„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 13. Mai 2010

Neurophysiologie: Über Dummheiten (Intermezzo)

Metzinger führt zwei der seiner Ansicht nach „dümmsten Argumente“ zur Frage nach der „Freiheit des Willens“ auf: (1) „Ich weiß doch, dass ich frei bin, weil ich mich selbst als frei erlebe!“ (Vgl. „Ego-Tunnel“, S.191) Dieses Argument ist Metzinger zufolge deshalb dumm, weil was auf der „Ebene des bewussten Erlebens ... erscheint, ... kein Argument für irgendetwas“ ist. (Vgl. „Ego-Tunnel“, S.192) – (2) „Das zweite Argument lautet: ‚Aber das hätte schreckliche Folgen! Deshalb kann es nicht wahr sein.‘“ Dieses Argument ist deshalb falsch, weil Metzinger zufolge die „Wahrheit einer Behauptung“ nichts mit „psychologischen oder politischen Konsequenzen“ zu tun hat. (Vgl. ebenda)

Zunächst grundsätzlich: Metzinger führt Thesen als Argumente auf. Daß diese Thesen einen Begründungszusammenhang beinhalten, macht sie noch nicht zu Argumenten im eigentlichen Sinne. Ihre Begründungsbedürftigkeit fällt deutlich ins Auge. Daß dieser Begründungszusammenhang noch geliefert werden muß, macht diese Thesen nicht ‚dumm‘. Denn erst der detailgenaue Begründungszusammenhang, also das Argument im eigentlichen Sinne, kann als intelligent oder ‚dumm‘ gekennzeichnet werden. Daß ich etwas so oder so erlebe und daß ich dieses Erlebnis ernst zu nehmen gedenke (die erste von Metzinger als „dümmstes Argument“ gekennzeichnete These), bildet deshalb zunächst einmal nur die Ausgangslage für eine Argumentation, – nicht mehr und nicht weniger.

Auch die zweite von Metzinger als „dümmstes Argument“ gekennzeichnete These beinhaltet zunächst mal nur, daß jemand behauptet, daß er keine ‚Wahrheit‘ akzeptieren kann, die für ihn inakzeptable humanitäre Konsequenzen hat. Auch das bedarf einer nachfolgenden, in sich stimmigen Argumentation. Erst wenn diese Argumentation an Stimmigkeit zu wünschen übrig läßt, darf Metzinger sie als irrelevant bzw. als ‚dumm‘ bezeichnen. Stattdessen stellt er dieser von ihm im vorhinein diskreditierten These eine eigene, bislang genauso wenig begründete These entgegen: daß nämlich Wahrheit nichts mit Psychologie oder Politik zu tun habe. Das läßt sich durchaus begründen. Aber Metzinger begründet sie nicht. Was soll man also davon halten?

Nicht minder schwerwiegend ist, daß Metzinger genau das, was er jenen „dümmsten Argumenten“ vorhält, selber tut. Im Endeffekt erteilt er also anderen Denkverbote, an die er sich selber nicht hält. Zum ersten ‚Argument‘: Metzinger argumentiert ständig mit bewußten und unbewußten Erlebnissen, in denen ihm etwas erscheint; so z.B. bei den von ihm selbst erlebten außerkörperlichen Erfahrungen (vgl. „Ego-Tunnel“, S.113-169) und in dem Kapitel über Traumerfahrungen (vgl. „Ego-Tunnel“, S.216-231). In seiner Diskussion über künftige Robotergenerationen, die mit einem eigenen ‚transparenten‘ (‚transparent‘ meint: für das Subjekt ‚unsichtbar‘) Weltmodell ausgestattet sind, ergreift Metzinger aus der Perspektive dieser Roboter heraus – stellvertretend für sie – Partei für ihr Leiden, das ihnen ihre Konstrukteure zugefügt haben (vgl. „Ego-Tunnel“, S.274f.); ein Leiden an der Würdelosigkeit nämlich, nur Artefakte zu sein, ohne eigenes Geburtsrecht: „... dass sie nur Bürger zweiter Klasse sind, vollständig entfremdete postbiotische Selbste, die als austauschbare experimentelle Werkzeuge benutzt werden.“ (Vgl. „Ego-Tunnel“, S.275) – Gleich mehrfach verhält sich Metzinger hier nach seinen eigenen Maßgaben äußerst ‚dumm‘: erstens benutzt er das, was diesen künftigen Robotergenerationen auf der „Ebene des bewussten Erlebens ... erscheint“, als Argument (nach seinen eigenen Worten: dümmer geht’s nicht!), und er zieht daraus auch noch politische Konsequenzen: das Leiden „liefert auch ein grundsätzliches Argument gegen die Erzeugung von künstlichem Bewusstsein als ein Ziel der akademischen Forschung." (Vgl. „Ego-Tunnel", S.275) Wenn aber psychologische und politische Konsequenzen nicht wahrheitsfähig sind: wie will Metzinger das begründen? Die „Solidarität" „alle(r) empfindungsfähigen Wesen" (ebenda), die Metzinger hier in Anspruch nehmen möchte, hat er selbst zuvor schon jeder argumentativen Legitimität beraubt.

Nicht zuletzt besteht übrigens gerade Metzingers Methodik, die er selbst als „Phänomenologie“ beschreibt, darin, mit dem zu argumentieren, was und wie uns etwas erscheint: „‚Phänomenal‘ wird hier und nachfolgend im philosophischen Sinne verwendet und bezieht sich auf alles, was wir allein auf der Ebene des bewussten Erlebens erfahren, eben auf die Art und Weise, wie uns die Welt subjektiv erscheint.“ (Vgl. „Ego-Tunnel“, S.18) Wo er sich also gegen das „dümmste Argument“ wendet, wendet sich Metzinger gegen sich selbst. Ist also Metzinger selbst ‚dumm‘? (‚Dummheit kennzeichnet ja durchaus gerade jene, die andere gerne als ‚dumm‘ diskreditieren!)

Als zusätzlich pikant erscheint mir Metzingers Verweis auf den philosophischen Sinn des Wortes ‚phänomenal‘, ist doch Metzinger selbst Philosophieprofessor. Hier hätte ich doch gerne etwas mehr über den philosophischen Hintergrund seiner ‚Phänomenologie‘ erfahren. Aber Metzinger diskutiert seine Thesen im „Ego-Tunnel“ grundsätzlich nie im Vergleich mit anderen, ihm widersprechenden Positionen. Also auch an dieser Stelle nicht.

Metzinger hat nämlich in seinem Buch eine Entscheidung getroffen, die jeder mir bekannten philosophischen Phänomenologie widerspricht: nämlich das bewußte Erleben als bloße Simulation zu kennzeichnen und jeden direkten Körperbezug unseres Selbstbewußtseins zu bestreiten. Er geht also bei der Wahrnehmung davon aus, daß sie eine bloße Konstruktion (Simulation) uns unbewußter Gehirnfunktionen darstellt. Das ist eine ernstzunehmende, durchaus diskutierbare Entscheidung. Aber als solche muß sie dann auch gekennzeichnet sein. Seltsamerweise versteht Metzinger seine Ausgangshypothese als Tatsachenbeschreibung, ohne auf all die logischen Probleme, die diese Position beinhaltet, einzugehen, geschweige denn, sie auch nur zur Kenntnis zu nehmen.

Phänomenologen gehen aber normalerweise von der gegenteiligen Hypothese aus. Sie gehen von der Wahrnehmung als Wirklichkeit aus, und begründen mit der Wahrnehmung die „Gewißheit der eigenen Erfahrung“. (Vgl.z.B. Lambert Wiesing, Das Mich der Wahrnehmung. Eine Autopsie, Frankfurt a.M. 2009, S.9) Auch dies ist eine Entscheidung, die durchaus gut begründet ist. Eine ziemlich gute Begründung besteht z.B. darin, daß diese Gewißheit eine gute Grundlage für die Eigenständigkeit der individuellen Urteilskraft bildet. Mir gefällt diese Grundlage besser als die von Metzinger bevorzugte große-Gruppen-Kommunikation. (Vgl. „Ego-Tunnel“, S.25) Es gibt nämlich grundsätzlich nur zwei Quellen für unsere Gewißheiten. Als ‚Gewißheiten‘ bezeichne ich z.B. nicht unsere inneren Konstrukte wie z.B. Phantasien, Meinungen und Vorurteile. Gewißheiten haben die Eigenschaft, uns mit einer unserer Subjektivität fremden, objektiven Macht in Anspruch zu nehmen. Die beiden dafür in Frage kommenden Quellen sind Gruppendynamiken und Sinneswahrnehmungen. Gruppendynamiken (große-Gruppen-Kommunikation) gegenüber bin ich aus Erfahrung skeptisch. Um es mit einem meiner Lieblingsschriftsteller, mit Terry Pratchett zu sagen: Die Intelligenz einer Gruppe ist gleich der Intelligenz des Dümmsten in der Gruppe, geteilt durch die Anzahl der Gruppenmitglieder. (Dies ist jetzt natürlich keine ausführliche, sondern bestenfalls eine abgekürzte Argumentation.)

Es bleiben also nur die Sinneswahrnehmungen. Hier hat schon Rousseau gewußt, daß wir in bezug auf unsere Sinneswahrnehmungen gezwungen sind, unseren eigenen Verstand zu gebrauchen. Unser Verstand bildet und übt sich in der ständigen Beobachtung von Naturprozessen, weil er nur hier auf sich allein angewiesen ist. Die Natur ‚kommuniziert‘ nicht mit uns. Sie ist ‚stumm‘, wie Rousseau sagt. Deshalb bleibt uns nichts anderes übrig, als die Fragen, die wir an sie stellen, uns selbst zu beantworten. In Gruppen werden wir dagegen ständig mit Antworten konfrontiert, bevor wir überhaupt die Gelegenheit haben, Fragen zu stellen, geschweige denn sie selbst zu beantworten. Nach Rousseau macht uns das ‚dumm‘, weil wir uns daran gewöhnen, nicht selber zu denken.

Metzinger bewegt sich auf genau dieser Schiene des Dummhaltens. Er klärt uns nicht auf, sondern er sorgt dafür, daß seine Leser dumm bleiben, indem er sie genau jener Grundlage beraubt, die sie klug machen könnte: des bewußten Erlebens bzw. der individuellen Wahrnehmung.

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6 Kommentare:

  1. Lesen Sie "Being No One", wenn sie Herrn Metzingers Gedanken in aller Ausführlichkeit nachvollziehen wollen... Der einzige Vorwurf dem sich Herr Metzinger möglicherweise schuldig gemacht hat mit "Ego-Tunnel" war der zu versuchen wirklich schwierige Probleme der theoretischen Philosophie breitenwirksam formulieren zu wollen. Gerade die begrüßenswert kritischen Menschen wie Sie werden von soetwas abgeschreckt und stehen deswegen den Gedanken ablehnend gegenüber, ohne die Mühsal einer tatsächlichen Überprüfung auf sich zu nehmen. Mir wäre es vermuthlich genauso ergangen, wenn ich Ihre Reihenfolge der Lektüre eingeschlagen hätte... Glaube Sie mir, es lohnt sich ihm eine Chance zu geben.
    MfG
    E. Hannesen

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  2. Herzlichen Dank für den Hinweis. Leider ist mein Englisch nicht so gut, so daß ich fürchte, weniger breitenwirksamen, anspruchsvolleren Gedankengängen in dieser Sprache nicht folgen zu können. In einer durchaus positiven Rezension im DLF hörte ich einmal, daß Metzinger vor kritischeren Lesern in die englische Sprache ausgewichen sei, weil er dort auf eine wohlwollendere Rezeption hofft. Dabei schwang unterschwellig mit, daß die deutsche Philosophie innovationsfeindlich sei, weil sie so originellen Denkern wie Metzinger keine Chance gebe. Unter dem Totschlagargument der Innovationsfeindlichkeit ist man dann gezwungen, jeden Unsinn durchgehen zu lassen. Dennoch werde ich Ihren Hinweis im Kopf behalten, und vielleicht kann ich mich ja dann doch mal dazu durchringen, auch „Being No One“ zu lesen.

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  3. Es gibt eine kurze Schrift von Kant: "Der Streit der Fakultäten. Zweiter Abschnitt. Der Streit der philosophischen mit der juridischen. Erneuerte Frage: Ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei." Es ist ein Alterswerk von Kant, so könnte man vielleicht sagen. Der 5. Abschnitt ist überschrieben mit: "An irgendeine Erfahrung muß doch dich wahrsagende Geschichte des Menschengeschlechts angeknüpft werden können." Hier kommt Kant auf der Suche nach einem Beweis für seine Hypotese, dass die Menschheit im Fortschritt zum Besseren begriffen sei, zu einem entscheidenen Punkt: Weil er die Ursache selbst nicht finden kann, beginnt er nach einer Wirkung zu suchen, die es ihm erlaubt "auf das Dasein einer solchen Ursache" zu schließen. Ich zitiere: "Also muß eine Begebenheit nachgesucht werden, welche auf das Dasein einer solchen Ursache und auch auf den Akt ihrer Kausalität im Menschengeschlechte unbestimmt in Ansehung der Zeit hinweise, und die auf das Fortschreiten zum Besseren als unausbleibliche Folge schließen ließe, welcher Schluss dann auch auf die Geschichte der vergangenen Zeit ausgedehnt werden könnte, doch so, daß jene Begebenheit nicht selbst als Ursache des letzteren, sondern nur als hindeutend, als Geschichtszeichen, angesehen werden müsse und so die Tendenz des menschlichen Geschlechts im Ganzen, (...)beweisen könnte."
    Letztlich beschreibt dieses Vorgehen Kants genau das was auch Herr Metzinger unternimmt: Weil er die Ursache für das Selbst und das Bewusstsein nirgendwo finden kann, macht er sich auf die Suche nach Erfahrungen und Wirkungen, die auf Eigenschaften einer möglichen Ursache hinweisen - quasi Geschichteszeichen sind - im kantschen Sinne. Das ist für die Philosophie eine ungewöhnliche Vorgehensweise. Für alle anderen Wissenschaften ihr tägliches Brot. Ein Arzt hat einen Patienten und weiß nciht wie er ihn heilen soll, also beginnt er die nächstliegendste Therapie und hofft ihm so zu helfen. Hilft es nicht, versucht er die nächste usw. Und wenn er ein wirksame gefunden hat, kennt er auch die Ursache für die Krankheit. Tatsächlich steht die angelsächsiche zeitgenössische Philosophie dieser methodischen Offenheit und Interdisziplinarität nicht so ablehnend gegenüber wie vor allen Dingen die deutsche Philosophie. In beiden Fällen ist die Haltung alleine kein Zeichen von Qualität...

    Mit freundlichen Grüßen
    E. Hannesen

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  4. Danke für den Stoff zum Nachdenken. Mich verwirrt nur, daß Metzingers "Be No One" so anders sein soll, als sein Ego-Tunnel, denn ich sehe nicht ein, warum für die 'breite Masse' anders gewschrieben werden soll als für den denkenden Menschen. Darin erkenne ich keine Wertschätzung des Lesers. Dennoch muß ich aufgrund Ihrer Einwände mein bisheriges Urteil wieder offen dafür halten, daß es da noch anderes zu entdecken gibt.

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  5. Eine empirische Theorie gewinnt ihre Plausibilität durch eine möglichst große Anzahl an empirischen Untersuchungen, die ihre Vermutung bestätigen. Häufig ist die Vermutung selbst in wenigen Worten geäußert, aber zu ihrer Verifikation bzw. Falsifikation sind Unmengen von Untersuchungen nötig. Die Selbstmodell-Theory der Subjektivität hat Herr Metzinger auf 25 Seiten zusammengefasst, aber die Untersuchungen die deren Annahmen bestätigen finden nicht mal auf den 750 Seiten von "Being no One" Platz... Ein weniger kritischer Leser ist möglicherweise nicht geneigt dazu sich mit all den Hintergrundinformationen herumzuschlagen, die eine Theorie belegen. Wir leben in einem Zeitalter dessen Informationsflut es nötig macht sich zu vernetzen und sich zu spezialisieren. Wenn ich mich mit Philosophie des Geistes beschäfftigen möchte kann ich nicht mal eben Neurologie, Psychologie und all die unter dem Namen Kognitionswissenschaften zusammengefassten Fakultäten studieren. Ich muss deren Untersuchungsergebnissen vertrauen, auch auf die Gefahr hin, das ein Paradigmenwechsel in einer theoretisch weit entfernten Fakultät möglicherweise meine eigenen Untersuchungen hinfällig werden lässt. (Die Zusammenfassung der SMT finden Sie übrigens hier: http://www.ifzn.uni-mainz.de/Metzinger.pdf)
    Ihren Umgang mit meiner Kritik finde ich im übrigen vorbildlich. Ich wünschte ich könnte das von mir auch immer behaupten... ;-)

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  6. Danke für die Blumen, – aber Sie haben mich tatsächlich in meiner Polemik an einer Stelle getroffen, wo ich unsicher bin, was ich wie sagen darf. Allerdings bin ich auch deshalb unter die Blogger gegangen, weil ich mich hier als Rezensent freier und ungebundener äußern kann als in den Fachzeitschriften. Dem was Sie zur Empirie sagen, stimme ich uneingeschränkt zu. Dennoch bedarf es auch für die Unmengen empirischer Daten – und gerade auch deshalb – einer diese Daten tragenden schlüssigen Argumentation. Ohne diese Argumentation sind alle diese Daten nichts wert. Und gerade diese Argumentation muß dem breiten Publikum wissenschaftlicher Laien gegenüber genauso schlüssig und widerspruchsfrei sein wie gegenüber den Expertenkollegen. Der Stil mag sich zwar unterscheiden, aber nicht die Sache! Und an dieser Stelle halte ich meine Kritik an Herrn Metzinger aufrecht. Danke auch für den Tipp!

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