogischen Theorie der Inter-Subjektivität, München 3/2001 (1984)
  1. Einseitig fundierte Wechselseitigkeit der Soziogenese und der Ontogenese?
  2. Inter-Subjektivität als Inter-Faktizität
  3. Pädagogischer Sinn und Verantwortung
  4. Naturalisierung des Sinns
  5. Differenz von Sagen und Meinen in der Theorie und in der Kommunikation
  6. Differenz von Gemeinschaft und Gesellschaft
  7. Grenzen der Lebenswelt: Krankheit und Krise
  8. Ambiguität von Häresie und Affirmation 
  9. Phänomenologie als Ontologie
In bezug auf soziales Handeln kommt Meyer-Drawe zu einer interessanten Verhältnisbestimmung, die meine eigene, die individuelle Urteilskraft ermöglichende Verhältnisbestimmung von Naivität und Kritik ins Soziale transformiert: „Die Grenzen des Erklärungswertes sozialer Handlungen durch den Regelbegriff zeigen sich darin, daß es nicht-konventionelles sinnvolles Handeln gibt, etwa dort, wo Regeln allererst übernommen werden. Soziales Handeln ist anzusiedeln in der Ambiguität von Häresie und Affirmation.“ (Meyer-Drawe 1984, S.24) – Hier wird subjektive Naivität zu lebensweltlicher „Affirmation“ und subjektive Kritik zur „Häresie“ gegenüber gesellschaftlichen Normen und Konventionen.

Natürlich stellt sich hier die Frage, worin die Möglichkeitsbedingung für diese Verhältnisbestimmung von Häresie und Affirmation liegt. Die Antwort liegt in der Art und Weise, wie „Regeln allererst übernommen werden“: als faktischer Vollzug in Form einer Inkarnation sozialen Sinns oder als subjektiver Akt aus individueller Perspektive? Eine schlichte, nicht gleich wieder ontologisierende Antwort findet sich in einem Zitat von Merleau-Ponty: „Die ‚einfache Tatsache, daß ein Mensch eine geschichtliche Situation erkennt, deren Bedeutung er für wahr hält, bringt ein Phänomen von Wahrheit ins Spiel, über das kein Skeptizismus Rechenschaft abzulegen vermag, und verbietet uns, den Folgerungen auszuweichen‘.“ (Meyer-Drawe 1984, S.233)

Die ins Soziale verschobene „Ambiguität von Häresie und Affirmation“ ist also sicherlich unter anderem ein lebensweltlicher Vollzug, als einer ersten, dem Subjekt inhärenten Naivität. Darüberhinaus eröffnet aber Merleau-Ponty auch eine andere  Perspektive, in der ein Mensch etwas schlicht und einfach für wahr hält. Dieses für-wahr-Halten setzt sich individuell aus der Wechselseitigkeit von  Naivität und Reflexion (Kritik) zusammen und bildet eine zweite Naivität, über die in der Tat „kein Skeptizismus Rechenschaft abzulegen vermag“. In ihr fällt das Subjekt nicht etwa in eine ursprüngliche Leiblichkeit zurück, es verschwindet auch nicht in irgendwelchen anonymen Vollzügen, sondern es wendet sich lediglich auf seine naiven Intentionen zurück, um sie zu Mitteln seiner individuellen Entscheidungsfindung zu machen.

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Donnerstag, 8. Dezember 2011

Zur Ontologisierung der Lebenswelt

Käte Meyer-Drawe, Leiblichkeit und Sozialität. Phänomenologische Beiträge zu einer pädagogischen Theorie der Inter-Subjektivität, München 3/2001 (1984)
  1. Einseitig fundierte Wechselseitigkeit der Soziogenese und der Ontogenese?
  2. Inter-Subjektivität als Inter-Faktizität
  3. Pädagogischer Sinn und Verantwortung
  4. Naturalisierung des Sinns
  5. Differenz von Sagen und Meinen in der Theorie und in der Kommunikation
  6. Differenz von Gemeinschaft und Gesellschaft
  7. Grenzen der Lebenswelt: Krankheit und Krise
  8. Ambiguität von Häresie und Affirmation
  9. Phänomenologie als Ontologie
Mit Merleau-Ponty beschreibt Meyer-Drawe die Ambivalenz leiblichen Zur-Welt-seins als „Dialektik“: „Indem wir leiblich existieren, sind wir weder nur Ausgedehntes noch nur Bewußtsein, weder nur Inneres noch nur Äußeres, weder nur Vergangenheit noch nur Zukünftiges, weder nur Individuelles noch nur Kollektives, weder nur notwendig noch nur kontingent, weder nur natürlich noch nur geschichtlich, weder nur objektiv-dinglich noch nur subjektiv-geistig, weder nur aktiv noch nur passiv.“ (Meyer-Drawe 1984, S.31) – Mit dieser „Dialektik“ – die erstaunlicherweise ein kleines Zugeständnis an die ansonsten geleugnete Differenz von Innen und Außen beinhaltet – kommt Meyer-Drawe dem von Plessner beschriebenen Phänomen der Doppelaspektivität nahe.

Allerdings beinhaltet Meyer-Drawes Begriff der Dialektik eine Spannung, die über eine bloße Ambivalenz hinausgeht und aus dieser Ambivalenz ein Existential macht: „Dabei ist Dialektik nicht ‚ein Verhältnis zwischen einander widersprechenden und doch voneinander unablöslichen Gedanken: sondern die Spannung der Existenz auf eine andere Existenz hin, die sie verneint, und ohne die sie doch sich selbst nicht aufrechtzuerhalten vermag‘ ... .“ (Meyer-Drawe 1984, S.18)

So stellen ‚Inneres‘ und ‚Äußeres‘ nicht mehr einen Hiatus zwischen zwei Perspektiven dar, die lediglich Richtungen von Bezugnahmen auf den Körperleib als Grenzbegriff anzeigen. (Vgl. meine Posts vom 21.10.2010 und vom 22.10.2010) Stattdessen sind in dieser Verhältnisbestimmung ‚Individuelles‘ und ‚Kollektives‘ unlösbar aneinander gebunden, so daß ein Herausfallen der Perspektive des Individuums aus der kollektivistischen Perspektive, der Lebenswelt, unmöglich wird: „Selbst in Grenzfällen unserer Existenz, wie etwa in der Krankheit, zerbrechen diese Spannungen nicht, sie gewinnen dadurch an Gewicht, daß sie einseitig in das Zentrum unseres Existierens geraten.“ (Meyer-Drawe 1984, S.31)

Während bei Nishitani das Niesen zur Erleuchtung führen kann und bei Plessner Lachen und Weinen uns als körperliche Reaktionen aus ausweglosen Situationen befreien können, führt bei Meyer-Drawe die Krankheit lediglich zu einer Verzerrung im „Zentrum unseres Existierens“. Um das Bild von der Ellipse mit ihren zwei Brennpunkten zu verwenden, das Meyer-Drawe auf die ungleiche Gewichtung von ego und tu bezieht (vgl. Meyer-Drawe 1984, S.154): auch im Falle einer Krankheit können wir nur von einer deformiertem statt von einer regelmäßigen Ellipse sprechen, nicht aber von einem grundsätzlichen Zerfall der elliptischen Spannung selbst.

Auch sonst werden körperliche Störungen – obwohl Meyer-Drawe Krisen und Störungen immer wieder ausdrücklich als positive Faktoren der menschlichen Kommunikation kennzeichnet (vgl. Meyer-Drawe 1984, S.23f., 161, 216, 226f.u.ö.) – eher negativ konnotiert und z.B. mit Gewalterfahrungen in Verbindung gebracht: „Unser Leib ist mit der Idee einer zunehmenden Perfektion nicht vereinbar, er altert, er ist der Krankheit zugänglich, er unterliegt der Gewalt, er deprivatisiert und depersonalisiert uns unaufhörlich, über ihn werden wir geknechtet und ausgebeutet.“ (Meyer-Drawe 1984, S.224)

Bei körperlichen Störungen haben wir es also mit dem krassen Gegensatz von Befreiungserfahrungen oder Erleuchtungen zu tun. Dabei gibt es aber durchaus Stellen, wo Meyer-Drawe die positive Bedeutung von „Krisen unserer Existenz“ hervorhebt, die uns die geschichtlichen und konkret-situativen Beschränkungen unseres Denkens bewußt machen und zugleich die Einsicht in die Unausweichlichkeit und sogar Vorausgesetztheit dieser Rahmung einsichtig machen. (Vgl. Meyer-Drawe 1984, S.228) Als Beispiele für solche Krisen verweist Meyer-Drawe zwar nicht auf so simple körperliche Phänomene wie das Niesen, sondern auf den Zweiten Weltkrieg oder auf die zerstörerischen Konsequenzen des wissenschaftlichen Fortschritts; aber immerhin befreit Meyer-Drawe hier die individuelle Perspektive aus ihrer lebensweltlichen „Inhärenz“ und eröffnet damit die Chance zu so etwas wie einer zweiten Naivität. (Zur zweiten Naivität vgl. meine Posts vom 14.12.2010, 24.01.2011 und 25.03.2011)

Erst wenn wir auf jede ontologische ‚Tiefe‘ in der Verhältnisbestimmung individueller und sozialer Perspektiven verzichten, wird die Differenz der individuellen Perspektive zur Sozialität in ihrer eigenen Würde sichtbar. Dann stellt sie nicht nur eine Verzerrung einer regelmäßigen Ellipse aus Individualität und Sozialität dar, sondern gehört zu einem Handlungssubjekt, das seine Perspektive zu verantworten hat. Mehr nicht, – und auch nicht weniger.

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Zur Ontologisierung der Lebenswelt

Käte Meyer-Drawe, Leiblichkeit und Sozialität. Phänomenologische Beiträge zu einer pädagogischen Theorie der Inter-Subjektivität, München 3/2001 (1984)
  1. Einseitig fundierte Wechselseitigkeit der Soziogenese und der Ontogenese?
  2. Inter-Subjektivität als Inter-Faktizität
  3. Pädagogischer Sinn und Verantwortung
  4. Naturalisierung des Sinns
  5. Differenz von Sagen und Meinen in der Theorie und in der Kommunikation
  6. Differenz von Gemeinschaft und Gesellschaft
  7. Grenzen der Lebenswelt: Krankheit und Krise
  8. Ambiguität von Häresie und Affirmation
  9. Phänomenologie als Ontologie
In Meyer-Drawes Verhältnisbestimmung von Leiblichkeit und Sozialität finden sich Parallelen zu Plessners Differenzierungen zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft. (Vgl. meine Posts vom 14.11.2010 bis 17.11.2010) So heißt es bei Meyer-Drawe zum sozialen Verstehen: „Jedes soziale Verstehen zeigt ... in seiner eröffnenden zugleich eine de-struierende Tendenz. De-Struktion meint dabei hier: Abbau von Fremdheit, Domestizierung der Andersheit.“ (Meyer-Drawe 1984, S.153) – „Abbau von Fremdheit“ entspricht der Intimität innerhalb einer Gemeinschaft, deren Mitglieder sich, wie in einer Familie, ungeachtet ihrer individuellen Verschiedenheit als einander zugehörig wahrnehmen. Diese Unbedingtheit der Zugehörigkeit unterscheidet die Gemeinschaft von der Gesellschaft, deren Mitglieder einander nur aufgrund von Rollen und Funktionen respektieren. Der Gesellschaft ist es also wesentlich, daß sich ihre Mitglieder letztlich fremd bleiben. Die gesellschaftlichen Rollen und Funktionen, die ‚Masken‘, dienen also dem Umgang unter Fremden, was man mit Meyer-Drawe auch als „Domestizierung der Andersheit“ beschreiben könnte.

Die Gemeinschaft wäre also der Ort, an dem Intimität an die Stelle von Fremdheit tritt, und Gesellschaft wäre der Ort, an dem Fremdheit an die Stelle von Intimität tritt. In der Gemeinschaft kann Fremdheit nicht toleriert werden, und in der Gesellschaft kann Intimität nicht toleriert werden. In der Gesellschaft bedeutet „Kommunikation“ deshalb „nicht eo ipso Verstehen eines Anderen, sondern Verständigung, Aushalten von Fremdheit und Durchsetzen der Eigenheit.“ (Meyer-Drawe 1984, S.153)

Das „Durchsetzen von Eigenheit“ würde allerdings nun bei Plessner bedeuten, daß sich diese „Eigenheit“ zugleich als „Maske“ tarnt. Denn wir setzen unsere Eigenheiten in der Gesellschaft nie uneingeschränkt um, weil wir sonst unser Innerstes (Intimität) der Gefahr einer Verletzung aussetzen würden. ‚Durchsetzen‘ meint bei Plessner deshalb vor allem ‚Spielen‘: also das Einhalten einer Distanz zum vollen Ernst.

An eine solche Distanz des Individuums zur Gesellschaft erinnert auch Meyer-Drawes daran anschließender Satz: „Zwar ist das ‚natürliche Ich‘ ein dezentriertes, non-egologisches Ego, aber doch ein Ich, in dem sich der Kontext, das soziale Gewebe bricht, indem es einen bestimmten Sinn realisiert und anderen erst gar nicht übernimmt.“ (Ebenda) – Insofern sich das soziale Gewebe, also das Rollen- und Funktionengeflecht einer Gesellschaft, am Ich – ob es nun ein natürliches oder ein individuelles sei, wollen wir hier dahingestellt sein lassen – „bricht“, wird dieses Ich zum Akteur aufgewertet, also im Plessnerschen Sinne zum Spieler auf der Bühne gesellschaftlicher Konventionen.

Dennoch kann nicht übersehen werden, daß Meyer-Drawe hier nur von einem „natürlichen“ und „dezentralisierten“ Ich spricht. Wie sich ein soziales ‚Gewebe‘ daran brechen können soll, wo es ihm doch eher im Merleau-Pontyschen Sinne „inkarniert“ ist, wird nicht weiter erklärt. Denn einen Hiatus in der Weltzugewandtheit des Körperleibs gibt es hier ja nicht.

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Mittwoch, 7. Dezember 2011

Zur Ontologisierung der Lebenswelt

Käte Meyer-Drawe, Leiblichkeit und Sozialität. Phänomenologische Beiträge zu einer pädagogischen Theorie der Inter-Subjektivität, München 3/2001 (1984)
  1. Einseitig fundierte Wechselseitigkeit der Soziogenese und der Ontogenese?
  2. Inter-Subjektivität als Inter-Faktizität
  3. Pädagogischer Sinn und Verantwortung
  4. Naturalisierung des Sinns
  5. Differenz von Sagen und Meinen in der Theorie und in der Kommunikation 
  6. Differenz von Gemeinschaft und Gesellschaft
  7. Grenzen der Lebenswelt: Krankheit und Krise
  8. Ambiguität von Häresie und Affirmation
  9. Phänomenologie als Ontologie
Bei Plessner ergibt sich die Differenz von Sagen und Meinen aus der Differenz von Innen und Außen. In allen Versuchen uns auszudrücken, sei es im Sprechen, sei es im Handeln, sind wir auf mehr oder weniger gut geeignete Medien angewiesen, die unserer Intentionalität einen Widerstand entgegensetzen. In diesem Widerstand bricht sich unser Intentionsstrahl und verfehlt so mehr oder weniger sein Ziel. (Vgl. Plessner 1975/1928, S.340) Daraus ergeben sich alle möglichen Konsequenzen hinsichtlich der ‚Authentizität‘ und ‚Spontaneität‘ unserer Lebensäußerungen, die Plessner auf den Begriff der „vermittelten Unmittelbarkeit“ bringt. (Vgl. Plessner 1975/1928, S.321-341u.ö.) Letztlich können wir uns selbst gegenüber niemals sicher sein, wie authentisch wir in unserem Denken, Fühlen und Handeln wirklich sind.

Alle diese Probleme des Sprechens und Handelns ergeben sich also aus der Differenz von Innen und Außen. Von ihr her ergibt sich die Differenz zwischen Sagen und Meinen, zwischen Handeln und Wollen. Von ‚Dichte‘ kann hier nur im Sinne einer Linse die Rede sein, in der sich ein Lichtstrahl bricht. Letztlich ist es aber nur die Dichte des Mediums, in dem wir uns ausdrücken, nicht die Dichte des Seins, die uns voreinander und uns vor uns selbst verbirgt.

Nun finden wir auch bei .Merleau-Ponty und Meyer-Drawe zahlreiche Verweise auf eine Differenz zwischen Sagen und Meinen. Auch bei ihnen wird ständig auf die „Ambiguität“, „Opazität“, „Kontingenz“, „Anonymität“, „Zweideutigkeit“, „Partikularität“ der menschlichen Existenz verwiesen. (Vgl. Meyer-Drawe 1984, S.17ff., 20f., 30f., 143, 146, 148f., 153, 230) In dieser Hinsicht ergibt sich tatsächlich eine auffällige Konvergenz zwischen Merleau-Ponty und Plessner. Meyer-Drawe findet für diese Ambivalenzen unserer konkreten Existenz den schönen Ausdruck des „kairologischen Grundzug(es)“ (Meyer-Drawe 1984, S.19) und bringt damit den „Ereignischarakter() der Reflexion“ auf den Punkt, „der in dem Bruch mit der Vertrautheit gelebter Bezüge gründet“ (vgl. Meyer-Drawe 1984, S.21). Dieser Bruch erinnert nicht von ungefähr an Plessners Hiatus zwischen Innen und Außen, nur daß er von Meyer-Drawe nicht auf diese Differenz speziell bezogen ist, sondern auf die „Relativität und Partikularität“ der „Strukturen, die unserer Lebenswelt inhärent sind“. (Vgl. ebenda)

Den Begriff des Kairos könnte man auch von Plessner her auf den Moment des Sprechens und Handelns beziehen, in dem wir uns im Versuch, unsere Intentionen auszudrücken und zu verwirklichen, verwandeln, so daß wir nicht mehr dieselben sind. Denn das Moment des sich-selbst-Verfehlens im Ausdruck ist ja bei Plessner selbst die Grundform der Bedeutung, zu der wir finden. Der Kairos beinhaltet ein unerwartetes Gelingen, in dem wir mehr gewinnen, als wir gesucht hatten. Genau dieses Ereignis, das Gelingen im Verfehlen, wäre mit dem Begriff des Kairos sehr schön beschrieben.

Meyer-Drawe spricht nun auf zwei Ebenen von einer Differenz, in der Theorie und in der Kommunikation. Diese Differenz besteht in der Theorie in dem „Dilemma der Nicht-Koinzidenz von Reflexion und reflektierter Realität.“ (vgl. Meyer-Drawe 1984, S.15f.), in der „radikale(n) Nicht-Koinzidenz von Vollzug und Reflexion“ (vgl. Meyer-Drawe 1984, S.161), in der „Nicht-Koinzidenz der Reflexion mit der Praxis“ (vgl. Meyer-Drawe 1984, S.215), in der „Nicht-Koinzidenz von Vollzug und Thematisierung“ in der pädagogischen Reflexion (vgl. Meyer-Drawe 1984, S.230) usw. Wir haben es also auf der Theorieebene mit einem beständigen Zukurzgreifen, mit einem unvermeidbaren Zuwenig angesichts der Komplexität der Praxis zu tun: „Die faktische Wirklichkeit liegt unserer Reflexion notorisch im Rücken. ... eine Theorie wie die Pädagogik, die für eine bestimmte, historisch-konkrete Praxis verbindlich sein will, muß sich selbst als partiell und tendenziell verstehen, wenn sie kritisch sein will. Kritisch bedeutet hier, daß sie ihre Grenzen mit in ihre Reflexion einbezieht und ihre faktischen Möglichkeiten von kontrafaktischen Ideen unterscheidet.“ (Meyer-Drawe 1984, S.14)

Neben dieser Theorie/Praxis-Differenz als einer Form der Differenz von Sagen und Meinen gibt es noch die der Kommunikation, die Meyer-Drawe sogar ähnlich wie Plessner hinsichtlich des prinzipiellen Verfehlens unserer Intentionen im Sprechen und Handeln als „Prozeß der Überwindung ausbleibender Verständigung“ kennzeichnet. (Vgl. Meyer-Drawe 1984, S.153) Auch Meyer-Drawe hält also die Schwierigkeiten der zwischenmenschlichen Kommunikation nicht nur für eine Störung, sondern für wesentlich: „Kommunikation ist zugleich Verweigerung von Kommunikation und Eröffnung.“ (Meyer-Drawe 1984, S.154) – Und: „Es geht nicht um die Fiktion einer ‚ungebrochenen Inter-Subjektivität‘, sondern um die faktische Brüchigkeit konkret-humaner Inter-Subjektivität ... .“ (Meyer-Drawe 1984, S.32)

Auch hier ist die Konvergenz also erstaunlich. Dennoch hält Meyer-Drawe mit Bezug auf Merleau-Ponty fest, daß es eine „ursprüngliche Weise der Bedeutungskonstituierung“ gibt: „‚Der Leib vermag die Existenz zu symbolisieren, weil er selbst sie erst realisiert und selbst ihre aktuelle Wirklichkeit ist‘ ... . Hierin zeigt sich eine ursprüngliche Weise der Bedeutungskonstituierung, die konventionellen Ausdrucksmitteln vorausläuft, die mit diesen nicht zur Deckung zu bringen ist. ... Gestik und Mimik sind so nicht angemessen zu erfassen als nachträgliche Zeichen für ein inneres Empfinden, sie sind in gewisser Weise dieses Empfinden selbst, nämlich Ausdruck ‚der gesamten Existenz, nicht als deren äußere Begleiterscheinung, sondern weil sie in ihm sich realisiert‘ ().“ (Meyer-Drawe 1984, S.152)

Hier zeigt sich noch einmal der prinzipielle Unterschied zu Plessner: Der Leib realisiert die menschliche Existenz, indem er auf ursprüngliche Weise Bedeutung konstituiert. Trotz aller „Ambiguität“, „Opazität“, „Kontingenz“, „Anonymität“, „Zweideutigkeit“, „Partikularität“ der menschlichen Existenz wird Bedeutung nicht über das unsere Intentionen verfehlende Sprechen und Handeln gestiftet, sondern in unseren Gesten (Wortgebärde!) als Ausdruck der gesamten Existenz. Die Gesten sind nicht äußerer Ausdruck unserer inneren Intentionen, sondern selbst ihr Vollzug. So ist es nicht die Widerständigkeit bzw. ‚Dichte‘ der Medien, die uns über den Realitätsgehalt unserer Intentionen belehren und sie scheitern lassen – wie bei Plessner –, sondern es ist die „Dichte (l’epaisseur) und die Undurchdringlichkeit (l’opacité) des faktischen Vollzugs“ (Meyer-Drawe 1984, S.161), also des Vollzugs dieser Gesten, an der die Theorie und die Kommunikation immer wieder scheitern. Dieses Scheitern ist nicht bedeutungsstiftend, wie bei Plessner, sondern es ist nur eine Folge der ursprünglichen Bedeutungskonstitution in unseren Gesten. Auf eine kurze Formel gebracht: An die Stelle der ‚Dichte‘ (Widerständigkeit) von Medien tritt die ‚Dichte‘ (Undurchschaubarkeit) des Seins.

Konvergenz zwischen Plessner und Merleau-Ponty gibt es also nur auf der Ebene der Phänomene. Wo diese Phänomene aber auf eine Ontologie zurückgeführt werden, trennen sich die Beschreibungsebenen. Plessner bleibt an der Grenze zwischen Innen und Außen, also an der phänomenalen Oberfläche, während Meyer-Drawe mit Merleau-Ponty zu ontologisieren beginnt: Authentizität tritt an die Stelle der Ambiguität bzw. ist ursprünglicher als diese. Sie kommt ihr immer schon zuvor, als leibliches Sein.

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Dienstag, 6. Dezember 2011

Zur Ontologisierung der Lebenswelt

Käte Meyer-Drawe, Leiblichkeit und Sozialität. Phänomenologische Beiträge zu einer pädagogischen Theorie der Inter-Subjektivität, München 3/2001 (1984)
  1. Einseitig fundierte Wechselseitigkeit der Soziogenese und der Ontogenese?
  2. Inter-Subjektivität als Inter-Faktizität
  3. Pädagogischer Sinn und Verantwortung
  4. Naturalisierung des Sinns
  5. Differenz von Sagen und Meinen in der Theorie und in der Kommunikation
  6. Differenz von Gemeinschaft und Gesellschaft
  7. Grenzen der Lebenswelt: Krankheit und Krise
  8. Ambiguität von Häresie und Affirmation
  9. Phänomenologie als Ontologie
Meyer-Drawe zufolge hatte Merleau-Ponty bei der „Genealogie des sozialen Sinns“ – und ‚sozialer Sinn‘ meint hier immer ‚Inter-Subjektivität‘, ‚Inter-Faktizität‘ und ‚Inkarnation‘ – noch an einer „bewußtseinsmäßige(n) Instanz“ festhalten wollen (vgl. Meyer-Drawe 1984, S.142), aus Sorge, eine solche Genealogie könne sich ansonsten als Naturalisierung des sozialen Sinns herausstellen: „Waldenfels macht ... zu recht darauf aufmerksam, daß Merleau-Ponty auf dieser frühen Stufe seines Denkens zunächst keine andere Möglichkeit hatte, die Dezentralisierung und Depersonalisierung des Bewußtseins zu denken, weil auch er noch zu sehr in der Tradition des Dualismus von Innen und Außen stand. Der radikale Abschied von der letztkonstituierenden Bedeutung des Bewußtseins im Hinblick auf die Plazierung fundierender Instanzen außerhalb des Bewußtseins mußte Merleau-Ponty hier noch als Gefahr eines Naturalismus erscheinen. Aufgrund der traditionellen Alternative von Subjektivismus (Bewußtseinsthese) und Objektivismus (Naturalismus) hätte eine klare Entscheidung gegen das menschliche Bewußtsein in seinem Erkenntnisprimat – so befürchtete Merleau-Ponty – eine objektivistisch-naturalistische Engführung seiner Konzeption des Verhaltens ergeben können.“ (Meyer-Drawe 1984, S.142)

Dem kann man nur hinzufügen: Merleau-Pontys Sorge war berechtigt, und die damit verbundenen Skrupel ehren ihn. Auch Meyer-Drawe selbst teilt insgeheim diese Sorge, wenn sie immer wieder eigens darauf verweist, daß es mit der Inter-Subjektivität nicht um eine „kollektivistische Tilgung“ von Subjektivität gehen könne (vgl. Meyer-Drawe 1984, S.11), oder wenn sie von der „unaufhebbare(n) ‚Wahrheit des Solipsismus‘“ spricht, denn in allen „verstehenden Akten“ „bleibe ich es doch, der diese Akte vollzieht“ (vgl. Meyer-Drawe 1984, S.152). Meyer-Drawe zögert auch nicht, dort, wo sie eine entsprechende Vernachlässigung der individuellen Perspektive erkennt, Einspruch gegen die Stilisierung von Sozialität zu einem „Superindividuum“ zu erheben. (Vgl. Meyer-Drawe 1984, S.28)

Dennoch hat sie keine Probleme damit, Waldenfelsens Vorgehen beim Zuendedenken des Merleau-Pontyschen Ansatzes voll und ganz zu unterstützen. Leitmotiv dieser Aufwertung des leiblichen Irrationalismus bildet dabei die schon erwähnte „Dezentralisierung und Depersonalisierung des Bewußtseins“. (Vgl. Meyer-Drawe 1984, S.142) Diese Dezentralisierung und Depersonalisierung tauchen in vielen begrifflichen Kombinationen immer wieder auf, z.B. in Form einer „dezentralisierte(n) Subjektivität“ als einer „dem Subjekt inhärente(n) Sozialität“ (vgl. Meyer-Drawe 1984, S.12), oder in Form einer „dezentralisierte(n) ‚zwischenmenschliche(n) Interaktion‘ als Konstituens sozialen Sinns“ (vgl. Meyer-Drawe 1984, S.25), oder in Form einer „dezentralisierten, non-egologischen Subjektivität und Sozialität“ (vgl. Meyer-Drawe 1984, S.28) usw.

Der Irrationalismus, der sich in dieser Abwendung vom subjektiven Bewußtsein äußert, wäre mir zu einem früheren Zeitpunkt sogar sympathisch gewesen, weil ich schon immer ein ausgeprägtes Mißtrauen gegen die von sich selbst eingenommene wissenschaftliche Rationalität hatte, die glaubte, sich im Dienste objektiver Forschung vom Alltagsgrund der Lebenswelt einseitig abtrennen zu können. Aber inzwischen habe ich lernen müssen, daß auch die Naturwissenschaft das Irrationale als Naturphänomen des Erforschens für wert erachtet. Gemeint ist die Entdeckung des Schwarmphänomens und seine Klassifizierung als eine bewußtseinsfremde Intelligenzform, die natürlich wiederum geradezu dazu einlädt, entsprechende Rückschlüsse auf die menschliche ‚Intelligenz‘ zu ziehen.

Es ist nicht schwer, die Ähnlichkeiten und Analogien in der Begriffsbildung und in den Beschreibungsformen von Inter-Subjektivität zum Schwarmverhalten von Fischen, Vögeln und Boids zu erkennen. Eine an Merleau-Ponty anschließende Phänomenologie sollte mehr denn je darauf achten, nicht in diese Falle des Naturalismus zu tappen. Denn Sinn ist immer noch und allererst ein Bewußtseinsphänomen und emergiert weder aus materiellen Prozessen noch aus Massenphänomenen. Eine der wichtigsten Fragen, der sich eine Phänomenologie der Inter-Subjektivität stellen sollte, wäre deshalb die nach der Differenz zwischen inhärenter Sozialität und Masse.

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Zur Ontologisierung der Lebenswelt

Käte Meyer-Drawe, Leiblichkeit und Sozialität. Phänomenologische Beiträge zu einer pädagogischen Theorie der Inter-Subjektivität, München 3/2001 (1984)
  1. Einseitig fundierte Wechselseitigkeit der Soziogenese und der Ontogenese?
  2. Inter-Subjektivität als Inter-Faktizität
  3. Pädagogischer Sinn und Verantwortung 
  4. Naturalisierung des Sinns
  5. Differenz von Sagen und Meinen in der Theorie und in der Kommunikation
  6. Differenz von Gemeinschaft und Gesellschaft
  7. Grenzen der Lebenswelt: Krankheit und Krise
  8. Ambiguität von Häresie und Affirmation
  9. Phänomenologie als Ontologie
Mit der Vorordnung des Anderen als sozialem Sinn vor der individuellen Person, mit der Bestimmung von sozialem Sinn als „Verwobenheit von Ich und Nicht-Ich, von Anderem und Nicht-Anderem“ (vgl. Meyer-Drawe 1984, S.30) steht nicht mehr die Bildung der individuellen Person im Fokus des pädagogischen Interesses. An die Stelle der Rousseauschen Perfektionierbarkeit der Individuen tritt die Perfektionierbarkeit konkreter Inter-Subjektivität: „Unsere konkrete Inter-Subjektivität hat nicht dann ihre höchste Form erreicht, wenn sie dem Subjektsein des eigentlichen Individuums dient, sondern wenn sie die Andersheit des Anderen am Rand des subjektiven Existenzfeldes akzeptiert, ohne sie als unbegreifbare Fremdheit auszuschließen.“ (Meyer-Drawe 1984, S.220)

An die Stelle einer Humanisierung des Individuums tritt also eine Humanisierung der Lebenswelt: als humane Rationalität. (Vgl. Meyer-Drawe 1984, S.32, 240f.) Daß die Lebenswelt aber nicht nur eine Genese hat, sondern auch eine eigene Bildsamkeit beinhaltet, ist tatsächlich ein merkwürdiger Gedanke. Dieser Gedanke beinhaltet, daß die Lebenswelt, der es wesentlich ist, als „Ambiguität“ „unserer Existenz latent“ zu bleiben – „als vorreflexive Bedingung der Wirklichkeit unserer Vollzüge“, als Idealisierung „des ‚und-so-weiter‘ und des ‚Ich-kann-immer-wieder‘“ (vgl. Meyer-Drawe 1984, S.149) –, die „Andersheit des Anderen“, das „Fremde“ nicht nur auszuhalten, sondern sogar zu akzeptieren vermag!

Wir haben es mit einem doppelten Paradoxon zu tun: (a) etwas, das die „Wirklichkeit unserer Vollzüge“ allererst ermöglicht, soll steigerbar sein, als wäre es selbst ein Vollzug unter Vollzügen, deren vorreflexive Bedingung es sein soll. Und dieses Etwas, das Meyer-Drawe mit Husserl als „Ich-kann-immer-wieder“ bestimmt, soll außerdem (b) eine Andersheit tolerieren können, die als Andersheit dieses „Ich-kann-immer-wieder“ doch prinzipiell in Frage stellt. – Das sind zwei Paradoxe zu viel, um mit ihnen eine Pädagogik zu begründen. Für eine Theorie der Bildsamkeit („höchste Form“) können wir nicht am Bewußtsein vorbei auf eine Faktizität hin argumentieren, die der bildenden Rückwirkung, also der Reflexion gar nicht zugänglich ist. Als ‚fungierender‘ und damit als Lebenswelt ist es unangemessen, der Inter-Subjektivität eine „höchste Form“ zuzusprechen und sie so zum Adressaten einer Pädagogik der Leiblichkeit zu machen.

In Meyer-Drawes einleitenden Thesen heißt es, daß „Kommunikation ... nur dann eine zentrale Kategorie pädagogischer Reflexion konkreter Praxis sein (kann), wenn sie ihren konstitutiven Sinn für soziale Erfahrungen erweisen kann und nicht lediglich nachträglich Fixierung bereits fungierender Vermittlung ist. Zu diesem Zweck muß mit der Tradition egozentrierter sozialer Sinnbildung radikal gebrochen werden.“ (Meyer-Drawe 1984, S.27f.)

Was den ersten Teil dieser These betrifft, kann ich nur zustimmen. In ihr steckt ein kritischer Impuls gegenüber der lebensweltlichen Vereinnahmung, die über die Hegelsche Gleichsetzung von Vernunft und Wirklichkeit hinausgeht. Eine ‚Pädagogik‘, die „bereits fungierende Vermittlung“ – und „fungierende Vermittlung“ meint nichts anderes als aktuelle, vorreflexive Inter-Faktizität – lediglich „fixiert“, ist ihres Namens nicht wert. Worauf wird aber nun ihre Konstitution zurückgeführt? Auf eben diese „vorreflexive Bedingung der Wirklichkeit unserer Vollzüge“, der sie als Bildungsziel lediglich deren eigene „höchste Form“ gegenüberstellt, also gewissermaßen Fleisch von derem Fleische, eben „inkarnierter“ Sinn. Das erklärt dann auch den Zusatz, wieso „mit der Tradition egozentrierter sozialer Sinnbildung radikal gebrochen werden muß.

Wie ich schon in meinem Post zu Waldenfels (vom 05.01.2011) geschrieben habe, führt diese Abkehr vom Ich dazu, daß es nicht mehr für sein Handeln verantwortlich gemacht werden kann. Es ist kein Handlungssubjekt mehr: „In unserem faktischen Existieren ergibt sich nicht die Frage nach sozialem oder individualem Sein; denn wir sind nie ganz Ich und nie ganz Nicht-Ich. Zwar erfahren wir uns als Aktionszentren, doch gleichzeitig können wir nie vollständig über die Situation, in der wir handeln, verfügen. Unser ausdrückliches und absichtsvolles Denken und Tun sind fundiert in zum großen Teil anonymen interpersonalen Vollzügen, wie z.B. Sitten und Gebräuchen, Sprache der Zeit und des Landes, politischen und ökonomischen Strukturen, die unseren Handlungsspielraum konstituieren und eingrenzen.“ (Meyer-Drawe 1984, S.14)

Meyer-Drawe drückt sich hier zwar noch vorsichtiger aus als Waldenfels, aber auch bei ihr bleibt dem ‚Subjekt‘ lediglich noch ein unbestimmtes Gefühl dafür, „Aktionszentrum“ zu sein. Aber die Fundierung seines ausdrücklichen und absichtsvollen Denkens und Tuns liegt nicht mehr in ihm, sondern „in zum großen Teil anonymen interpersonalen Vollzügen“. Deshalb spricht sie dem Subjekt nur noch eine begrenzte Verantwortung für sein „konkret-geschichtliches Handeln“ zu. (Vgl. Meyer-Drawe 1984, S.148) Es ist nun sicherlich so, daß die faktische individuelle Verantwortbarkeit eigenen und gesellschaftlichen Handelns begrenzt ist. Diese faktische Begrenztheit geht aber am Phänomen individueller Schuld völlig vorbei. Das Handlungssubjekt ergreift sich in seiner Verantwortung vor seinem Gewissen. Dieses Gewissen ist aber ein Grenzbegriff und nicht Bestandteil irgendeiner Lebenswelt. Durch dieses Gewissen wird uns überhaupt erst das Gefühl, Aktionszentrum zu sein, auferlegt. Und nur von hierher kann Kommunikation zur „zentrale(n) Kategorie pädagogischer Reflexion konkreter Praxis“ werden: nämlich als Kommunikation, d.h. als Vermittlung eines Gewissensanspruchs.

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Montag, 5. Dezember 2011

Zur Ontologisierung der Lebenswelt

Käte Meyer-Drawe, Leiblichkeit und Sozialität. Phänomenologische Beiträge zu einer pädagogischen Theorie der Inter-Subjektivität, München 3/2001 (1984)
  1. Einseitig fundierte Wechselseitigkeit der Soziogenese und der Ontogenese?
  2. Inter-Subjektivität als Inter-Faktizität
  3. Pädagogischer Sinn und Verantwortung
  4. Naturalisierung des Sinns
  5. Differenz von Sagen und Meinen in der Theorie und in der Kommunikation
  6. Differenz von Gemeinschaft und Gesellschaft
  7. Grenzen der Lebenswelt: Krankheit und Krise
  8. Ambiguität von Häresie und Affirmation
  9. Phänomenologie als Ontologie
Ich denke, ich gehe nicht falsch in der Annahme, daß bei Meyer-Drawe – und entsprechend auch bei Merleau-Ponty – der Begriff der Lebenswelt mit dem der Inter-Subjektivität weitgehend identisch ist. Zur Schreibweise dieses Wortes merkt Meyer-Drawe an, daß sie mit dem hervorgehobenen Bindestrich zwischen ‚Inter‘ und ‚Subjektivität‘ zum einen darauf aufmerksam machen will, „daß Inter-Subjektivität nicht mit Objektivität zusammenfällt, sondern Objektivität eine bestimmte Form von Inter-Subjektivität ist.“  (Vgl. Meyer-Drawe 1984, S.11)

An anderer Stelle führt Meyer-Drawe zur Objektivität aus, daß wir es hier mit einer Überschreitung von „private(r) Subjektivität“ in Richtung auf eine „Welt für ‚Jedermann‘“ zu tun haben: „In der natürlichen Einstellung zeigt sich, daß die Welt nicht nur für mich das ist, was sie ist, sondern für jedermann schlechthin. In der Konzeption als Jedermann ist das Selbst mitumfaßt. Wenn ich mich nun um objektive Erkenntnis bemühe, so schrumpfe ich für mich selbst gleichsam zu einem bloßen Jedermann. Unter dieser Hinsicht sind meine Erfassung der Welt und die des Anderen ‚völlig gleichgeartet‘ ().“ (Meyer-Drawe 1984, S.91) – Dieser Verweis auf die „natürliche Einstellung“ und auf das „Jedermann“ beinhaltet einige wesentliche Momente des Lebensweltbegriffs.

Ihrer o.g. Anmerkung zur Schreibweise von ‚Inter-Subjektivität‘ fügt Meyer-Drawe hinzu, daß es ihr darin nicht nur um das Inter, also das Objektivität gewährleistende Gemeinsame der Welterfahrung geht, sondern auch um die Subjektivität selbst, als zweitem Bestandteil des Bindestrichwortes: mit dem kollektiven ‚Inter‘ soll „keine kollektivistische Tilgung von Subjektivität“ beabsichtigt sein. (Vgl. Meyer-Drawe 1984, S.11)

Insofern also der Begriff der „Inter-Subjektivität“ eine Gleichwertigkeit von Sozialität und Individualität beinhalten soll, ginge er tatsächlich über den Sinngehalt des Lebensweltbegriffs hinaus. Dabei muß man aber berücksichtigen, daß ‚Subjektivität‘ eben immer diese zwei Dimensionen haben kann: (a) die Dimension einer kollektiven Subjektivität, im Sinne eines ‚Man‘ bzw. im Sinne einer Lebenswelt und (b) die individuelle Subjektivität, im Sinne einer leibgebundenen, personalen Perspektive. Bei beiden haben wir es mit Perspektiven zu tun, d.h. mit Horizonten: die lebensweltliche Perspektive, die uns hinterrücks (unbewußt) und von Innen heraus in unserer Welterfahrung orientiert, und die individuelle Perspektive, die wir vor dem Hintergrund einer Bildungsgeschichte (Autobiographie) und aufgrund eines wie auch immer verwobenen Motivgeflechts in einer konkreten Situation (Außenhorizont) einnehmen.

Hält man sich an diese Begriffsbestimmung von „Inter-Subjektivität“, hätten wir es also tatsächlich mit einer vom Lebensweltbegriff unterscheidbaren Begriffsbildung zu tun. Denn gegenüber der Lebenswelt wäre die subjektive Perspektive nur durchzuhalten, wenn sich die Individuen derem Horizont entziehen und sich ihr als etwas Äußerlichem gegenüberstellen könnten. Damit ist die Frage verbunden, wie wir trotz unserer lebensweltlichen Vereinnahmung aus ihr herausfallen können. Meyer-Drawes Bemerkungen zur Schreibweise von Inter-Subjektivität beinhalten nun aber ein gleichursprüngliches „Zugleich“ von Subjektivität und Objektivität (vgl. Meyer-Drawe 1984, S.148). Sie laufen darauf hinaus, daß „Individualität und Sozialisation ... ein Zugleich (bilden)“. (Vgl. Meyer-Drawe 1984, S.222)

Diese Gleichursprünglichkeit von Sozialität und Individualität in der Inter-Subjektivität bringt aber mehr eine implizite Sorge Meyer-Drawes um den prekären Status des individuellen Subjekts angesichts des primordialen Status „kollektiver Anonymität“ (vgl. Meyer-Drawe 1984, S.154) zum Ausdruck, als daß sie tatsächlich in der Begriffsbestimmung der Inter-Subjektivität auch umgesetzt wird. Letztlich nämlich gibt es auch in der Inter-Subjektivität kein ‚Zugleich‘, keine Gleichursprünglichkeit von Sozialität und Individualität: „Sozialer Sinn entwickelt sich dabei nicht aus der Selbstbezüglichkeit des nur seiner selbst gewissen Subjekts, sondern er ist in ontologischer und genetischer Sicht fundierender Modus unserer Existenz.“ (Meyer-Drawe 1984, S.229) – Damit fällt aber die Inter-Subjektivität voll und ganz in den Begriffsumfang der Lebenswelt zurück, und es stellt sich ihr gegenüber dieselbe Frage: kann das individuelle Subjekt aus ihr herausfallen und eine eigene Perspektive einnehmen?

Zu dieser Lebensweltlichkeit von Inter-Subjektivität paßt der Begriff der Inter-Faktizität. Hier wird noch einmal die einseitige Vorausgesetztheit des ‚Inter‘ vor dem ‚Subjekt‘ auf den Punkt gebracht: „Seine (Merleau-Pontys – DZ) Thematisierung der Inter-Subjektivität als Inter-Faktizität bewegt sich in einem Bereich, der der anthropologischen, soziologischen und psychologischen Interpretation menschlicher Existenz vorausliegt.“ (Meyer-Drawe 1984, S.230)

Inter-Faktizität beinhaltet nichts anderes als die faktische, also lebensweltliche Bestimmtheit bzw. Situiertheit des individuellen Subjekts, die ihm immer schon vorausgeht und es von hinten, vom Rücken her in seinem Handeln und Denken bestimmt: „In unserem faktischen Existieren ergibt sich nicht die Frage nach sozialem oder individualem Sein; denn wir sind nie ganz Ich und nie ganz Nicht-Ich. Zwar erfahren wir uns als Aktionszentren, doch gleichzeitig können wir nie vollständig über die Situation, in der wir handeln, verfügen. Unser ausdrückliches und absichtsvolles Denken und Tun sind fundiert in zum großen Teil anonymen interpersonalen Vollzügen, wie z.B. Sitten und Gebräuchen, Sprache der Zeit und des Landes, politischen und ökonomischen Strukturen, die unseren Handlungsspielraum konstituieren und eingrenzen.“ (Meyer-Drawe 1984, S.14) – Als Handlungssubjekt tritt das Individuum hier gar nicht mehr in Erscheinung, nur noch als ‚Intersubjekt‘, und zwar definitiv ohne Bindestrich dazwischen. Das Intersubjekt ist das ‚Subjekt‘ einer Lebenswelt, aus der es jetzt definitiv nicht mehr herauszufallen vermag.

Die Inter-Faktizität wird so zur humanen Grundbestimmung menschlichen Handelns und Denkens aufgewertet, – so sehr, daß z.B. „Kontra-Faktizität“, also die eigentliche Freiheitsdimension in der Wendung gegen die Lebenswelt nun als „inhuman“ erscheint: „Die Kontra-Faktizität erweist sich so als inhumane Maßgabe zwischenmenschlichen Handelns, weil sie sich aus den Handlungskontexten herausbewegt, herausreflektiert, anstatt nach Aktionsmöglichkeiten innerhalb konkret fungierender, relevanter Handlungsfelder zu suchen.“ (Meyer-Drawe 1984, S.139)   

Da nämlich jedes menschliche Weltverhältnis prinzipiell perspektivisch beschränkt ist – so sehr, daß jeder Versuch einer Überschreitung dieser Beschränkung in Richtung auf eine Universalität bzw. Totalität der Welterfahrung diese Welterfahrung unmöglich machen würde –, muß jede Kontra-Faktizität, die sich gegen die lebensweltliche Faktizität, also gegen die perspektivische Beschränkung des menschlichen Weltverhältnisses wendet, die Menschlichkeit des Menschen bedrohen. Schon der Versuch also, die lebensweltliche Faktizität zu überschreiten, wäre inhuman: „Die vorpersonalen, anonymen Strukturen unserer konkreten Existenz sind nicht in einem durch und durch expliziten Wissen aufzuheben. Sie bewahren ihre Opazität in ihrer lebendigen Dauer, in der notorischen Nachträglichkeit jeder reflektiven Zuwendung. In dieser faktischen Verwobenheit konstituiert sich sozialer Sinn, der nicht problematisiert zu werden braucht als ein Brückenschlagen von einem ego zu einem anderen.“ (Meyer-Drawe 1984, S.29f.)

In der Inter-Subjektivität als Inter-Faktizität haben wir also den vollen Gehalt des Lebensweltbegriffs vorliegen, ohne daß sich hier noch irgendeine Hintertür für individuelles Denken und Handeln öffnet; sogar die Notwendigkeit einer solchen Hintertür wird gar nicht mehr verstanden, denn das „Brückenschlagen von einem ego zu einem anderen“ braucht nicht mehr „problematisiert zu werden“. Dennoch geht Meyer-Drawe davon aus, im „Begriff der Perspektive den subjektiven Anteil der inter-subjektiven Sinnbildung“ bewahrt zu haben. (Vgl. Meyer-Drawe 1984, S.143)

Diesem subjektiven Anteil wird keinerlei Rationalität mehr zugesprochen, etwa im Sinne einer individuellen Urteilskraft oder eines autonomen Verstandesgebrauchs: „Rationalität ist vielmehr eine Struktur inter-subjektiver Praxis als deren konkret-historische Vernünftigkeit ... .“ (Meyer-Drawe 1984, S.234) – Vor dem Hintergrund der Inter-Faktizität und der damit verbundenen Abwertung von Kontra-Faktizität läuft aber „konkret-historische Vernünftigkeit“ nur noch auf eine Hegelsche Gleichsetzung von Wirklichkeit mit Vernünftigkeit hinaus. Wenn Meyer-Drawe hier also eine ‚Subjektivität‘ bewahrt hat, dann nicht jene, die ihr selbst als von einer „kollektivistischen Tilgung“ bedroht erschienen war, sondern nur die Subjektivität eines kollektiven Intersubjekts.

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Sonntag, 4. Dezember 2011

Zur Ontologisierung der Lebenswelt

Käte Meyer-Drawe, Leiblichkeit und Sozialität. Phänomenologische Beiträge zu einer pädagogischen Theorie der Inter-Subjektivität, München 3/2001 (1984)  
  1. Einseitig fundierte Wechselseitigkeit der Soziogenese und der Ontogenese?
  2. Inter-Subjektivität als Inter-Faktizität
  3. Pädagogischer Sinn und Verantwortung
  4. Naturalisierung des Sinns
  5. Differenz von Sagen und Meinen in der Theorie und in der Kommunikation
  6. Differenz von Gemeinschaft und Gesellschaft
  7. Grenzen der Lebenswelt: Krankheit und Krise
  8. Ambiguität von Häresie und Affirmation
  9. Phänomenologie als Ontologie
Hatte ich Blumenberg in einem Post vom 08.08.2010 den fehlenden systematischen Bezug auf die Leiblichkeit des Menschen vorgeworfen, und hatte ich in einem Post vom 17.11.2010 Plessner dahingehend kritisiert, daß er die menschliche Lebenswelt nicht genügend berücksichtigt, so fällt bei Merleau-Ponty auf, daß es in seiner Nachfolge zu einer undifferenzierten Verschmelzung menschlicher Leiblichkeit und Lebensweltlichkeit kommt. Bei Waldenfels führt das zu einer ausgeprägten Allergie gegen den Subjektbegriff (vgl. meinen Post vom 08.01.2011), während Meyer-Drawe, mit derem Buch „Leiblichkeit und Sozialität“ ich mich in den letzten Wochen eingehender befaßt habe, immerhin darum bemüht ist, auch dem Subjekt und seiner Perspektive gerecht zu werden. (Vgl. Meyer-Drawe 1984, S.11, 16 u.ö.) Da sie dies aber – eben mit Bezug auf Merleau-Ponty – auf dem Boden einer Ontologisierung der Lebenswelt als Inter-Subjektivität und Inter-Faktizität versucht, spielt auch bei ihr die subjektive Perspektive nur noch eine untergeordnete Rolle.

Das wichtigste Motiv für mich, einen Blog zur Erkenntnisethik zu betreiben, liegt in der Verteidigung der Eigenständigkeit der individuellen Urteilskraft. Meine Grundfrage bei allen Texten, die ich hier bespreche, lautet immer: wird hier der eigene Verstand gestärkt oder geschwächt? Wenn Merlau-Ponty fragt: „Wie aber kann menschliches Denken und Tun im Modus des Man erfaßbar sein, da es doch stets und grundsätzlich ein Tun in erster Person, unablöslich von einem Ich ist?“ (Meyer-Drawe 1984, S.152) – kann es zwei mögliche Antworten darauf geben. Indem zum einen „grundsätzlich“ davon ausgegangen wird, daß das menschliche Handeln von einem subjektiven Ich „unablöslich“ ist, kann das „Tun im Modus des Man“ dazu nur in einem Ableitungsverhältnis stehen. Erst müßte also geklärt werden, wie ein Handeln „in erster Person“ möglich ist – das wäre die Frage nach der individuellen Ontogenese –, um dann die Frage zu beantworten, wie eine Lebenswelt („Man“) diese „erste Person“, dieses „Ich“ als Handlungssubjekt enteignen kann – das wäre eine Frage nach der Soziogenese. Wir hätten es also zwar mit einem Wechselverhältnis zwischen einer Soziogenese der Lebenswelt und einer Ontogenese der individuellen Person zu tun, aber nicht mit einem gleichursprünglichen Wechselverhältnis, denn am Anfang stände die Frage nach dem individuellen Bewußtsein: keine Soziogenese ohne Ontogenese.

Die andere mögliche Antwort besteht darin, daß das menschliche Handeln zwar „unablöslich“ von einem subjektiven Ich ist, dies aber nur in einem physischen Sinne gemeint ist. Das Ich bezieht sich sozusagen nur auf den unaustauschbaren Leib, den wir so wenig mit anderen teilen können wie den Schmerz. (Vgl. Meyer-Drawe 1984, S.154) Tatsächlich aber liegt dem Ich, so Meyer-Drawe, noch eine „primordiale() ‚anonyme() Kollektivität‘“ (Meyer-Drawe 1984, S.154) voraus, also eine prä-egologische Verbundenheit des Sozialen mit dem „Leib“ als „primordiale(m) Erfahrungsvollzug“ (vgl. ebenda). Anstatt daß es also kein Wir gibt ohne Ich, kein Soziales ohne Individuum, ist es genau umgekehrt: Es gibt kein Ich ohne Wir und kein Individuum ohne Soziales, und zwar im Sinne einer einseitigen Fundierung der individuellen Ontogenese durch die Soziogenese, denn: „Es gibt zwar präpersonales Sein, aber kein präsoziales.“ (Meyer-Drawe 1984, S.30)

Nun könnte man hier vielleicht einwenden, daß es sich um die altbekannte Problematik handelt, was denn früher war: die Henne oder das Ei? Aber im Hintergrund dieser oberflächlichen Problematik verbirgt sich noch eine ganz andere, nämlich die von mir eingangs angesprochene Frage nach der Eigenständigkeit einer individuellen Urteilskraft. Wenn nämlich Merleau-Ponty fragt, wie „menschliches Denken und Tun im Modus des Man erfaßbar sein“ könne, wo „doch stets und grundsätzlich ein Tun in erster Person, unablöslich von einem Ich ist?“  (s.o.), und so zu einer Vorordnung der Sozialität vor der Individualität kommt, frage ich genau umgekehrt, wie denn menschliches Denken und Tun in erster Person erfaßbar sein kann, also als eigenständige Urteilskraft, wo es doch stets und grundsätzlich, also gewissermaßen ‚unablöslich‘ in Strukturen der Lebenswelt eingebunden ist?

Ich komme dabei zu einer Vorordnung des individuellen Subjekts im Körperleib. Aufgrund der Doppelaspektivität des Körperleibs kann ‚ich‘ jederzeit aus der Lebenswelt, dem Heideggerischen ‚Man‘, herausfallen, z.B. aufgrund von körperlichen Reaktionen, wie sie Nishitani als „Niesen" und Plessner als „Lachen und Weinen“ beschrieben haben. ‚Ich‘ befinde mich – so Plessner – im „Streit“ mit meinem Körper (vgl. Helmuth Plessner Plessner, Anthropologie der Sinne, in: Gesammelte Schriften III: Anthropologie der Sinne. Frankfurt a.M. 1980/1970, S.317-393: 369), weil der Körperleib seine Differenz, seine Grenze in sich selber hat. Der Merleau-Pontysche Leib hat seine Grenze aber nicht in sich selbst, sondern gegenüber dem Anderen, also mit Meyer-Drawe: gegenüber dem Sozialen, und dieses Soziale wiederum bildet einen Aspekt der leiblichen Weltzugewandtheit. Das Soziale ist also schon am Körper selbst, es ist „inkarniert“, und aufgrund dieser Verschmelzung ist es dem individuellen Ich immer schon voraus und das individuelle Ich ist ihm immer nur hinterher. Es kann aus dem Sozialen, aus der Lebenswelt, nicht mehr herausfallen, – auch nicht im Grenzfall einer Krankheit. (Vgl. Meyer-Drawe 1984, S.31)

Vor dem Hintergrund unserer alltäglichen Erfahrungen mit ‚Gruppendynamiken‘ (Gruppendenke) bedeutet eine solche Konzeption, daß diese Vorausgesetztheit des Sozialen individuelle Urteilskraft von vornherein verunmöglicht. Individueller Verstand ist nur dort möglich, wo der lebensweltliche Horizont des Sozialen in sich zusammenbrechen kann, so daß sich der individuelle Blick für eine offene, unheilige Weite öffnet. Das wiederum bedeutet, daß die individuelle Urteilskraft noch eine andere Basis haben muß als den sozialen Sinn. Diese Basis kann ich nur in einer Grenzbestimmung des Körperleibs erkennen. Es geht also letztlich eben doch um eine einseitige Fundierung der Wechselseitigkeit von Soziogenese und Ontogenese, und zwar im Körperleib und damit in der individuellen Person.

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Donnerstag, 24. November 2011

Plessner und Merleau-Ponty im Vergleich

Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966
Erster Teil: Der Leib: VI. Der Leib als Ausdruck und die Sprache

1. Ähnlichkeiten
2. Unterschiede: Geste, Gebärde und Haltung
3. Unterschiede: Sprache und Sinn
4. Unterschiede: Verhältnisbestimmung von Natur und Kultur
5. Unterschiede: Einheit der Sinne versus leibliche Konfusion
6. Unterschiede: Wandlung versus Differenz
7. Unterschiede: Emergenz versus Gestalt

Da Merleau-Ponty eine Überwindung der „klassischen“ Subjekt/Objekt-Differenz anstrebt, muß er Rationalität bzw. ‚Intelligenz‘ anders begründen. Dazu greift er zu Beschreibungsformeln, die an ‚Emergenz‘ und an dezentralisierte Intelligenzformen wie die Schwarmintelligenz erinnern. Auch darin besteht ein wesentlicher Unterschied zu Plessner, der mit den zum Gestaltbegriff gehörenden Begriffen der Einheit und der Ganzheit und mit Differenzierungen zwischen Vordergrund und Hintergrund sowie zwischen Innen- und Außenhorizonten auch die Physiologie und die Anatomie des tierisch-menschlichen Organismus in seine Analysen nicht nur miteinbezieht, sondern sie sogar zur Grundlage seiner Bestimmung des spezifisch menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses als exzentrische Positionalität macht.

Insofern Merleau-Ponty eine Innen/Außen-Differenzierung des tierisch-menschlichen Organismus ablehnt, stellt sich für ihn das Problem, auch die Frage nach dem Freiraum für das Bewußtsein, den Plessner in dieser Grenzbestimmung verortet, anders beantworten zu müssen. Anstatt also beim Verhältnis von Körper (Außen) und Leib (Innen) anzusetzen, formuliert er die damit verbundene Problematik um als ein Problem der Verhältnisbestimmung von „Motorik“ und „Intelligenz“, und zwar in dem Sinne, ob das Bedeutungsmoment der Sprache vor allem ein motorisches Phänomen oder vor allem ein Intelligenzphänomen sei. (Vgl. Merleau-Ponty 1966, S.230f.).

Merleau-Ponty bringt nun seine Hoffnung zum Ausdruck, daß sich beide Aspekte des Bedeutungsbegriffs in einem dritten Begriff vereinen lassen: „Nie wird es gelingen, beiderlei Sinn in eins zu fassen, solange man, zwischen dem Begriff der ‚Motorik‘ und dem der ‚Intelligenz‘ schwankend, nicht einen dritten Begriff zu entdecken vermag, der beide in sich vereinigt: eine auf allen Ebenen sich gleiche Funktion, die schon in der verborgenen Vorbereitung der Sprache ebenso wie in den Artikulationsphänomenen am Werke ist, die das ganze Gebäude der Sprache trägt, und doch in relativ autonomen Vorgängen sich stabilisiert.“ (Merleau-Ponty 1966, S.231)

Als dieser dritte Begriff kommt für Merleau-Ponty nur der Leib selbst in Frage, der „in offen endlosen Folgen diskontinuierlicher Akte immer neue Bedeutungskerne sich einzuverleiben“ vermag, „die sein natürliches Vermögen überschreiben und überhöhen.“ (Vgl. Merleau-Ponty 1966, S.229) – Dieser Vorgang der „Bedeutungsschöpfung“ (Merleau-Ponty 1966, S.224) wird nun wie folgt beschrieben: „Dieser Akt der Transzendenz begegnet uns zuerst in der Aneignung eines Verhaltens, sodann in der stummen Kommunikation der Gebärde: durch ein und dasselbe Vermögen erschließt sich der Leib hier einem neuen Verhalten und gibt in eins Zeugen dieses Verhalten zu verstehen. Im Subjekt wie im Zeugen seines Verhaltens dezentriert sich plötzlich das zuvor bestimmte System der Vermögen, bricht auseinander und gestaltet sich neu nach einem Gesetz, das beiden unbekannt war und gerade in diesem Augenblick erst sich mitteilt.“ (Merleau-Ponty 1966, S.229)

Wir haben es also (a) mit „relativ autonomen“, also unbewußten bzw. irrationalen Vorgängen zu tun, (b) mit einem „Akt der Transzendenz“, (c) mit einer „Dezentrierung“ eines Systems von Vermögen, die insgesamt das menschliche Ausdrucksvermögen bilden und die sich nach ihrer Dezentrierung (d) zu einer neuen ‚Gestalt‘ zusammenschließen, deren Gesetzmäßigkeit bis zu diesem Zeitpunkt unbekannt geblieben ist und die jetzt einsichtig wird. Auch ohne daß Merleau-Ponty die Begriffe der Emergenz und der Schwarmintelligenz zur Verfügung hat, wird hier doch die Affinität der Merleau-Pontyschen ‚Transzendenz‘ zum Begriff der Emergenz augenfällig. Und sein Anliegen, die Bedeutungsschöpfung am Subjekt vorbei aus ihrer leiblichen Verfaßtheit heraus zu erklären, erinnert wiederum sehr an das „letztlich rätselhafte() Aufsteigen von Sinn und Bedeutung aus der Materie“, von dem Michael Gamper spricht, also an Schwarmintelligenz als einer im wesentlichen dezentralisierten Intelligenzform. (Vgl. Michael Gamper, Massen als Schwärme. Zum Vergleich von Tier und Menschenmenge, in: Eva Horn/Lucas Marco Gisi (Hg), Schwärme – Kollektive ohne Zentrum. Eine Wissensgeschichte zwischen Leben und Information, Bielefeld 2009, S.69-84: 74)

Das Entstehen von ‚Freiräumen‘ der Bedeutungsschöpfung wird von Merleau-Ponty dann auch tatsächlich sehr bildhaft am Beispiel einer siedenden Flüssigkeit beschrieben: „... die Intention des Sprechens erfordert eine offene Erfahrung, dem Sieden einer Flüssigkeit gleich tritt sie auf, wenn inmitten der Dichte des Seins offene Sphären sich bilden und nach außen drängen.“ (Merleau-Ponty 1966, S.232) – Die Frei-Räume bzw. Spiel-Räume der Bedeutungsintention sind also nicht an der Grenze des Körperleibs anzusiedeln, sondern als eine „inmitten der Fülle des Seins geschaffene Öffnung“ (vgl. Merleau-Ponty 1966, S.232) bilden sie gleichsam ‚Blasen‘. Wenn die damit verbundenen Implikationen nicht so ernst wären, könnte man sich an der Heiterkeit eines Seins erfreuen, das wie ein Comic-Heft mit Sprechblasen durchsetzt ist, denen die eingeletterte Bedeutung leicht abgelesen werden kann.

Aber die Metaphorik einer Blasen (Sphären) bildenden, siedenden Flüssigkeit, ist doch allzu überhitzt, um komisch zu sein. Und sie hat Nachfolger gefunden, – den Blasen werfenden Sloterdijk.

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Mittwoch, 23. November 2011

Plessner und Merleau-Ponty im Vergleich

Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966
Erster Teil: Der Leib: VI. Der Leib als Ausdruck und die Sprache

1. Ähnlichkeiten
2. Unterschiede: Geste, Gebärde und Haltung
3. Unterschiede: Sprache und Sinn
4. Unterschiede: Verhältnisbestimmung von Natur und Kultur
5. Unterschiede: Einheit der Sinne versus leibliche Konfusion
6. Unterschiede: Wandlung versus Differenz
7. Unterschiede: Emergenz versus Gestalt

Gleich zu Beginn des Kapitels macht uns Merleau-Ponty mit seinem Anliegen bekannt, anhand seiner „Deskription der Sprache und des ausdrücklichen Bedeutungsvollzuges“ zu einer „endgültigen Überwindung der klassischen Entgegensetzung von Subjekt und Objekt“ beizutragen. (Vgl. Merleau-Ponty 1966, S.207) Daß es ihm bei einigen Philosophen tatsächlich gelungen ist, entsprechende Allergien zu erzeugen, können wir bei Waldenfels sehen, dem ich zu diesem Thema schon zwei Posts gewidmet habe. (Vgl. meine Posts vom 05.01.2011 und vom 08.01.2011)

So scheint Merleau-Pontys „Phänomenologie der Wahrnehmung“ also im Zeichen der Aufhebung von Differenz zu stehen, während Plessner an ihr festhält. Letzterer spricht in „Lachen und Weinen“ von einem „mangelnden Zutrauen() zur Vernunft“, von einer „Opposition gegen den Cartesianismus“, die „das Zweiseitenmodell des menschlichen Wesens ... gegenstandslos machen will. Sie läßt sich erst gar nicht in die Leib-Seelenproblematik ein, sondern sucht sie als künstliche Schwierigkeit, als unnötige Konstruktion, als Mißverständnis zu destruieren. Sie weicht ihr in Wahrheit aus, indem sie in eine angeblich noch problemlose, ursprüngliche Schicht des Daseins und der Existenz zurückgeht, die sich mit der Schicht des Benehmens, des Verhaltens im Niveau, wenn man so sagen darf, nicht aber in der inneren Struktur deckt.“ (Vgl. Plessner 1950/1941, S.39)

Das „Zweiseitenmodell“, von dem Plessner hier spricht, beinhaltet die „Kluft“ zwischen Innen und Außen. Der „Anticartesianismus“ versucht Plessner zufolge durch Leugnung dieser Differenz  den „Anschein einer ursprünglichen Problemlosigkeit der menschlichen Seinssituation (zu) erzeugen, jedenfalls im Hinblick auf das Verhältnis der Psyche bzw. des Menschen zum Körper.“ (Vgl. ebenda) – Dieser Verweis auf den Anticartesianismus betrifft auch Merleau-Pontys Versuch einer Überwindung der Subjekt/Objekt-Differenz, die sich ja überhaupt erst aus der Innen/Außen-Differenz ergibt. Und es ist ja auch tatsächlich so, daß Merleau-Ponty nun an deren Stelle eine andere ‚Differenz‘ setzt, die man mit Plessner jetzt nur noch als eine Verschleierung der eigentlichen Differenz von Innen und Außen werten kann: die Differenz zwischen einem ursprünglichen und einem sekundären Sprechen, die zur Dekonstruktion des Verhältnisses von Psyche und Körper (Körperleib) führt. Denn was beinhaltet Merleau-Pontys ursprüngliches Sprechen anderes als jene von Plessner angesprochene „ursprüngliche() Problemlosigkeit der menschlichen Seinssituation“? – Es bleibt also nicht viel übrig von den von Plessner vermuteten Konvergenzen zwischen ihm und Merleau-Ponty. Sicher „wird in der Welt mehr gedacht, als man denkt“ (vgl. Plessner 3/1975, S.XXIII); aber es wird auch mehr anders gedacht, als man denkt.

Natürlich werden auch bei Merleau-Ponty Differenzen gesetzt und Grenzen gezogen, nicht nur zwischen dem ursprünglichen und dem sekundären Sprechen, sondern auch zwischen ‚mir‘ und dem Anderen. Diese Differenzen trage ‚ich‘ aber nicht am eigenen Leib, als Differenz in mir selbst und zu mir selbst, denn der Leib ist nicht als Körperleib bestimmt: „es gibt“, wie Merleau-Ponty in seinem Vorwort schreibt, „keinen inneren Menschen ...“ (Vgl. Merleau-Ponty 1966, S.7) – So richtig diese Aussage ist, wenn es um die Suche nach einem Homunkulus in der Mechanik des Körpers geht, der die Fäden in der Hand hält, so falsch ist sie doch, wenn sie beinhaltet, daß es keine Differenz zwischen innen und außen gibt.

So tritt an die Stelle des Plessnerschen „Hiatus“, der unüberwindbaren „Kluft“: der Wandel. Kommunikation wird gleichsam zur Kommunion, zur „Wandlung“ als „Verwandlung meines Seins“ (vgl. Merleau-Ponty 1966, S.218): „Die Kommunikation, das Verstehen von Gesten, gründet sich auf die wechselseitige Entsprechung meiner Intentionen und der Gebärden des Anderen, meiner Gebärden und der im Verhalten des Anderen sich bekundenden Intentionen. Dann ist es, als wohnten seine Intentionen meinem Leibe inne und die meinige(n) seinem Leibe. Die Gebärde, deren Zeuge ich bin, zeichnet umrißhaft einen intentionalen Gegenstand vor. Dieser gelangt zur Aktualität und zu vollem Verständnis, wenn die Vermöglichkeit meines Leibes sich ihm anmißt und mit ihm sich deckt. Die Gebärde tritt mir entgegen gleichwie eine Frage, mich verweisend auf bestimmte sinnliche Punkte der Welt und mich auffordernd, ihr dahin nachzugehen. Die Kommunikation kommt zustande, wenn mein Verhalten in der also angezeigten Richtung seinen eigenen Weg findet. So bestätige in eins ich den Anderen und bestätigt der Andere mich.“ (Merleau-Ponty 1966, S.220)

Hier ist in der Tat nicht mehr von Subjekten die Rede, oder von Medien, über die sie miteinander in Verbindung treten, wie z.B. die Plessnersche ‚Maske‘ oder die soziale Rolle, um die Intimität zu schützen. Vielmehr wohnen die Intentionen des Anderen in meinem Leib, so wie meine Intentionen im Leib des Anderen wohnen, in Form einer Inkarnation, bei der man nicht umsonst an die Verwandlung von Brot und Wein denkt. Über die Plessnersche Kluft hinweg oder vielmehr durch diese Kluft hindurch, als wäre sie schlichtweg nicht vorhanden, verschmelzen die ‚Geister‘ im jeweils anderen Leib. Oder mit Merleau-Ponty: wir gelangen „zur Aktualität“ des „volle(n) Verständnis(ses), wenn die Vermöglichkeit meines Leibes sich ihm (dem intentionalen Gegenstand – DZ) anmißt und mit ihm sich deckt“. (Vgl. Merleau-Ponty 1966, S.219) Wir haben uns also vollständig verwandelt, ohne Differenz und ohne Rest.

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Plessner und Merleau-Ponty im Vergleich

Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966
Erster Teil: Der Leib: VI. Der Leib als Ausdruck und die Sprache

1. Ähnlichkeiten
2. Unterschiede: Geste, Gebärde und Haltung
3. Unterschiede: Sprache und Sinn
4. Unterschiede: Verhältnisbestimmung von Natur und Kultur
5. Unterschiede: Einheit der Sinne versus leibliche Konfusion
6. Unterschiede: Wandlung versus Differenz
7. Unterschiede: Emergenz versus Gestalt

Es ist seltsam, wie zunächst der eine, Plessner, die Entzweiung des Menschen mit sich selbst hervorhebt, als Körperleib, und in eins damit den Beginn der Reflexion ansetzt, und der andere, Merleau-Ponty, die Verschmelzung von Subjekt und Objekt thematisiert, als Leib, und damit die Auflösung der Reflexion; wie dann aber wieder beide die Seiten tauschen, und der eine, Plessner, die Einheit der Sinne und des Organismus hervorhebt – mal als „System von Sinnesmodalitäten“ (Plessner 1980/1923, S.302), mal als „auf Erhaltung seines physiologischen Gleichgewichts notwendig bedachte Lebenseinheit“ (Plessner 1980/1923, S.294) –, während Merleau-Ponty, noch über Plessners Entzweiung des Körperleibs hinausgehend, von einem physiologischen Drama spricht, das durch den Leib „hindurch sich abspielt“, so daß von einer Einheit nur noch in einem impliziten und konfusen Sinne die Rede sein könne. (Vgl. Merleau-Ponty, S.234)

Bei Plessner erklärt sich die Entzweiung des Menschen mit sich selbst aus der Grenzbestimmung des Körperleibs. Diese Grenzbestimmung steht nicht im Widerspruch zu einer organischen und personalen Einheitsbestimmung des Menschen. Vielmehr wirkt sich die Grenzbestimmung auf die individuelle Ontogenese dynamisch aus, indem sich aus ihr neue Seinsebenen, Seele und Geist, erheben, die letztlich Momente seiner exzentrischen Positionalität bilden.

Merleau-Ponty hingegen nimmt die Physiologie von vornherein nicht in seine Leibbestimmung mit hinein, – jedenfalls nicht in dem Kapitel, mit dem ich mich hier hauptsächlich befasse und in dem es um eine Verhältnisbestimmung von leiblichem Ausdruck und Sprache geht. Die Physiologie wird von ihm nur „als Bündel von Vorgängen dritter Person“ beschrieben. (Vgl. Merleau-Ponty 1966, S.234) Mit „Vorgängen dritter Person“ scheint Merleau-Ponty empirische Prozesse zu meinen, die ‚objektiv‘ beobachtet und analysiert werden können. Aus dieser Perspektive können die physiologischen Prozesse des Organismus – so Merleau-Ponty – keine organische Einheit bilden, sondern dem Betrachter (als dritter Person) nur den Eindruck eines verworrenen, unzusammenhängenden „Bündels“ bieten. (Vgl. ebenda)

Aber niemand ist gezwungen, die Physiologie aus dieser Perspektive zu sehen! Auch Plessner lehnt ein deskriptiv-analytisches Vorgehen ab, das nur zu Zergliederungen „der verschiedenen Sinneseindrücke“ führen könne und dabei den Blick für ihre Einheit aus den Augen zu verlieren droht. (Vgl. Plessner 1980/1923, S.294) Nur weil man also eine mechanistische Auffassung der organischen Physiologie ablehnt, muß man doch nicht gleich die ganze Physiologie als mechanistisches (vgl. Merleau-Ponty 1966, S.223) und insgesamt verworrenes und konfuses Geschehen verwerfen!

Vor allem aber muß aufgrund der Ausklammerung der Physiologie als Vorgängen dritter Person unverständlich bleiben, wie denn die „Sprachgebärde“ funktionieren soll. Denn Merleau-Ponty zufolge stellt sie eine „Modulation“, einen „Gebrauch“ des Leibes dar. (Vgl. Merleau-Ponty 1966, S.214) Worin aber soll die Modulation bestehen, wenn nicht in einer Modulation seiner Physiologie? Sowohl Artikulation als auch Klang, auf die Merleau hier verweist, haben ihre Grundlagen in den Organen und im Volumen des Körpers. Ohne die dazugehörige Physiologie wäre also eine Sprachgebärde im Merleau-Pontyschen Sinne überhaupt nicht denkbar!

Auch die empathischen Grundlagen der Intersubjektivität, die Merleau-Ponty nicht als eine „Leistung des Denkens“ beschreibt, sondern als eine „synchrone Modulation meiner eigenen Existenz, eine Verwandlung meines Seins“ (vgl. Merleau-Ponty 1966, S.218), haben ihre Physiologie, – denn was sonst sollte unter „synchroner Modulation meiner eigenen Existenz“ zu verstehen sein? Wenn also tatsächlich Kommunikation dadurch ermöglicht wird, daß die Intentionen eines anderen Menschen „meinem Leibe inne (wohnen)“, wie Merleau-Ponty schreibt, und „die meinige(n) seinem Leibe“ (vgl. Merleau-Ponty 1966, S.219), dann kann dies doch nur in der Form einer Haltung bzw. eben einer „Gebärde“ gemeint sein, also in Form einer über die Körperhaltung umgesetzten Modifikation der Physiologie.

Ohne ein solches Verständnis und eine entsprechende Klärung physiologischer Prozesse bleibt jedenfalls Merleau-Pontys zentrale These, daß nämlich der Leib es ist, „der zeigt“ und „der spricht“, unbegründet. (Vgl. Merleau-Ponty 1966, S.233)

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Dienstag, 22. November 2011

Plessner und Merleau-Ponty im Vergleich

Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966
Erster Teil: Der Leib: VI. Der Leib als Ausdruck und die Sprache

1. Ähnlichkeiten
2. Unterschiede: Geste, Gebärde und Haltung
3. Unterschiede: Sprache und Sinn
4. Unterschiede: Verhältnisbestimmung von Natur und Kultur
5. Unterschiede: Einheit der Sinne versus leibliche Konfusion
6. Unterschiede: Wandlung versus Differenz
7. Unterschiede: Emergenz versus Gestalt

In „Die Stufen des Organischen und der Mensch“ hält Plessner fest, daß man nicht über den Menschen sprechen kann, ohne eine positive Verhältnisbestimmung von Natur und Kultur vorzunehmen: „Die Theorie der Geisteswissenschaft braucht Naturphilosophie, d.h. eine nicht empirisch restringierte Betrachtung der körperlichen Welt, aus der sich die geistig-menschliche Welt nun einmal aufbaut, von der sie abhängt, mit der sie arbeitet, auf die sie zurückwirkt.“ (Plessner 1975/1928, S.26) – In „Die Einheit der Sinne“ ist vom „erlebnismäßige(n) Hineinragen der Natur in das seelische Sein“ die Rede.  (Vgl. Plessner 1980/1923, S.174) – In „Lachen und Weinen“ umschreibt Plessner die Natur des Menschen mit folgenden Worten: „Die Natur hat ihn als eine Existenz mit doppeltem Boden geschaffen, mehreren Ebenen und Aspekten angehörig, auf welche sich die widerstreitenden Kräfte verteilen ...“ (Plessner 1950/1941, S.116)

Plessner hat also keine Berührungsprobleme mit dem Naturbegriff, weder mit der Natur, aus der der Mensch herkommt (Biologie), noch mit der Natur, die er bearbeitet (Kultur), noch mit der Natur, die er seinem Wesen nach ist, und sei sie letztlich auch nur negativ bestimmbar als Entzweiung mit sich selbst. Das ist eigentlich auch nicht anders zu erwarten, wenn jemand vom Leib her und auf den Leib hin denkt. Wer immer den Leib in seine Überlegungen zum Menschen mit einbezieht, kann einer Verhältnisbestimmung von Natur und Kultur nicht ausweichen. Einfach nur zu postulieren, daß alles, was den Menschen betrifft, künstlich sei, artifiziell oder kulturell bedingt, reicht nicht aus.

Deshalb war ich schon sehr überrascht, bei Merleau-Ponty auf folgende Textstelle zu stoßen: „Es geht schlechterdings nicht an, beim Menschen eine erste Schicht von ‚natürlich‘ genannten Verhaltungen und eine zweite, erst hergestellte und darübergelegte Schicht der geistigen oder Kultur-Welt unterscheiden zu wollen. ...“ (Merleau-Ponty 1966, S.224) – War denn bislang nicht immer vom Leib und von der Leiblichkeit als wesentlichen Bestimmungen des menschlichen Weltverhältnisses die Rede gewesen? Es macht biologisch einfach keinen Sinn, dessen Naturausstattung zu leugnen; wie es dann übrigens noch auf der selben Seite auch Merleau-Ponty zugesteht, wenn er schreibt, daß der Mensch dem „biologischen Sein“ „einiges“ „verdankt“. Leider versäumt es Merleau-Ponty, diese Aussage mit jener anderen über die Nicht-Unterscheidbarkeit einer „natürlichen Schicht“ zu verbinden und zu erklären, inwiefern etwas, das einerseits „schlechterdings“ irrelevant ist, andererseits doch wieder „einiges“ bewirkt haben soll.

Trotz dieses verwirrenden Hin und Hers zum Naturbegriff, findet Merleau-Ponty doch zu einer durchaus interessanten Definition für ‚Kultur‘, nämlich als dem Gebrauch, den wir von unserer biologischen Ausstattung machen: „Der bloße Umstand, daß zwei bewußte Wesen dieselben Organe und dasselbe Nervensystem besitzen, bewirkt noch keineswegs, daß dieselben Erregungen sich beim einen wie beim anderen in denselben Zeichen äußern. Entscheidend ist vielmehr die jeweilige Art und Weise des Gebrauchs des Leibes der in der Emotion in eins vollzogenen Formgebung von Leib und Welt. ... Der Gebrauch, den der Mensch von seinem Leibe macht, transzendiert den Körper als bloß biologisch Seiendes.“ (Merleau-Ponty 1966, S.223f.)

Wenn wir einmal davon absehen, daß Merleau-Ponty hier eine für seinen eigenen Ansatz befremdliche Abstraktion vornimmt, nämlich das Ablösen der Physiologie vom Leib, die im Unterschied zum Leib noch keine Individualisierung ermöglicht, – einmal abgesehen davon, daß es doch eigentlich genau diese Physiologie ist, in die hinein sich das leibhafte Weltverhältnis emotional und motorisch vermittelt, – davon also abgesehen erfaßt er mit dem „Gebrauch“, den wir von all dem machen, genau jenen Freiraum, der das Verhältnis von Natur und Kultur bestimmt.

Denn neben dem Bewußtsein bildet die Kultur selbstverständlich genau jenen geistigen Freiraum, der es uns ermöglicht, „Gebrauch“ von ‚der‘ Natur zu machen, – handle es sich dabei nun um die Natur unserer Umwelt oder um die biologische Natur unseres eigenen Leibes. Aber die Freiheit dieses Gebrauchs der Natur ist selbstverständlich überhaupt kein Grund, ihr gegenüber die Natur selbst als bedeutungslos abzutun. Die Frage ist vielmehr, wie dieser Freiraum möglich wird und welche Rückschlüsse sich daraus für ‚die‘ Natur des Menschen ergeben.

Was bei Merleau-Ponty letztlich nicht thematisch wird, ist, daß die „jeweilige Art und Weise des Gebrauchs“ nicht nur einen Freiraum voraussetzt. Der Freiraum selbst braucht auch eine Differenz, aus der heraus er sich öffnen kann. Diesen Freiraum eröffnet bei Plessner der Körperleib, also die Physiologie bzw. seine Anatomie, die ganz und gar nicht kontingent ist, sondern notwendig, im Sinne von Plessners Einheit der Sinne! Erst die Differenz des Körperleibs gibt Raum für den Gebrauch von Sensorik und Motorik.

Als ähnlich befremdlich – wiederum von seinem eigenen Ansatz her – empfinde ich es, wenn Merleau-Ponty sich weigert, zwischen natürlichen und künstlichen Zeichen zu differenzieren: „Das künstliche Zeichen läßt sich aus keinem natürlichen herleiten, da es beim Menschen natürliche Zeichen gar nicht gibt, und die Annäherung der Sprache an emotionale Ausdrücke kompromittiert nicht ihr Spezifisches, da auch die Emotionen, als Weisen unseres Zur-Welt-Seins, zur mechanischen Anlage unseres Körpers im Verhältnis der Kontingenz stehen und dasselbe Vermögen, Reizen und Situationen Gestalt zu geben, das in der Sprache seine höchste Ausbildung findet, auch ihnen schon eignet.“ (Merleau-Ponty, S.223)

Wie kann es in Merleau-Pontys Phänomenologie so etwas wie eine „mechanische Anlage des Körpers“ geben, von der sich die Emotionen als kontingente Weisen unseres Zur-Welt-Seins unterscheiden lassen? Entweder bildet der Leib als Körper ein unhintergehbares Fundament unserer Weltlichkeit, dann kann ich davon nicht nochmal eine körperliche Physiologie als leblose Mechanik abspalten. Oder der Leib stellt nur eine Bewußtseinsfunktion dar und besteht letztlich nur als kulturelle Prägung. Im letzteren Falle würde die Natur tatsächlich keine Rolle spielen. Im ersteren Falle aber bildet die Natur als ganze, bis in die physiologischen Prozesse hinein, eine unhintergehbare Voraussetzung aller Lebensäußerungen des Menschen.

Damit ist dann noch nichts über die Kontingenz oder die Notwendigkeit dieser Lebensäußerungen selbst gesagt. Aus der Biologie der Geschlechter ließe sich noch nicht ableiten, was ein ‚Mann‘ oder was eine ‚Frau‘ ihrer Natur nach sind. Dennoch ist die biologische Verschiedenheit nicht bedeutungslos. Über eine entsprechende Differenzierung in die eine oder in die andere Richtung, Freiheit oder Determination, ist noch nichts gesagt, wenn wir mit Plessner davon ausgehen, daß die Naturprozesse „in das seelische Sein“ „hineinragen“.

Indem sich Merleau-Ponty weigert, zwischen natürlichen und künstlichen Zeichen zu unterscheiden, weil alle Zeichen künstlich sind, auch die leiblichen Gebärden, nivelliert er die Differenz zwischen wortloser Gebärde und Wortsprache. Plessner hingegen verlegt die entscheidende Differenz sogar auf einen noch früheren Zeitpunkt, indem er schon zwischen unbewußter Mimik und bewußter Gebärdensprache unterscheidet, ob also jemand freundliche Zugewandtheit mimisch spontan oder nur als höfliche Gebärde zum Ausdruck bringt: „Aber der gleitende Umschlag von der natürlichen Mimik zur gewollten (oder jedenfalls der Konvention unterliegenden) Gebärdensprache kann den Wesensunterschied zwischen beiden Ausdrucksweisen nicht verwischen. Wenn die Geste etwas ausdrückt, indem der Mensch mit ihr etwas meint, so hat der mimische Ausdruck ... eine Bedeutung, indem sich in ihm eine Erregung (ein Zustand oder eine Aufwallung des Innern) spiegelnd äußert.“ (Plessner 1950/1941, S.70)

Anders als Plessner, der zwischen dem bewußten ‚Gebrauch‘ einer Gebärde, mit der ich etwas zum Ausdruck bringe, so daß sich hier eine Differenz zwischen ‚sagen‘ und ‚meinen‘ eröffnet, und der Mimik unterscheidet, in der sich eine Emotion jenseits dieser Differenz bloß ‚spiegelt‘, schlägt bei Merleau-Ponty – gerade weil ihm beim Menschen alles unterschiedslos Kultur bzw. ‚künstlich‘ ist – die Kulturleistung par excellence, die Sprache, in bloße Natur um. Sie wird zur Sprachgebärde, ‚in‘ der wir uns – um mit Plessner zu sprechen – nur noch ‚spiegeln‘ können, als Ausdruck unserer Inkarnation.

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Plessner und Merleau-Ponty im Vergleich

Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966
Erster Teil: Der Leib: VI. Der Leib als Ausdruck und die Sprache

1. Ähnlichkeiten
2. Unterschiede: Geste, Gebärde und Haltung
3. Unterschiede: Sprache und Sinn
4. Unterschiede: Verhältnisbestimmung von Natur und Kultur
5. Unterschiede: Einheit der Sinne versus leibliche Konfusion
6. Unterschiede: Wandlung versus Differenz
7. Unterschiede: Emergenz versus Gestalt

Man könnte hinsichtlich der im ersten Post angesprochenen Konvergenzen im Denken von Plessner und Merleau-Ponty darauf verweisen, daß es bei beiden für den Menschen wesentlich ist, sein Inneres nach Außen zu wenden, also sich auszudrücken. So heißt es bei Merleau-Ponty, daß „alles Denken im Ausdruck gleichsam seine Vollendung sucht“, daß „der vertrauteste Gegenstand uns unbestimmt bleibt, solange wir seinen Namen nicht finden“, und sogar daß „das denkende Subjekt gleichsam seine eigenen Gedanken nicht weiß, solange es sie nicht für sich selbst formuliert, ja solange es sie nicht ausgesprochen oder niedergeschrieben hat ...“ (Vgl. Merleau-Ponty 1966, S.210) – Jede einzelne dieser Formulierungen hätte so auch von Plessner stammen können.

Sobald wir aber einzelne Worte in diesen Formulierungen ändern, sieht das schon ganz anders aus. Würden wir z.B. schreiben, daß alles Denken im Ausdruck gleichsam seine Vollendung findet, statt sie nur zu ‚suchen‘, hätte das damit verbundene Menschenbild nichts mehr mit dem Plessnerschen zu tun. Und wenn man genauer hinsieht, stellt man bald fest, daß Merleau-Ponty im Suchen nach der Vollendung das Finden immer schon mitdenkt, – daß ihm zufolge sogar das Suchen nur auf der Basis funktioniert, daß man schon gefunden hat: „Gewiß ist der Vorgang des Denkens ein blitzartig augenblicklicher, doch bleibt uns sodann, es uns anzueignen; und wir machen es uns zu eigen nur durch den Ausdruck.“ (Merleau-Ponty 1966, S.211)

Das Denken hat demnach schon stattgefunden, intuitiv und „blitzartig“, – und schon hier ohne Thematisierung eines selbstbewußten Denksubjekts. Die dann nachfolgende artikulatorische Entfaltung des Denkens beinhaltet zwar eine Art Suche nach dem richtigen Ausdruck; dieser ist dann aber – einmal gefunden – über jeden Zweifel erhaben, denn er ist das, „was den Gedanken erst wahrhaft vollbringt().“ (Vgl. Merleau-Ponty 1966, S.211)

Wie aber gelingt die Verbindung zwischen der blitzartigen Intuition und dem gesprochenen Wort? Indem das gesprochene bzw. das sprechende Wort („sprechende Sprache“; vgl. Merleau-Ponty 1966, S.232) analog zum Leib immer schon Sinn hat: „Die Bindung des Wortes an seinen lebendigen Sinn ist kein äußerlicher Assoziationsverband, der Sinn wohnt dem Worte selbst inne, und so ,verliert auch die Sprache den Charakter einer äußerlichen Begleiterscheinung intellektueller Vorgänge‘().“ (Merleau-Ponty 1966, S.228)

Schon der Leib selbst ist wesentlich Gebärde, also Kommunikation von Sinn, und von ihm her wächst den Worten Sinn zu. Die Worte werden selbst zur Gebärde, zur Klanggebärde: „... der Leib verwandelt eine bestimmte motorische Wesenheit in Verlautbarung, entfaltet den Artikulationsstil eines Wortes in Klangphänomene, entfaltet eine einstige Haltung, die er erneuert, zum Panorama einer Vergangenheit, projiziert eine Bewegungsintention in wirkliche Bewegung, da er schlechthin das Vermögen natürlichen Ausdrucks ist.“ (Merleau-Ponty 1966, S.215) – Die Klangphänomene bilden so „eine erste Bedeutungsschicht“ der Worte, „die ihnen unmittelbar anhängt, den Gedanken aber nicht so als begriffliche Aussage, sondern als Stil, als affektiven Wert, als existentielle Gebärde mitteilt.“ (Vgl. Merleau-Ponty 1966, S.216)

Die Worte bilden letztlich also eine Verlängerung der leiblichen Motorik. Der ‚Sprecher‘ denkt und handelt in ihnen und mit ihnen wie mit leiblichen Organen: „Es genügt, daß Leib und Raum für mich existieren und ein mich umspannendes Feld des Handelns konstituieren. In gleicher Weise bedarf ich auch keiner besonderen Vorstellung von einem Wort, um es wissen und aussprechen zu können. Es genügt, daß ich sein Artikulations- und Klangwesen innehabe als eine mögliche Modulation, einen möglichen Gebrauch meines Leibes.“ (Merleau-Ponty 1966, S.214)

Der Sinn der Worte ist also immer schon ein leiblicher Sinn, weshalb Merleau-Ponty ja Worte auch als „Sprachgebärden“ bezeichnet (vgl. Merleau-Ponty 1966, S.221). Am Beispiel eines Vorstellungsbildes vom abwesenden ‚Peter‘ verdeutlicht Merleau-Ponty diesen Zusammenhang: „Daß ich mir Peter vergegenwärtige, heißt, daß ich mir eine Quasi-Gegenwart Peters verschaffe, indem ich ‚Peters‘ Verhalten sozusagen auslöse. Und so wie der eingebildete Peter nur eine Modalität meines Zur-Welt-seins ist, so ist auch das Wortbild nur eine Modalität meiner phonetischen Gestik, eine Modalität, die in eins mit zahllosen anderen mir gegeben ist im Gesamtbewußtsein meines Leibes.“ (Merleau-Ponty 1966, S.214f.)

Kommt aber in der Abwesenheit von Peter noch eine gewisse Differenz zwischen ihm und seinem Vorstellungs- bzw. Wortbild zum Ausdruck, so soll der Sinn des Wortes selbst nur noch in den Modifikationen bestehen, die es im „Gesamtbewußtseins meines Leibes“ hervorruft. Denn: „... trieben wir die Untersuchung hinreichend weit, so entdeckten wir schließlich, daß auch die Sprache (ähnlich wie die Musik – DZ) nichts sagt als sich selbst und ihr Sinn von ihr selbst nicht trennbar ist.“ (Merleau-Ponty 1966, S.223)

Eine Sprache aber, die sich selbst sagt und deren Sinn von ihr nicht trennbar ist, begnügt sich mit dem „eingebildeten Peter“. Sie verzichtet nicht nur auf dessen Anwesenheit, sondern macht sich nicht einmal mehr die Mühe, auf ihn zu verweisen. Sie begnügt sich mit sich selbst. Und der Sprecher wiederum begnügt sich damit, das Denken der Sprache zu überlassen: „Wohl hat Sprache ein Inneres, doch dieses Innere ist nicht das eines in sich geschlossenen selbstbewußten Denkens. ... Was sie darstellt oder vielmehr ist, ist nichts anderes als die Stellungnahme des Subjekts in der Welt seiner Bedeutungen. Und das Wort ‚Welt‘ ist hier keineswegs ein nur redensartlicher Ausdruck: es will sagen, daß das ‚geistige‘, das kulturelle Leben seine Strukturen dem natürlichen Leben entlehnt, daß das denkende Subjekt sich gründen muß im inkarnierten Subjekt.“ (Merleau-Ponty 1966, S.228f.)

Zwar scheint Merleau-Ponty hier erstmals eine echte Subjektbestimmung vorzunehmen, die das Subjekt nicht hinterrücks wieder in einem umfassenden Vorgang aufzulösen scheint. Aber anstatt diesem Subjekt ein Selbstbewußtsein zuzusprechen, bildet es lediglich den inkarnierten Mittelpunkt einer „Welt“ von „Bedeutungen“. Es steht – so Merleau-Ponty ausdrücklich – nicht im Zentrum eines selbstbewußten Denkens. Dieses Subjekt kann nicht scheitern. Es kann nur vollziehen. Dieses gleichzeitig inkarnierte wie unreflektierte Vollziehen von Bedeutungsintentionen ist seine Bestimmung, denn „die Erfahrung des eigenen Leibes (widersetzt sich) der Bewegung der Reflexion, die das Objekt vom Subjekt, das Subjekt vom Objekt lösen will ...“ (Merleau-Ponty 1966, S.234)

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Montag, 21. November 2011

Plessner und Merleau-Ponty im Vergleich

Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966
Erster Teil: Der Leib: VI. Der Leib als Ausdruck und die Sprache

1. Ähnlichkeiten
2. Unterschiede: Geste, Gebärde und Haltung
3. Unterschiede: Sprache und Sinn
4. Unterschiede: Verhältnisbestimmung von Natur und Kultur
5. Unterschiede: Einheit der Sinne versus leibliche Konfusion
6. Unterschiede: Wandlung versus Differenz
7. Unterschiede: Emergenz versus Gestalt

Wo sich zunächst eine weitere Konvergenz zwischen Plessner und Merleau-Ponty anzudeuten scheint, ist hier eine erste fundamentale Differenz festzumachen. Zwar macht Merleau-Ponty ähnlich wie Plessner das menschliche Ausdrucksvermögen – Merleau-Ponty selbst spricht vom „Vermögen der Bedeutungsschöpfung und Bedeutungskommunikation“ (Merleau-Ponty 1966, S.224) – an Strukturen der leiblichen Weltzugewandtheit fest, aber anstatt diese Strukturen als Doppelaspektivität von Innen und Außen und damit als exzentrische Positionalität zu bestimmen, führt er sie auf eine ursprüngliche Schicht des Sprechens zurück, in der der Sinn der Worte im Akt der Benennung mit dem Sinn von erstmalig wahrgenommenen Dingen verschmilzt: „Dann fänden wir, daß Worte, Vokale, Phoneme soviel Weisen sind, gleichsam die Welt zu besingen, bestimmt, die Dinge selbst zu vertreten, nicht, wie naive Theorien der Onomatopö(i)e glaubten, aufgrund von objektiven Ähnlichkeiten, sondern als Extrakte ihrer emotionalen Essenz, als deren ‚Ausdruck‘ im natürlichen Sinne.“ (Merleau-Ponty 1966, S.221f.)

Mit „Extrakte ihrer emotionalen Essenz“ verweist Merleau-Ponty auf den Gebärdencharakter der Worte, die hinabreichen in die Tiefen der individuellen Haltung, also sedimentierter Erfahrungen und Erlebnisse und deren geistiger Verarbeitung als unbewußt gewordene Modifikationen physiologischer Prozesse. In diesem Sinne ‚zeigen‘ sich die Dinge nicht nur, sondern ‚sprechen‘ sie auch.

In diesem Zusammenhang beschreibt Merleau-Ponty die Sprache auch als ein „Ausdruckssystem“ (Merleau-Ponty 1966, S.222). In Kombination mit dem Begriff der „Sprachgebärde“ (Merleau-Ponty 1966, S.221), womit eine Ausdruckshaltung gemeint ist, die wir der Welt gegenüber einnehmen, verweist der Begriff des Ausdruckssystems auf ein System von „verfügbaren Bedeutungen“, die eine Art Kulturbesitz darstellen, aufgrund dessen die „sprechenden Subjekte eine gemeinsame Welt (besitzen)“. (Vgl. Merleau-Ponty 1966, S.221) Die verschiedenen Sprachen sind also in dem Sinne Ausdruckssysteme, als sie „je andere Weisen des menschlichen Leibes“ bilden, die Welt (gleichwie ein Fest) zu begehen und zu erleben.“ (Vgl. Merleau-Ponty 1966, S.222) Als Weisen der leiblichen Weltzugewandtheit bilden Sprachen zugleich auch selbst Welten: „Auch wenn wir mehrere Sprachen sprechen, bleibt immer nur eine(,) die, in der wir leben. Um eine Sprache sich vollständig anzueignen, müßte man die Welt übernehmen, die in ihr Ausdruck findet; doch nie vermögen wir zweierlei Welten zugleich anzugehören().“ (Merleau-Ponty 1966, S.222)

Obwohl also die Sprache eine so bedeutsame Funktion im menschlichen Selbst- und Weltverhältnis hat, bildet sie dennoch auch als Ausdruckssystem nur eine Konvention. Es sind zwar vorangegangene Bedeutungsintentionen in sie eingegangen, so daß sprechende Subjekte über sie verfügen können, aber zugleich macht sie vergessen, daß sie nicht die Quelle dieser Bedeutungsintentionen ist: „Der Kontingenz in Ausdruck und Kommunikation ... sind wir nicht mehr bewußt. Gleichwohl ist klar, daß die unser alltägliches Leben beherrschende konstituierte Sprache den entscheidenden Schritt des Ausdrucks als schon vollzogen voraussetzt.“ (Merleau-Ponty 1966, S.218)

Als Konvention bildet die Sprache deshalb nur ein System „sekundären“, lediglich „empirischen“ Sprechens. (Vgl. Merleau-Ponty 1966, S.211) Das eigentliche, ursprüngliche Sprechen findet auf der Ebene der Sprachgebärde bzw. der Sprachgeste statt: „Sprache und Worte tragen ... in sich eine erste Bedeutungsschicht, die ihnen unmittelbar anhängt, den Gedanken aber nicht so als begriffliche Aussage, sondern als Stil, als affektiven Wert, als existentielle Gebärde mitteilt.“ (Merleau-Ponty 1966, S.216) – Diese Sprachgebärde entspricht jener Sprech- und Verstehenshaltung, wie ich sie in meinem Post zu Raoul Schrott und Arthur Jacobs (vom 21.07.11) schon beschrieben habe. Sie reicht hinab in die physiologischen Zustände und zu den körperlichen Organen unserer Sprachlichkeit, mit denen sich unsere psychischen und geistigen Aktivitäten im Einklang befinden müssen, um sinnvolle Worte und Sätze artikulieren zu können. In diesem Sinn ist auch das mündliche, gesprochene Wort selbst noch Gebärde: „... und es trägt seinen Sinn in sich wie die Geste den ihren. Eben das ist es, was Kommunikation möglich macht.“ (Vgl. Merleau-Ponty 1966, S.217)

Diese Schicht des ursprünglichen Sprechens, der ersten, Benennungen ermöglichenden Begegnung mit den Gegenständen z.B. in der Kindheit beinhaltet jenes Vermögen der Bedeutungsschöpfung, aus dem sich dann das sekundäre System schon gefundener, verfügbarer Ausdrucksformen herausbildet: „... durch ein und dasselbe Vermögen erschließt sich der Leib hier einem neuen Verhalten und gibt in eins Zeugen dieses Verhalten zu verstehen.“ (Merleau-Ponty 1966, S.229)

Der Bedeutungsvollzug selbst, also das ursprüngliche Sprechen im Unterschied zum sekundären Sprechen, verschmilzt dabei mit dem je gefundenen Ausdruck, so daß die Worte auf den Sinn nicht nur verweisen, als wären sie künstliche Zeichen, die man beliebig mit verschiedenen Bedeutungen versehen kann: „So ist für den Sprechenden das Wort nicht bloße Übersetzung schon fertiger Gedanken, sondern das, was den Gedanken erst wahrhaft vollbringt().“ (Merleau-Ponty 1966, S.211)

Dieses Verschmelzen von Ausdruck und Sinn macht Merleau-Ponty am Beispiel der Musik und des Schauspiels deutlich. So sind in der Musik die Töne, in Analogie zum gesprochenen Wort in der Sprache, auch nicht äußerliche Zeichen. Ohne die Töne gäbe es vielmehr die Musik gar nicht. Erst in der gespielten Musik, im Hören der Töne, ist die Musik real. (Vgl. Merleau-Ponty 1966, S.217, 223) Und wenn eine Schauspielerin Phädra spielt, so ist da nicht zusätzlich eine reale Person hinter der Maske, sondern sie ist – im Akt des schauspielerischen Vollzugs – Phädra selbst. (Vgl. Merleau-Ponty 1966, S.217)

Hier wird deutlich, wie Merleau Ponty in der Verbindung von Sinn und Sinnstiftung im Vollzug des Sprechens zugleich auch Subjekt und Medium ununterscheidbar miteinander verschmilzt. Plessner hingegen stellt die sprechende Person individuell an die Grenze zwischen Innen und Außen und sozial an die Grenze zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft, wobei die Maskierung ihre Funktion gerade darin hat, die Person vor dem entblößenden Zugriff der Außenwelt zu schützen und ihr einen Freiraum des spielerischen Umgangs mit Rollenerwartungen und Identitätszumutungen zu eröffnen.

Merleau-Ponty übergeht die Differenz zwischen Person und Maske. Auch der Hinweis auf die Gebärde des Zorns, die den Zorn des Zornigen nicht etwa zum Ausdruck bringt, im Sinne einer Differenz zwischen Innen und Außen, sondern die der Zorn selbst ist, deutet die Richtung an: „... übrigens fasse ich Zorn und Drohung nicht als hinter den Gesten verborgene psychische Fakten, ich sehe vielmehr den Zorn der Gebärde an: sie läßt nicht lediglich denken an Zorn, sie ist der Zorn.“ (Merleau-Ponty 1966, S.219) – Ähnlich, wie es im Zorn also kein Subjekt gibt, das sich einer zornigen Gebärde bedient, sondern nur den Zorn als Gebärde, gibt es letztlich auch kein persönliches Subjekt in der Sprache, sondern nur ein unpersönliches, ursprüngliches Sprechen. Wenn Merleau-Ponty dennoch immer wieder vom „inkarnierten Subjekt“ spricht (vgl. Merleau-Ponty 1966, S.219f., 228f.), meint er letztlich nichts anderes damit, als den ursprünglichen Vollzug des Sprechens selbst.

Dennoch kann der Zorn vorgetäuscht werden. Sonst gäbe es keine Schauspielerei! Wäre jeder vorgetäuschte Zorn zugleich echter Zorn, wie sollte man dann noch Schauspielerei und realen Lebensvollzug unterscheiden? Als eine denkbare Grundlage eines solchen vorgetäuschten Zorns käme die Innen/Außen-Differenz in Betracht, die eine andersartige innere Gestimmtheit ermöglicht; oder eine Art kontrollierter Zorn, so daß ich zwar beim Vortäuschen tatsächlich auch Zorn empfinde, diesem Zorn gegenüber aber eine ‚innere‘ Distanz aufrechterhalte, so daß ich nicht mit ihm verschmelze. Das entspräche dem, was ich schon in früheren Posts als zweite Naivität beschrieben habe. Auch hier hätten wir immer noch eine Innen/Außen-Differenz, aber eine, die sich mehr an der Oberfläche hält, also mehr eine Grenzbestimmung als eine Raumbestimmung darstellt.

Auch wenn das phänomenologische Denken immer von Oberflächen ausgeht, ‚hinter‘ denen nichts verborgen ist, kann man doch daran festhalten, daß diese Oberflächen eine Grenzbestimmung beinhalten. Als eine solche Grenzbestimmung eröffnet die Oberfläche erst die Differenz zwischen Innen und Außen, so wie die Haut als Grenzbestimmung des Leibes. Deshalb ist nichts ‚unterhalb‘ dieser Haut, was im eigentlichen Sinne mehr Körper wäre als die Haut selbst, weder die Leber, noch das Herz oder das Gehirn. Um dem Menschen zu begegnen, müssen wir seine Haut berühren und nicht sein Gehirn bloßlegen.

So sehr also Merleau-Pontys Anliegen, an der Oberfläche zu bleiben, phänomenologisch gerechtfertigt ist, so wenig akzeptabel ist das Leugnen innerlicher Zustände, wie etwa Intimität und Scham, die Merleau-Ponty nur auf die Sexualität zu beziehen weiß. (Vgl. Merleau-Ponty 1966, S.199f.) Indem Merleau-Ponty das ursprüngliche Sprechen als inkarniertes Subjekt zur Grundlage der Bedeutungsschöpfung macht, denkt er das menschliche Selbst- und Weltverhältnis vom Gelingen einer Verschmelzung her, während Plessner das menschliche Selbst- und Weltverhältnis von dessem Mißlingen her denkt. Letztlich glaubt Merleau-Ponty an die Unmittelbarkeit, an Authentizität, während Plessner auf die zweite Naivität hofft, in der wir von uns und unseren Bedürfnissen wissen und in der wir sie zugleich kontrollieren.

Ohne also Plessner jetzt einfach als Nihilisten bezeichnen zu wollen, kann man doch festhalten, daß er von Kierkegaard und Nietzsche gelernt hat. Merleau-Pontys Menschenbild bleibt dagegen in der ersten Schicht der Naivität befangen. Sein Mensch ist gleichermaßen „dezentriert“ (Merleau-Ponty 1966, S.229) und ahnungslos. Nicht von ungefähr tritt bei Merleau-Ponty der Begriff der Bedeutung an die Stelle des Bewußtseins. Sein Mensch denkt nicht; dafür ist er um so bedeutungsvoller: „So widersetzt sich die Erfahrung des eigenen Leibes der Bewegung der Reflexion, die das Objekt vom Subjekt, das Subjekt vom Objekt lösen will, in Wahrheit aber uns nur den Gedanken des Leibes, nicht die Erfahrung des Leibes, den Leib nur in der Idee, nicht in Wirklichkeit gibt.“ (Merleau-Ponty 1966, S.234)

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