„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 14. Dezember 2010

Überlegungen zum falschen Bewußtsein

Wenn das Bewußtsein also notwendig falsch ist, wie es Kant am transzendentalen Schein (vgl. meinen Post vom 5.12.) aufzeigt, dann hat Metzinger, den ich in meinen Posts vom 23., 24. und 30.04., vom 05., 09., 13. und 16.05. mit ziemlich heftiger Kritik überzogen habe, vielleicht doch Recht? Mein wichtigstes Prinzip in der Beurteilung wissenschaftlicher Arbeit – egal ob es dabei um Natur- oder Geisteswissenschaften geht – ist, ob sie den menschlichen Verstand stärkt oder schwächt und ob sie dazu beiträgt, kommenden Generationen eine menschliche Zukunft zu gewährleisten. Metzingers pseudo-philosophische Kommentare zur Neurophysiologie schwächen den menschlichen Verstand. Damit ist alles gesagt.

Was aber hat es nun mit dem notwendig falschen Verstand auf sich, der uns eine Wirklichkeit vorspiegelt, als handelte es sich dabei um ein Ding an sich? Handelt es sich dabei nicht um ‚Simulationen‘? Hier haben wir es zunächstmal mit einem Problem der Sprache zu tun. Gibt es ‚Simulationen‘, so muß es auch etwas geben, das simuliert wird. Wenn alles Simulation ist, wird letztlich gar nichts simuliert. Der Gebrauch des Wortes ‚Simulation‘ macht dann schlichtweg keinen Sinn. Was hat es aber mit virtuellen Wirklichkeiten auf sich? Sind diese nicht dem Wort nach genau das, was Kant als falsches Bewußtsein bezeichnet? Hier kann man zumindestens entgegnen, daß in unserer Bewußtseinshaltung, als Wahrnehmung (und genau genommen ist Bewußtsein nichts anderes als Wahrnehmung!), immer schon ein Kriterium zur Unterscheidung von virtueller und wirklicher Wirklichkeit enthalten ist, auch wenn wir auf der sprachlichen Ebene – wiedermal notwendigerweise – in Tautologien geraten.

Hier deutet die Tautologie ‚wirkliche Wirklichkeit‘ aber lediglich darauf hin, daß dieses Kriterium auf der sprachlichen Ebene nicht auffindbar ist und wir es bei dem fraglichen Kriterium möglicherweise mit einem vorsprachlichen Verfahren – eben mit der Wahrnehmung – zu tun haben. Der wichtigste Beleg dafür besteht darin, daß wir ohne dieses Kriterium nicht lebensfähig, nicht überlebensfähig sind. Plessners Hinweis darauf, daß das Unmittelbarkeitserlebnis in der Wahrnehmung darauf hindeutet, daß da etwas ist, das in seiner Präsenz über unsere Wahrnehmungsgrenzen hinausgeht (vgl. Stufen, Vgl.S.326f.) – also gerade das, was Kant als transzendentale Scheinbarkeit eines Ding an sichs bezeichnet –, wäre schon ein Kandidat für so ein Kriterium. So würde paradoxerweise der transzendentale Schein selbst zu einem Beleg für die Realitätshaltigkeit des Wahrgenommenen.

Dennoch ist das Bewußtsein notwendig falsch! Was bedeutet das für die individuelle Urteilskraft? Meiner Erfahrung nach, sowohl aus persönlicher Erfahrung wie aus vielen Biographien (speziell aus der deutschen Vergangenheit) verhindert falsches Bewußtsein nicht notwendigerweise richtiges Handeln. Auch das falsche Bewußtsein läßt uns die Wahl, so oder anders zu handeln. Ein prominentes Beispiel ist für mich „Schindlers Liste“. Schindler war Nationalsozialist, wenn auch nicht überzeugter. Dennoch ist sein falsches Bewußtsein offensichtlich; denn auch ohne wirklich vom Nationalsozialismus überzeugt gewesen zu sein, billigte er ihn, um mit ihm Geschäfte zu machen. Schließlich aber zählt nicht das, was er dachte und woran er glaubte, sondern was er tat, nämlich Juden vor dem Tod zu retten. Das zeigt zumindestens, daß wir trotz falschen Bewußtseins richtig handeln können.

Aber ich würde sogar noch weiter gehen und sagen, daß wir sogar mit falschem Bewußtsein richtig handeln können. Das können wir dann, wenn wir uns uns selbst gegenüber kritisch verhalten, was man auch als ‚Gewissen‘ bezeichnet. In einer kritischen Selbstbeschränkung der eigenen Wahrhaftigkeit gegenüber, mit Plessner: im Bewußtsein der eigenen exzentrischen Positionalität, können wir uns unseres falschen Bewußtseins als Werkzeug bedienen, in aller ‚Naivität‘, die nun allerdings eine zweite Naivität darstellt, die sich über die erste Naivität des einfachen Dahinlebens und Dahinhandelns erhoben hat, eben exzentrisch positioniert ist. Naivität ist dann ein Werkzeug unseres Handelns, nicht mehr nur eine Voraussetzung – denn ohne Naivität kein Handeln bzw. kein Leben –, sondern ein bewußtes Werkzeug, das wir weitgehend unter Kontrolle haben, selbst dort, wo wir ihr die Zügel schießen lassen. Etwa so wie wenn wir träumen und gleichzeitig wissen, daß wir träumen, so daß wir die Traumgeschichte steuern können.

Denn eins ist evident: trotz falschen Bewußtseins verändern wir die Welt. Und die Frage ist nur, was das für die Welt und eine künftige Menschheit bedeutet.

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3 Kommentare:

  1. Zur kritischen Frage, ob nicht Simulation auf etwas Simuliertes verweist (was meine uneingeschränkte Zustimmung hat) fällt mir allerdings der Begriff des "Simulacrums" bei Baudrillard ein, der soviel bedeutet, wie "Kopie ohne Original". Vielleicht könnte man noch in diese Richtung weiter recherchieren?
    Dass das Bewusstsein nur Bewusstsein sein kann, weil es auf die Differenz von virtueller und wirklicher Wirklichkeit aufbaut, wird auch von Hirnforschern wie Gerhard Roth mehr oder minder zähneknirschend zugegeben, indem sie das wahrgenommene Gehirn vom realen Gehirn unterscheiden und somit auch eine Wirklichkeit "hinter" der simulierten potulieren müssen.
    Interessant ist auch folgende Darstellung, die davon ausgeht, dass wir bei aller Konstruktivität von Wirklichkeit durch unsere Wahrnehmung doch eine raumzeitliche Ausdehnung "da draußen" annehmen dürfen, weil hirnphysiologische Wahrnehmungsprozesse selbst durch raumzeitliche Prozesse entstehen: "Auch wenn sich z.B. unsere Raum- und Zeitvorstellung auf Verhältnisse der Wahrnehmungswelt beziehen, können wir nicht umhin, auch den Dingen der Wirklichkeit räumliche ausmessungen zuzuschreiben. Denn das gesamte Netzwerk der Nervenzellen, die von den Sinnesorganen zum Großhirn führen, und derjenigen, aus denen diese selbst besteht, muss etwas räumlich Ausgedehntes sein; und bei den elektrischen Erregungszuständen, die durch diese Nervenzellen übermittelt werden, handelt es sich um Vorgänge, die mit einer bestimmten Geschwindigkeit, also in der Zeit ablaufen." (Bruno Brülisauer, Was können wir wissen? Grundprobleme der Erkenntnistheorie, Kohlhammer, 2008, S. 240).

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  2. Was das Simulacrum betrifft, habe ich zwei Anmerkungen: erstens verhindert der Verlust der Differenz zwischen Original und Kopie nicht, daß ich in meinem Handeln weiterhin vor die Wahl gestellt bin. Nach wie vor wendet mir die ‚Realität‘, auch die virtuelle Realität, zwei Gesichter zu, ein angenehmes und ein unangenehmes. Oder um es buddhistisch auszudrücken: durch mein Handeln erwächst mir ein Karma. – Auch das Karma verweist wieder auf die Unvermeidbarkeit einer ‚Haltung‘; denn was ist Karma anderes als eine Haltung, die ich mir durch meine Entscheidungen zulege? Im übrigen deutet die verlorene Differenz zwischen Original und Kopie, wie ich finde, weniger auf einen grundsätzlichen Mangel an Originalen als vielmehr auf einen Mangel an Differenzierungsfähigkeit hin.

    Zweitens verschieben sich die Kriterien für das Reale. Hatte man bislang Realität als etwas besonders Intensives und geradezu Aufdringliches imaginiert, dem wir unsere Aufmerksamkeit zwangsläufig zuwenden müssen, ob wir wollen oder nicht – diese Realität war auch mit Erlebnisqualitäten wie ‚Unmittelbarkeit‘ und ‚Authentizität‘ verbunden –, so ist Baudrillards Simulacrum, wenn ich mich recht an meine ziemlich lang zurückliegende Lektüre erinnere, ‚realer‘ als die Realität. Plastiktomaten sind röter als richtige Tomaten, Aromastoffe riechen intensiver als natürliche Duftstoffe etc. Wenn wir also lieber in eine Plastiktomate beißen als in eine echte Tomate, dann wird das eigentliche Echtheitsmerkmal nicht mehr in der Intensivität der Erlebnisqualitäten liegen, sondern im Gegenteil in ihrer Unscheinbarkeit. ‚Echt‘ bzw. ‚wirklich‘ ist nicht mehr, was intensiv ist, sondern was sich unserer Aufmerksamkeit entzieht und das wir deshalb suchen müssen, um es zu finden. So bekommt die Realität also einen neuen Charakter: sie wird etwas Seltenes und Wertvolles. Aber – wiederum – haben das die östlichen Weisheitslehren nicht schon immer gewußt?

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  3. Die oben beschriebene Intensität wird von Baudrillard u.a. deshalb auch als "Hyperrealität" beschrieben. Das macht den Gedanken einer "seltenen" und "wertvollen" Wirklichkeit, aber auch deren Unerreichbarkeit auf direktem Wege (intentione recta) so interessant!

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